Heute mal wieder ein Gruß aus dem Bucharchiv. Gelesen habe ich Cheryl Strayed „Wild“ auf der großen Südost-Asien-Tour im Januar letzten Jahres. Hatte das Buch auf dem Radar durch die positive Besprechung in der NY Times und war sehr überrascht, es in einem kleinen Second-Hand-Buchladen in Kambodscha zu finden. Genau wie Cheryl mit einem Rucksack unterwegs, der viel zu voll war und mit viel zu vielen unnützen Dingen (wie Büchern) bepackt, war es natürlich vollkommen unsinnig, so einen dicken Trümmer einzupacken – aber hey, irgendwie hab ich ihn in den Rucksack bekommen und das Buch hat mich wunderbar auf unseren Wanderungen begleitet und auch wenn ich anfangs dachte, ich würde es zurücklassen, wenn ich es ausgelesen habe, war nix zu machen, es hat mich so bewegt, ich habe es noch die ganze weitere Reise mitgeschlörrt und jetzt steht es hier zu Hause und beim Durchblättern rieselt noch immer Sand heraus.
Schade – ein „Unterwegs“-Foto hab ich nicht finden können, daher musste ich heute nochmal nachstellen. Sonst hätten wir hier eher Palmen, einen Street-Food-Stand, einen Bootstrip auf dem Mekong oder irgendeine andere Szene gesehen, in der ich das Buch gelesen habe.
„Wild“ ist die Geschichte einer jungen Frau, die mit Mitte 20 so ziemlich am Tiefpunkt ihres Lebens angekommen zu sein scheint. Sie ist allein, der Tod der Mutter die mit Mitte Vierzig an Krebs gestorben ist, noch lange nicht verarbeitet, vor den Scherben einer zerbrochenen Ehe stehend, verschuldet und ohne Perspektive rutscht sie auch noch in eine unglückliche Affäre mit der großen Trösterin Miss Heroin, als sie beschließt, einen Rucksack zu packen, nach Kalifornien zu fliegen und eine sehr sehr lange Wanderung zu machen, um sich wiederzufinden.
„Hiking the PCT, …was my way back to the person I used to be.“
Sie ist eine vollkommen unerfahrene Hikerin, packt viel zu viel und vollkommen falsche Sachen ein, ist nicht vorbereitet und läuft einfach los. Es hat mir eine diebische Freude bereitet, mir die vielen pragmatischen, stets übervorbereiteten Leute mit Schaum vorm Mund vorzustellen, wie sie vor lauter Empörung über die Naivität der Progagonistin den Kopf schütteln und sich fragen, ob sie überhaupt weiterlesen sollen 😉
Ich mag das ja, das happy-go-lucky und habe auch meist die Erfahrung gemacht, am Ende wird alles gut und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es halt noch nicht zu Ende.
Cheryl macht diesen Trip, die ganzen 1100km des Pacific Crest Trails. Sie wandert bei 40 Grad im Schatten auf dem Modoc Plateau erlebt Rekord-Schneefälle in den High Sierras, trifft auf Bären, Klapperschlangen, Skorpione, vertrocknete Wasserstellen. Sie verliert unzählige Fußnägel, kann sich manchmal Ewigkeiten lang nicht waschen, ist oft hungrig und irgendwann verliert sie sogar ihre Wanderschuhe. Und selbst da gibt sie nicht auf. Diese vollkommen unvorbereitete nicht übermässig starke blonde, junge Frau kicks ass. Sie beisst sich durch. Sie bastelt sich Ersatzschuhe aus Klebeband und wandert darin weiter, bis ihre neuen Wanderschuhe irgendwo in der nächsten Kurierbox im Nirgendwo auftauchen. Zusammen mit dem nächsten Geld, ein paar Vorräten und dem nächsten Satz Bücher.
Ich habe Cheryl unglaublich für ihren Mut bewundert. Ich hätte ihn wohl nicht. Eine so lange Wanderung ganz alleine, ohne wirkliche Navigationskenntnisse, in Gegenden wo mir jederzeit Bär, Skorpion, Schlangen oder andere gefährliche Viecher begegnen können. Wow. Ich halte mich schon nicht für ein Weichei, aber ich glaube ich wäre beim ersten Skorpion im Zelt umgehend umgedreht.
“I knew that if I allowed fear to overtake me, my journey was doomed. Fear, to a great extent, is born of a story we tell ourselves, and so I chose to tell myself a different story from the one women are told. I decided I was safe. I was strong. I was brave. Nothing could vanquish me.
Beim Lesen ist man komplett bei ihr, man leidet mit ihr, man freut sich ähnlich ekstatisch über die Dusche und selbst einen Schokoriegel essen beim Lesen fand ich schwierig, weil ich mich schuldig fühlte, wenn sie dabei so hungrig war 😉
Es gibt keine ellenlangen Naturbeschreibungen, es ist viel mehr eine Reise durch ihre innere Landschaft und das machte das Buch so überaus lesenwert für mich. Die Verwandlung die sie durchlebt, die Stärke die sie gewinnt, aber auch die vielen Momente der Schwäche und Einsamkeit.
Cherly Strayed ist meistens alleine gewandert, hat ab und an ein paar Tage lang die Gesellschaft von Mitwanderern genossen, mit ihnen gegessen, das Essen und die Erfahrungen geteilt und am Lagerfeuer wurden die wichtigsten Trail-Neuigkeiten ausgetauscht.
“The thing about hiking the Pacific Crest Trail, the thing that was so profound to me that summer—and yet also, like most things, so very simple—was how few choices I had and how often I had to do the thing I least wanted to do. How there was no escape or denial. No numbing it down with a martini or covering it up with a roll in the hay. As I clung to the chaparral that day, attempting to patch up my bleeding finger, terrified by every sound that the bull was coming back, I considered my options. There were only two and they were essentially the same. I could go back in the direction I had come from, or I could go forward in the direction I intended to go.”
Besonders gefallen haben mir die Passagen in denen sie über ihre Beziehung zu Büchern und dem Geschriebenen schreibt, wie es ist, wenn man so alleine wandert und abends beim Lagerfeuer mit der Stirnlampe am Kopf dasitzt und ein paar Seiten liest, während man sein Essen auf den Knien balanciert. Die Wanderung macht sie stärker und die Bücher helfen ihr dabei. Sie liest sich selbst raus aus ihrem Loch, ihrer Schwäche, ihrer Depression. Die Bücher helfen ihr auf dem Weg zu bleiben, nicht mehr davon abzukommen, to become Cheryl „Un-Strayed“.
“What if I forgave myself? I thought. What if I forgave myself even though I’d done something I shouldn’t have? What if I was a liar and a cheat and there was no excuse for what I’d done other than because it was what I wanted and needed to do? What if I was sorry, but if I could go back in time I wouldn’t do anything differently than I had done? What if I’d actually wanted to fuck every one of those men? What if heroin taught me something? What if yes was the right answer instead of no? What if what made me do all those things everyone thought I shouldn’t have done was what also had got me here? What if I was never redeemed? What if I already was?”
Dieses Buch ist mit Vorsicht zu geniessen – es macht „itchy feet“, erzeugt Fernweh. Man will sofort seine Wanderschuhe schnüren und loslaufen. Ich werde es garantiert mitnehmen, wenn ich noch einmal den West Highland Way laufe. Viel weniger gefährlich und viel kürzer, aber auch eine wunderbare Gelegenheit viel Zeit mit sich, seinem Kopf und seinen Füßen zu verbringen.
Ich bin gespannt auf die Verfilmung, auch wenn ich eher Taylor Schilling in der Hauptrolle sehe, Reese Witherspoon ist schon ok.
Hier eine Liste der Bücher die den PCT nicht überlebt haben – nach Verzehr verbrannt 😉
The Pacific Crest Trail, Vol. 1 California – Jeffrey P. Schaffer
Staying Found – June Fleming
The Dream of a Common Language – Adrienne Rich*
As I Lay Dying – William Faulkner
**The Complete Stories – Flannery O’Connor
The Novel – James Michener
A Summer Bird-Cage – Margaret Drabble
Lolita – Vladimir Nabokov
Dubliners – James Joyce
Waiting for the Barbarians – J. M. Coetzee
The Pacific Crest, Vol 2 Oregon and Washington – Jeffrey P. Schaffer
The Best American Essays 1991 – Robert Atwan, Joyce Carol Oates (Editors)
The Ten Thousand Things – Maria Dermout
*nicht verbrannt unterwegs – die ganze Strecke getragen
** nicht verbrannt, sondern eingetauscht gegen „The Novel“
Wow, sowohl deine Beschreibung als auch der Trailer haben mir richtig Lust auf das Buch und auch den Film gemacht. Ich finde es immer wieder faszinierend, wie Leute aus ihrem Alltag, der ihnen zur Last geworden ist, aufbrechen in ein Abenteuer, dass sie an ihre Grenzen bringt – sei es nun eine Maike Winnemuth, eine Elizabeth Gilbert oder nun eine Cheryl Strayed. Vielen Dank für den Tipp, das Buch wird bestimmt von mir gelesen!!
Das freut mich – es lohnt sich wirklich 🙂
Ich schließe mich an: ich könnte JETZT SOFORT in den Film gehen. Naja, vielleicht reicht ja morgen auch noch :-). Vielen Dank für die viele Vorfreude!
Viele Grüße, Claudia
Freut mich, wenn ich Lust verbreitet habe 🙂 Ich hab auch schon geschaut, ob er heute abend im Kino läuft, bin aber auch vernünftig (und faul) und warte noch ein paar Tage …
Huhu,
hab deinen Blog heute entdeckt! Wir haben viel gemeinsam betreffend Bücher ^^ Mir hat das Buch auch sehr gefallen und auch ich bin schon den West Highland Way gewandert, witzig 🙂
Lass dir ganz liebe Stöbergrüße da !!
But if I could go back in time I wouldn’t do anything differently than I had done! Dieses Gefühl finde ich sehr wichtig. Ich wünsche dir weiterhin viele interessante Reisen mit Rucksack und Büchern.:)