Eine Autorin sehr zu mögen, die nur etwa alle 10 Jahre ein Buch veröffentlicht, kann eine ziemlich anstrengende Sache sein. Mit ihrem Debut hatte mich Donna Tartt Mitte der 90er Jahre vollkommen umgehauen. An einem eisigen Dezembertag mit fiebriger Erkältung im Bett liegend, habe ich „The secret history“ angefangen und konnte im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr aufhören. Ich habe non-stop gelesen bis morgens um 4.30 Uhr, bis ich es endlich durch hatte. Und da lag ich dann schlaflos und durfte nahezu 10 Jahre warten, bis Madame Tartt endlich fertig war mit „The Little Friend“ – und der hat mich dann massloss enttäuscht. Wir kamen nicht zurecht miteinander, der kleine Freund und ich.
Entsprechend ungeduldig und nervös war ich daher, als nach den erwarteten 10 Jahren mit dem „Goldfinch“ endlich wieder Tartt-Time war. Wie wird das dieses Mal werden? Lesefieber und endlose Begeisterung wie beim ersten Mal oder wird das wieder schief laufen und ggf. mein letzter Tartt sein, den ich lese? Mein Bookclub hat mir die Entscheidung, ob ich mich dran traue oder nicht, auf jeden Fall abgenommen, denn der Distelfink war unsere Januar-Lektüre. Und es gab eine Menge zu diskutieren.
*Trommelwirbel* – „The Goldfinch“ ist großartig! Auch wenn er mich nicht ganz in das gleiche hypnotische suchtartige Bingereading gestürzt hat wie beim ersten Mal, sind wir doch mehr als Freunde geworden. Schon der Anfang ist ein sehr gelungener Einstieg. Der Erzähler, Theo Decker, sitzt in einem Amsterdamer Hotel und sucht in den holländischen Zeitungen, die er nicht wirklich lesen kann, nach seinem Namen im Zusammenhang mit einem Verbrechen. Erklärt wird das erst einmal nicht, sondern wir gehen 14 Jahre zurück in der Geschichte, zu dem Tag an dem Theo seine Mutter verliert, bei einem nicht näher erläuterten Terroranschlag in einem Museum. Die beiden befinden sich in unterschiedlichen Räumen, als die Explosion passiert, Theo überlebt, lässt sich von einem Fremden, den er kurz zuvor mit seiner Enkelin im Museum gesehen hatte, dazu verleiten, eines der Gemälde von der Wand und mitzunehmen, bevor er unerkannt nach Hause eilt, sicher, dort seine Mutter zu treffen.
Nach all der Action der Eröffnung nimmt der Roman jetzt eine andere Geschwindigkeit auf. Es ist ziemlich herzzerreissend Theo’s Einsamkeit zu erleben, seine Angst, wie er so plötzlich aus seinem Leben gekegelt wird, den Boden unter den Füßen verliert und dieser Boden bleibt ab da immer ein schwankender. Seine Mutter ist tot, sein Vater bleibt verschwunden, er landet bei der Familie eines befreundeten Schulkameraden und als er sich gerade so ein wenig eingelebt hat, taucht der Vater auf und wieder wird er entwurzelt.
Der Roman ist lang und es gibt auch keine wirklichen Abkürzungen. Von New York’s vornehmer Upper West Side aus geht es in die Wüste von Las Vegas, zurück in die Lower East Side und nach Amsterdam. Wir lernen unglaublich viel über Holz und Möbelrestauration durch Hobie, machen Abstecher in die Philospophie, Kunstgeschichte, Proust, Dostojewski, schließen einen russische Drogenhändler und einen kleinen Hund ins Herz und leiden mit Theo.
Es gibt so viele Momente, die man einfach nicht vergessen kann in dem Buch. Die Momente, wo ein kleiner Hund nach 10 Jahren noch jemanden wiedererkennt, wie sich zwei einsame verletzte Teenager pausenlos mit Alkohol und Drogen wegschiessen, wie fest die Verbindung zwischen Menschen sein kann, auch wenn sie sich über Jahre nicht sehen und auch wie ein Bild ein Leben verändern kann. Wie die Schönheit eines Bildes helfen kann, Wunden zu heilen. Das Bild, der letzte Gegenstand, den Theo mit seiner Mutter verbindet und das er einfach nicht aufgeben kann.
Der Roman beschreibt einzigartig wie es ist, sich in die falsche Person verliebt zu haben, die mit der es einfach nicht funktionieren kann und wie perfekt sich diese Liebe trotzdem anfühlen kann und wie sehr es weh tut das zu erkennen.
„The Goldfinch“ ist oft mit Dickens „Great Expectations“ verglichen worden und der Vergleich passt auch wirklich. Die Story im Einzelnen nacherzählen zu wollen, würde den Rahmen sprengen hier und ich mag es auch nicht, wenn Rezensionen so viel über ein Buch verraten, dass man manchmal den Eindruck hat, man müsse es gar nicht mehr selber lesen.
„Only here’s what I really, really want someone to explain to me. What if one happens to be possessed of a heart that can’t be trusted–? What if the heart, for its own unfathomable reasons, leads one willfully and in a cloud of unspeakable radiance away from health, domesticity, civic responsibility and strong social connections and all the blandly-held common virtues and instead straight toward a beautiful flare of ruin, self-immolation, disaster?…If your deepest self is singing and coaxing you straight toward the bonfire, is it better to turn away? Stop your ears with wax? Ignore all the perverse glory your heart is screaming at you? Set yourself on the course that will lead you dutifully towards the norm, reasonable hours and regular medical check-ups, stable relationships and steady career advancement the New York Times and brunch on Sunday, all with the promise of being somehow a better person? Or…is it better to throw yourself head first and laughing into the holy rage calling your name?”
Mit diesem Buch begibt man sich auf eine Reise und fast beneide ich die Leute ein wenig, die sie noch vor sich haben. Ich habe überlegt, „The secret history“ noch einmal zu lesen, einfach weil ich mir sicher bin, dass ich jetzt wieder 10 Jahre warten muss auf den nächsten Donna Tartt Roman. Habe aber beschlossen, es nicht zu tun. Die Erinnerung ist zu kostbar, die mag ich mir nicht ruinieren, falls es mir nach so vielen Jahren vielleicht doch nicht mehr so gut gefällt.
In der Zwischenzeit ist da ja noch Dickens und Dostojewski und Boris hat mich an Raymond Chandler erinnert und wenn ich all deren Werke durch habe, ist Frau Tartt ja vielleicht auch wieder soweit.
Donna Tartt ist eine sehr zurückgezogen lebende Autorin, die selten Interviews gibt und die immer wahnsinnig streng und kontrolliert auf Bildern aussieht (aber auch ziemlich gut), daher hatten wir uns im Bookclub gefragt, woher sie wohl die detaillierten Beschreibungen der Alkohol- und Drogenexzesse genommen hat. Aber vielleicht ist sie ja auch gar nicht so streng und kontrolliert wie sie ausschaut, denn mit etwas MEHR Disziplin, müsste es doch wohl zu schaffen sein, auch mal ein Buch in 5 Jahren oder so fertigzustellen.
The new Queen of the Bob: author Donna Tartt. Photograph: Beowulf Sheehan
Schön, du machst mir schon wieder Lust auf ein Buch, zum Glück steht es wenigstens schon mal im Regal 🙂
Oh das freut mich sehr 🙂
Sehr schöne Besprechung. Ich habe das Buch im Frühjahr gelesen und auch sehr genossen. Der Hund, das Attentat, das Wegschießen und die unerfüllte und trotzdem perfekte Liebe sind die Dinge, die auch mich am Distelfink am meisten beindruckt haben. Ein wunderbarer Roman, ein tolles Leseabenteuer.
Das hört sich wirklich interessant an! Auch wenn ich von der „Geheimen Geschichte“ nicht restlos begeistert war, so war ich doch von ihrem Schreibstil sehr angetan. Das Buch landet also auf der engeren „bald-zu-lesen“-Liste. Vielen Dank für eine tolle Besprechung!
Danke! Freue mich Dein Interesse geweckt zu haben 🙂
Pingback: 2015 – The Year in Books | Binge Reading & More
„Mit ein bisschen Disziplin müsste es in fünf Jahren möglich sein“ – musste grinsen! Ich hab in einem Interview gelesen, dass es ihr einfach keinen Spass macht, schnell zu schreiben. Sie geniesst es dann nicht. Ich fürchte, damit müssen wir leben. Und wenn das Ergebnis dann diese berückend schöne und gehaltvolle Prosa ist, die man immer und immer wieder selber langsam geniessen kann, kann man doch damit leben, oder? Hab ich wieder bemerkt an Deinem langen Zitat, das mich voll überfallen hat.
Du merkst, hier meldet sich ein grosser Tartt-Fan… „The Goldfinch“ hat mich in mehrfacher Hinsicht umgehauen. Was in Deiner Rezension zu kurz kommt, wenn ich das sagen darf: Boris!!! Das ist doch die beste Figur überhaupt! Will einen Boris-Roman! Will einen Freund wie Boris, für buchstäblich alle Lebenslagen! Und überhaupt, Theo und Boris – was für ein Paar. Auch wenn sie es nicht ganz kapieren. Und dann die Rolle, die Schönheit spielt, die Schönheit von Kunstwerken, and the privilege to love what Death doesn’t touch – das berührt mich enorm.
Und auch, wie dieses Thema – Schönheit – in der Secret History schon sozusagen vorbereitet wurde. Das fand ich übrigens auch suchterzeugend. Und keine Angst: es hält einer Wieder-Lektüre stand. Zwischendurch denke ich: diese schrecklichen unreifen arroganten Kinder, können die nicht mal vernünftig werden. Und wenn ich noch mal kurz was nachlesen will, hat es mich sofort wieder in seinem Bann. Ist Eskapismus pur für mich. Und, wie ich finde, die perfekte Winterlektüre.
Freue mich sehr, Dich gefunden zu haben (über Peggy von Neuland), und freue mich auf die vielen interessanten Lesestunden, die hier auf mich warten.
Stimmt, dem Boris hätte ich mehr Raum geben können in meiner Rezension. Das Buch fasziniert mich noch immer und denke sehr häufig dran. Definitiv eines das noch mal gelesen werden muß. Freue mich sehr, dass Du hergefunden hast – herzlich willkommen 🙂
Pingback: New York by the Book – Part II | Binge Reading & More