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Der griechische Philosoph Epikur (341 – 270 BCE) gründete eine philosophische Schule, die hunderte von Jahren in der hellenistischen und römischen Welt gedeihte und viele Anhänger hatte. Von Epikur sind uns leider nur ganz wenige Fragmente seiner Schriften erhalten geblieben. Das wohl am besten erhaltene Schriftstück ist das vom römischen Dichter Lukrez verfasste Gedicht „Über die Natur der Dinge“. „The Swerve“ ist Stephen Greenblatts Interpretation, wie das Gedicht von einem humanistischen Beamten namens Poggio Bracciolini aus dem Vatikan im 15. Jahrhundert wieder entdeckt und gerettet wurde und welchen Einfluss dieses Ereignis auf den Verlauf der Geschichte nehmen sollte.
Bracciolini war ein Bücher- bzw Manuskriptjäger. Er und auch andere Humanisten seiner Generation suchten in ganz Europa in Klösterbibliotheken nach antiken Manuskripten und versuchten, diese vor dem Vergessen zu bewahren. Poggio entdeckte Lukrez‘ Gedicht vermutlich in einem deutschen Kloster im Jahr 1417. Poggio ist ein ungewöhnlicher Charakter seiner Zeit: er ist neugierig, in einer Zeit in der das absolut nicht als Tugend gesehen wurde und er ist fasziniert von den Ideen und Schriften der heidnischen Antike, ein nicht ungefährliches Hobby für ihn, das ihn oft gefährlich nah in die Ecke der Ketzerei bringt.
Das Gedicht hatte immensen Einfluss auf die Denker der Renaissance. Sein Einfluss kam nicht nur von der großen Schönheit der Sprache, sondern auch von der subversiven Natur, die Epikurs Philosophie zu Grunde liegt. Epikur war ein Materialist. Er glaubte, dass alles in der Natur aus fundamentalen kleinen Partikeln besteht, die er Atome nannte. Diese Atome existieren in unbegrenzter Leere, aber nach Epikurs Ansicht in bestimmten Formen und Größen. Sie sind unsterblich und wurden nicht von irgendwem erschaffen und sie werden auch nie enden. Epikur glaubte, dass Atome sich ständig bewegen und miteinander kollidieren und dabei sämtliche existierende Formen des Universums bilden, inklusive des Menschen, die nach Epikurs Auslegung ebenfalls nicht einzigartig geschaffen werden. Darüberhinaus sind die Anhänger von Epikur überzeugt, dass es einen freien Willen gibt.
Ausgehend vom Materialismus glaubte Epikur auch nicht an irgendeine Form von Leben nach dem Tod oder Auferstehung. Wenn wir sterben, setzen wir unsere Atome frei und diese formen dann neue Dinge. Er lehnte Religion grundsätzlich als Irrglauben und Täuschung ab, die den Menschen davon abhalten, glücklich zu sein. Damit der Mensch nach Glück streben kann und glücklich sein kann, muss er sich von diesen Illusionen lösen.
Epikurs Materialismus war – nicht sehr überraschend – absolute Ketzerei für die Christen und aus diesem Grund wurde Epikur stets heftig von ihnen attackiert. Eine der nachhaltigsten und am Weitesten verbreite Anschuldigung gegen ihn war der Vorwurf seines grenzenlosen Hedonismus. Dieser Vorwurf lässt sich aber recht leicht widerlegen. Epikur glaubte nämlich, dass der Mensch maßvoll leben sollte und durch Reflektion und Kontemplation ein gelassenes Leben führen kann, das frei von Ängsten und körperlichen Schmerzen ist. Für Epikur ist diese Kombination aus Gelassenheit und Freiheit von Angst und Schmerz der Weg zum Glück.
Als Poggio das Manuskript „Von der Natur der Dinge“ in die europäische Gesellschaft des 15. Jahrhunderts entlässt, war es kein Wunder, dass die christlichen Autoritäten versuchten, es zu unterdrücken wo sie nur konnten. Was das Gedicht rettete und seine Zerstörung verhinderte, war seine absolut wunderbare Sprache. Selbst christliche Gelehrte konnten sich dieser Wirkung nicht völlig entziehen und es wurde – oft heimlich – immer wieder untereinander ausgetauscht und abgeschrieben. Auch der Atomismus/Materialismus Epikurs begann seinen Einfluss zu entfalten, den man am Stärksten in den Werken von Malern wie Raphael oder Leonardo da Vinci sieht oder in den Schriften von Machiavelli, Giordano Bruno und einigen anderen.
Greenblatt hat mich mit diesem Buch sehr beeindruckt. Er hat ein intellektuelles, aber sehr eingängiges Buch geschrieben, das sich intensiv mit Epikurs Philosophie, Lukrez‘ Poesie und Poggio Braccolinis wunderbarem Triumph beschäftigt. „The Swerve“ erhielt den Pulitzer Preis 2012 und wer das Buch liest, versteht sehr schnell warum. Eines meiner absoluten Lieblingsbücher dieses Jahr. Lukrez’ Gedicht “Von der Natur der Dinge” ist überraschend modern und war zu seiner Zeit unglaublich radikal. Greenblatt schafft es wunderbar, die Geschichte des „Buchjägers“ Poggio Bracciolini mit dem Fall Roms und dem Finden von raren antiken griechischen und römischen Dokumenten die in Klöstern verborgen sind zu verbinden.
Wie gut es für die Nachwelt ist, dass die meisten Texte im Laufe der Jahrhunderte nicht aus einer intellektuellen Stimulanz heraus wieder und wieder von Mönchen kopiert wurden, sondern aus einem mechanischen Akt des Gehorsams heraus, das wurde mir erst durch Greenblatts Buch bewusst. Ein intellektuell stimulierter Mönch wäre deutlich mehr in Versuchung gewesen, mit dem Text zu interargieren und ihn gegebenenfalls zu ändern oder zu ergänzen, wodurch wir den Mönchen im Nachhinein für ihr stumpfes Abschreiben dankbar sein können.
“The Swerve” ist nicht nur eine romantische Geschichte über besessene Buchjäger, es ist so so viel mehr. Das Buch erzählt von Leidenschaft und Opferbereitschaft, aber auch von Fanatismus und philosphischer Entschlossenheit. Die Glaubenskriege, die heute toben sind nichts Neues, sondern im Grunde nur eine Weiterführung der Kämpfe von Angst gegen Rationalität und Glaube gegen Logik. Ketzer, die an Atome und nicht an die Seele und ein Leben nach dem Tod glaubten, wurden lebendig auf dem Scheiterhaufen verbrannt, oft nach qualvoller Folter und Verstümmelungen, alles im Namen der Religion. Ideen haben schon immer eine unglaubliche Kraft besessen, waren gefährlich und konnten einem im Handumdrehen das Leben kosten. Intoleranz ist leider nichts neues und sehr weit sind wir in unserer Entwicklung da leider noch nicht gekommen. Überraschend fand ich auch, dass Thomas Jefferson sich selbst als Epikureer gesehen hat und Amerika auf sein „Streben nach Glück“ auf den philosophischen Gedanken von Demokrit und Epikur basiert. Auf diese Grundwerte sollten sich nicht nur die Amerikaner wieder einmal zurückbesinnen, denn mit Angst alleine werden wir unsere Zivilisation nicht weiterentwickeln.
Die Lektüre von Lukrez‘ Gedicht kann ich nur jedem ans Herz legen. Wer Latein spricht, den beneide ich, doch auch deutsche Übersetzung war von unglaublicher Klarheit und Schönheit und es ist eines der Bücher, das man immer wieder aus dem Regal nimmt um darin zu blättern und sich festzulesen. Die Büchergilde hat mit der Ausgabe in der Übersetzung von Klaus Binder ein absolutes Schmuckstück geschaffen.
„The Swerve“ ist auf deutsch unter dem Titel „Die Wende: Wie die Renaissance begann“ im Siedler Verlag erschienen.
„Über der Natur der Dinge“ ist bei der Büchergilde Gutenberg erschienen.
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