Es ist unmöglich, die Handlung zu beschreiben, ohne sie zu verraten, und der Spaß an diesem Buch ist die Klarheit, die man als Leser langsam, nach und nach erlangt, immer nur ein paar Schritte vor dem optimistischen und naiven Erzähler Piranesi, der eine schöne, aber einsame Welt bewohnt.
Diese Welt ist ein Haus aus endlosen Räumen mit Statuen und Gezeiten, die durch leere Hallen brausen. Die Räume des Hauses sind unendlich, seine Korridore endlos, die Wände sind mit Tausenden und Abertausenden von Statuen gesäumt, eine jede anders als die andere. Im Labyrinth der Säle ist ein Ozean gefangen, Wellen donnern die Treppen hinauf, Räume werden im Nu überflutet. Aber Piranesi hat keine Angst, denn er versteht die Gezeiten, so wie er das Muster des Labyrinths selbst zu lesen versteht. Er lebt, um das Haus zu erforschen.
‘I was in a house with many rooms. The sea sweeps through the house. Sometimes it swept over me, but always I was saved.’
Er ist ihr einziger Bewohner, neben der geheimnisvollen Figur namens The Other, ein älterer Mann, der auf der Suche nach einer großen Macht durch die Hallen streift. Die beiden Männer treffen sich zweimal in der Woche, um zu besprechen, was sie entdeckt haben, obwohl The Other vielleicht nicht ganz das ist, was er vorzugeben scheint.
Piranesi kann sich nicht an ein Leben vor dem Haus erinnern, führt aber ein detailliertes Tagebuch über seine Zeit dort und kommt zu dem Schluss, dass er Mitte dreißig sein muss und mehrere Jahre dort draußen in der Welt gelebt hat. The Other hat ihn Piranesi genannt, nach Giovanni Piranesi, einem italienischen klassischen Archäologen, Architekten und Künstler, der für Zeichnungen von fantastischen Labyrinthen und Gefängnissen bekannt ist.
“The Beauty of the House is immeasurable; its Kindness infinite.”
Piranesi kennt das Haus in- und auswendig und katalogisiert alles, was er über es weiß. Er liebt das Haus und fühlt, dass es auch ihn liebt. Die Welt fühlt sich vollständig und ganz an, und „ich, ihr Kind, füge mich nahtlos in sie ein“, schreibt er. Er schaut auf die Statuen als Wegweiser und findet in ihnen Botschaften der Hoffnung und Stärke. Das Haus gibt ihm Nahrung, gibt ihm Wetter, gibt ihm einen Sinn, auch wenn es nur der ist, als Bewohner des Hauses zu dienen. Er hat sich dem Rhythmus des Hauses angepasst und sogar seinen eigenen Kalender, um die Ereignisse des Hauses herum erstellt – der Roman spielt im Jahr, in dem der Albatros in die südwestlichen Hallen kam.
“Perhaps even people you like and admire immensely can make you see the World in ways you would rather not.”
Piranesi ist eine wilde, verrückte und surreale Fahrt,. Der erste Teil hätte für mich gern um 100 Seiten erweitert werden können, auf denen er einfach nur die Hallen erkundet. Ich habe es sehr genossen, in den Bildern in meinem Kopf zu leben – die Atmosphäre dieses Romans ist fantastisch und bringt einen so an atemberaubende Orte.
Wer ist Piranesi, was ist diese Welt, und wie kam er dorthin? Nichts in diesem Buch ist vorhersehbar, und Piranesis Suche nach Antworten macht die Lektüre zu einem fesselnden Erlebnis.
“In my mind are all the tides, their seasons, their ebbs and their flows. In my mind are all the halls, the endless procession of them, the intricate pathways. When this world becomes too much for me, when I grow tired of the noise and the dirt and the people, I close my eyes and I name a particular vestibule to myself; then I name a hall
Ich glaube Piranesi ist mein Lesehighlight 2020, immer wieder denke ich daran zurück und drehe im Kopf meinen eigenen Film dazu mit passendem Soundtrack. Ich mochte „Jonathan Strange & Mr Norrell„, aber Piranesi ist nochmal eine Schippe wunderbarer.
Ich beneide alle, die diese Lektüre noch vor sich haben. 1000 Dank an die wunderbare Anna vom Blog Buchpost, von der ich das Buch geschenkt bekam.
Auf Deutsch erschien das Buch unter dem gleichen Titel im Blessing Verlag.
Uh. Toller Tipp. Danke dafür. Ihr Jonathan Strange fand ich auch wirklich toll. Den Roman hier packe ich mal direkt auf meine Liste.
Das klingt nach einem ungewöhnlichen Buch und du hast mich definitiv neugierig gemacht. Labyrinthe finde ich ja eh immer spannend. Außerdem möchte ich wissen, was es mit dem Pan auf sich hat, der das Cover ziert.
Das klingt nach einem perfekten Quarantäne-Buch, wenn es mal so weit ist: Ein riesiges Haus und unendliches Wandeln. Setze ich auf jeden Fall auf die Liste, danke für den Tipp!
Pingback: Was ich mochte – 2020 | Binge Reading & More
Liebe Sabine, mir geht es mit „Piranesi“ genauso wie dir. Was für ein wunderbares Buch der Ruhe und Stille. Ich habe in den letzten Jahren kaum noch moderne Literatur gelesen, da für mich einfach nichts an die Qualität vieler Klassiker herankommt. „Piranesi“ hat mir aber wieder den Glauben daran zurückgegeben, dass es auch im Jahr 2020 noch möglich ist, etwas Neuartiges von Belang zu schreiben.
Deine Rezension trifft das Buch in meinen Augen perfekt. Auch ich kann überhaupt nicht aufhören daran zu denken.
Aaaaah großartig, ich habe den hier liegen und freue mich jetzt noch viel mehr darauf! 😀
Pingback: #Piranesilesen: Wir lasen gemeinsam Susanna Clarkes "Piranesi" - Phantásienreisen
Pingback: Maibowle 2021 – Regentropfen und Grünexplosion – Kulturbowle