Gothic! – Part 1

Von jeher hatte ich eine große Affinität zur sogenannten Schauerliteratur. Je düsterer, desto besser, von Klassikern wie Frankenstein oder Dracula bis hin zu modernen Werken von Sarah Waters oder Susan Hill.

Dieses Jahr sollten die „12 Tage Weihnachten“ unter dem Gothic Label stehen, allerdings geht es mir hier nicht um sortenreine Genrebesprechungen, sondern ich wollte die Bücher lesen, die mein heimisches Regal zum Thema hergaben und die ich bislang noch nicht gelesen hatte. 6 Bücher sind es insgesamt geworden, die ersten drei stelle ich heute vor.

Beginnen möchte ich mit dem Dicksten: Susannah Clarkes „Jonathan Strange & Mr. Norrell“

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Aufmerksam wurde ich auf das Buch schon vor Jahren, als Naomi Alderman auf dem Reading Weekend in England das Wochenende über daraus vorlas. Seit dem wollte ich es lesen und dennoch hat es aus Gründen bis jetzt gedauert – das Warten hat sich aber definitiv gelohnt.

Eine Warnung vorab: Für die über 1000 Seiten sollte man sich Zeit nehmen, ich glaube das Buch gewinnt immens, wenn man ein paar Stunden am Stück darin versinken kann. Es ist ein ganz unglaubliches, fesselndes, verblüffendes Buch, das sich liest wie Charles Dickens mit den Dialogen einer Jane Austen oder Charlotte Brontë. Clarke verneigt sich vor diesen Größen, ohne ihren eigenen Stil zu verlieren.

Man liest und liest und liest und merkt gar nicht, dass schon wieder 2 Stunden und 200 Seiten vergangen sind. Es hätte nur noch perfektioniert werden können, wenn es draußen geschneit hätte, während ich eingemummelt mit einer Tasse Tee neben mir auf dem Sofa lesend lag und mir im England des 19. Jahrhunderts mit ein paar Zauberern die Zeit vertrieb.

“Houses, like people, are apt to become rather eccentric if left too much on their own; this house was the architectural equivalent of an old gentleman in a worn dressing-gown and torn slippers, who got up and went to bed at odd times of day, and who kept up a continual conversation with friends no one else could see.”

Das Buch ist – im positiven Sinne – ein einziger Umweg. Wieder und wieder und wieder führt uns die Autorin aus Mittelengland nach London, auf die napoleonischen Schlachtfelder und zurück und der Leser hat spannende Begegnungen mit historischen Größen wie Wellington, Lord Byron oder George III.

Clarkes Schreibstil hat mir sehr gefallen und ich war beeindruckt, wie nahtlos sie von geistreich zu sakarstisch, zu witzig und zu wunderbaren Dialogen wechselt:

“Can a magician kill a man by magic?” Lord Wellington asked Strange.
Strange frowned. He seemed to dislike the question. “I suppose a magician might,” he admitted, “but a gentleman never could.”

23 oct Naomi Alderman

Neben der sehr schönen Sprache hat mich auch das faszinierende, gut recherchierte Porträt Englands zur Zeit der napoleonischen Kriege beeindruckt. Sie spart auch die ernsthaften Probleme nicht aus, die England zu der Zeit hatte (z. B. die Rassen- und Klassenkonflikte).

Bücher wie diese sind es – unter anderem – warum ich Literatur so sehr liebe. Große Empfehlung.

Auf Deutsch erschien der Roman unter dem gleichnamigen Titel im Berlin Verlag.

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Das Buch hätte eigentlich eine Enttäuschung für mich sein müssen. Ich hatte es schon eine Weile auf meiner „To-Read-Liste“, mich riesig gefreut, als ich es bei unserem Bookclub Wichteln erwichtelte, es aber – aufgrund des Titels vermute ich – für eine gruselige Geistergeschichte gehalten. War es aber nicht, sondern ein kleiner, wunderbar düsterer Diamant…

Im Norden Englands, abseits von Städten, aber nicht weit von der Zivilisation entfernt, verbringt Silvie mit ihrer Familie ihren Sommerurlaub in einem studentischen Camp wie Briten in der Eisenzeit – sie nutzen die Werkzeuge und das Wissen, das den Menschen in der dieser Zeit zur Verfügung stand.

Zwei Wochen verbringen sie mit einem Anthropologie-Kurs in diesem Camp und spielen dort gemeinsam das einfache Leben dieser Zeit nach. Sie leben in der Nähe eines Waldes, sammeln Pilze, Kräuter und Wurzeln und kochen abends gejagtes Kaninchen. Die Studenten erfüllen mit dem Camp ihre Kursanforderungen, für Silvies Vater hingegen ist es eine lebenslange Obsession. Er hat seine Tochter von klein auf mit Geschichten von den britischen Urvätern versorgt, mit ihr frühe Artefakte besucht und ihr wieder und wieder von den Ritualen und Überzeugungen dieser Menschen erzählt – insbesondere von deren Opferritualen im Moor. Ihr Vater erträgt missmutig sein Leben in der Gegenwart als Busfahrer, insgeheim würde er mit seiner Familie lieber autonom als Bronzezeitler leben.

Silvie freundet sich mit den Studenten an und ihr öffnet sich die Welt, durch deren Geschichten von Reisen ins Ausland, der Möglichkeit, sich seine Kleidung selbst auszusuchen oder selbst entscheiden zu können, was man isst oder trinkt. Nach und nach beginnt sie sich und den Lebensstil ihrer Familie in Frage zu stellen.

Die Briten der Eisenzeit bauten eine Ghost Wall, um Eindringlinge abzuwehren, eine Barrikade aus groben Pfählen mit aufgespießten Totenschädeln ihrer Vorfahren. Als die Gruppe beginnt diese Ghost Wall nachzubauen, beginnen sie eine spirituelle Verbindung zur Vergangenheit aufzubauen. Mit ungeahnten Folgen …

“I shivered. Of course, that was the whole point of the re-enactment, that we ourselves became the ghosts, learning to walk the land as they walked it two thousand years ago, to tend our fire as they tended theirs and hope that some of their thoughts, their way of understanding the world, would follow the dance of muscle and bone. To do it properly, I thought, we would almost have to absent ourselves from ourselves, leaving our actions, our re-enactions, to those no longer there. Who are the ghosts again, us or our dead? Maybe they imagined us first, maybe we were conjured out of the deep past by other minds.” 

Eine gleichzeitig mystische wie zeitgemäße Geschichte, die ich überhaupt nicht aus der Hand legen und in einer Nacht durchlesen musste. Eine Geschichte, die einen darüber nachdenken lässt, wie sehr wir uns tatsächlich von unseren sogenannten „primitiven „Vorfahren weiterentwickelt haben.

Auch hier große Empfehlung! 

Auf Deutsch erscheint das Buch im Mai diesen Jahres unter dem Titel „Geisterwand“ im Berlin Verlag.

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Es hätte so schön werden können. Dieser kleine Mini-Schmöker befand sich in meinem Adventskalender und die Besprechungen auf dem Buchrücken lasen sich vielversprechend:

„Ein wunderbares Buch über die Magie von Büchern“ (FAZ)
„Eines dieser kleinen Bücher, die den Leser immerwährend verzaubern“ (The New York Times)

Um es kurz zu machen: Ich wollte so gerne verzaubert werden, aber es sollte einfach nicht sein. Das Buch beginnt genauso vielversprechend, wie es der Buchrücken verspricht. Tolles Setting, ganz „Borges“ oder „Der Schatten des Windes“, das für mich am Ende aber nicht wirklich abliefern konnte.

Im Frühling des Jahres 1998 wird die Literaturprofessorin Bluma Lennon aus Cambridge von einem Auto überfahren und stirbt. Sie hatte sich gerade einen Emily Dickinson Gedichtband in einem Antiquariat gekauft, als das Unglück geschah.

Ihrem Kollegen wird ein mysteriöses Buchpaket zugeschickt und er findet daraufhin in Blumas Haus eine Ausgabe von Joseph Conrads „Die Schattenlinie“, mit einer ebenfalls sehr mysteriösen Inschrift und Rückständen von Zement am Buchschnitt. Fasziniert und neugierig beginnt er Nachforschungen anzustellen, die ihn von Cambridge über Buenos Aires bis nach Montevideo bringen, um das Schicksal des obskuren Bibliophilen aufzuklären, mit dem Bluma einst ein Verhältnis hatte.

Wahrscheinlich ist es dem Format geschuldet, aber die Geschichte wirkte unnötig gehetzt, ihr bleibt keine Zeit, sich in Ruhe zu entwickeln. Die interessanten Einblicke in das Hirn und Herz eines ausgemachten Bibiophilen werden einfach in die Geschichte gestopft und mit möglichst viel Sinn und Bedeutung vollgefrachtet.

Vielleicht bin ich so frustriert, weil es so viel mehr hätte sein können, hätte der Autor nur darauf vertraut, die Geschichte selbst entwickeln zu lassen, statt dem Leser alles in einer recht monotonen Erzählstimme auflisten. So war es leider mehr eine Sammlung von Aphorismen, die durch einen eher skeletthaften Plot zusammengehalten wurden.

„Das Papierhaus“ erschien im Insel Verlag.

Wer Lust auf mehr „Schauerliteratur“ hat, dem empfehle ich Mary Shelleys „Frankenstein„, Shirley Jackson „The Haunting of Hill House„, E. T. A. Hoffmanns „Der Sandmann“ oder Sheridan Le Fanus „Carmilla„.

Im zweiten Gothic-Teil werden wir dann ein ganzes Stück mehr in die Vergangenheit reisen. Ich hoffe ihr seid wieder dabei?

8 Kommentare zu “Gothic! – Part 1

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  2. Danke für die vielfältigen Tipps! „Ghost Wall“ klingt großartig und war mir bisher völlig unbekannt.

    „Jonathan Strange & Mr Norrell“ steht schon länger auf der Merkliste, aber hat mich nie so sehr gereizt, dass ich mich für einen Kauf entschließen konnte. Deine begeisterten Zeilen dazu haben mir jetzt noch einmal einen ganz anderen Eindruck davon verschafft und die Neugier wieder geweckt. Vor etlicher Zeit hatte ich mal in die Verfilmung reingeschaut, aber es fiel mir schwer, dabei zu blieben (was aber weniger an der Serie lag als vielmehr an der Phase – damals konnte ich bei kaum einer Serie oder einem Film länger als 15 Minuten im Stück schauen). Kennst du die Verfilmung schon?

    • Die Verfilmung habe ich noch nicht gesehen, habe aber davon gehört, dass es sie gibt. Werde ich bei Gelegenheit bestimmt mal gucken.
      Ghost Wall ist ein absolutes Muss – Jonathan Strange auch, aber dafür sollte man sich echt Zeit nehmen, damit man im Alltag nicht nur ein paar Seiten am Tag schafft. Wünsche ganz viel Spaß mit der Lektüre und bin sehr gespannt, wie Dir die Bücher gefallen. Ganz liebe Grüße 🙂

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