London by the Book – Part I

Unser Ausflug nach London kürzlich wurde hier literarisch noch gar nicht thematisiert und das geht natürlich nicht. Das Schöne und Besondere an London ist, dass fast jede Ecke die man besucht schon das eine oder andere mal literarisch erwähnt wurde, so dass ich fast überall wo ich mich in der Stadt rumtreibe an das eine oder andere Buch denken muss.

Ich möchte euch daher literarisch an unserem letzten London Besuch teilhaben lassen und wir starten ganz klassisch am Tower of London, in dessen Nähe sich dieses Mal unser Hotel befand und bei dem ich umgehend an dieses Buch denken musste:

Wolf Hall – Hilary Mantel auf deutsch erschienen im Dumont Verlag unter dem Titel „Wölfe“ übersetzt von Christiane Trabant

England im Jahr 1520: Das Königreich ist nur einen Pulsschlag von der Katastrophe entfernt. Sollte der König ohne männlichen Erben sterben, würde das Land durch einen Bürgerkrieg verwüstet. Henry VIII. möchte seine Ehe annullieren lassen und Anne Boleyn heiraten. Der Papst und ganz Europa sind dagegen. Die Scheidungsabsichten des Königs schaffen ein Machtvakuum, in das Thomas Cromwell tritt: Die Werkzeuge dieses politischen Genies sind Bestechung, Einschüchterung und Charme. Aus der Asche persönlichen Unglücks steigt er auf und bahnt sich seinen Weg durch die Fallstricke des Hofes, an dem »der Mensch des Menschen Wolf« ist. Hilary Mantel hat mit ›Wölfe‹ etwas sehr Rares geschaffen: einen wahrhaft großen Roman, der seinem historischen Gewand zum Trotz höchst zeitgemäß ist. Auf einzigartige Weise erforscht er die Choreografie der Macht.

When you are writing laws you are testing words to find their utmost power. Like spells, they have to make things happen in the real world, and like spells, they only work if people believe in them.

Den ersten Tag habe ich in London noch alleine verbracht und es hat mich seit langem mal wieder ins Britische Museum verschlagen. Dort habe ich unter anderem die großartige Ausstellung „Feminine Power – From the devine to the demonic“ angeschaut. Das Museum liegt im Stadtteil Bloomsbury und somit ganz klar Virginia Woolfs „Hood“ – ich liebe die wunderbare Plätze, Gärten und Häuserreihen und habe vor vielen Jahren häufig in einem der ruhigen schattigen Gärten gesessen und gelesen. Besonders verbinde ich dieses Buch mit dieser Zeit und diesem Teil der Stadt:

Mrs Dalloway – Virginia Woolf auf deutsch unter dem gleichen Titel erschienen im Fischer Verlag übersetzt von Walter Boehlich

An einem sonnigen Junimorgen des Jahres 1923 beginnt die begüterte Clarissa Dalloway mit den Vorbereitungen für eine elegante Abendgesellschaft. Im Verlauf des geschäftigen Tages überlässt sie sich immer wieder ihren Erinnerungen und Gedanken, und während der Big Ben unbeirrt seine Stunden schlägt, wird sie sich der Vergänglichkeit aller Dinge und der Enge ihres Daseins schmerzlich bewusst.

Der Roman handelt von den Gedanken und sparsamen Handlungen eines kleinen Kreises von Personen in London im Verlauf eines Junimittwochs im Jahre 1923. Im Mittelpunkt stehen einerseits Clarissa Dalloway, ihre Bekannten und deren Dienstboten, andererseits der durch seine Kriegserlebnisse emotional erstarrte Septimus Warren Smith, seine Ehefrau und schließlich ein Nervenarzt, der am Ende des Tages die beiden Personenkreise verbindet.

She had the perpetual sense, as she watched the taxi cabs, of being out, out, far out to sea and alone; she always had the feeling that it was very, very, dangerous to live even one day.

Von Bloomsbury geht es jetzt direkt ins Herz der Stadt in die City of London. Meiner juristische Bingereader-Gattin musste ich auf jeden Fall einmal die Inns of Court und den Palace of Justice zeigen. Ein Ort der magischer nicht aussehen könnte und bei dem ich stets an Harry Potters Ministry of Magic denken muss oder aber auch an das folgende Buch, für das ich mich heute entschieden habe, um es euch als London Lektüre ans Herz zu legen:

Jonathan Strange & Mr. Norrell von Susanna Clarke auf deutsch unter dem gleichen Titel im Heyne Verlag erschienen übersetzt von Anette Grube

Wir schreiben das Jahr 1806. Seit Jahrhunderten gibt es keine Zauberei mehr in England. Doch während auf dem Festland der Krieg gegen Napoleon tobt, entdecken die Zaubereihistoriker, dass es noch einen praktizierenden Magier gibt: Mr. Norrell, ein Einzelgänger, der zurückgezogen in Hurtfew Abbey in Yorkshire lebt. Noch ehe sich Regierung und High Society von dieser Überraschung erholt haben, taucht ein zweiter Zauberer auf: der junge, charismatische Jonathan Strange. Die beiden Männer, die unterschiedlicher nicht sein könnten, schließen sich im Dienste der Krone zusammen, um in den Krieg einzugreifen. Doch Strange wird von der dunklen, mysteriösen Magie des Rabenkönigs angezogen, des größten Zauberers aller Zeiten. Um mehr über ihn zu erfahren, riskiert er sogar die Freundschaft zu seinem Mentor. Doch Mr. Norrell hat ebenfalls ein magisches Geheimnis, das ihn und alles, was er sich aufgebaut hat, zerstören könnte, wenn es jemals ans Licht käme …

Can a magician kill a man by magic?” Lord Wellington asked Strange.
Strange frowned. He seemed to dislike the question. “I suppose a magician might,” he admitted, “but a gentleman never could

Man kann natürlich auf keinen Fall durch London schlendern, ohne sich irgendwann in einem der vielen wunderbaren Pubs zu stärken. Im Blackfriars habe ich vor vielen Jahren Dr. Jeckyll & Mr. Hyde gelesen und es wird in diesem Herbst dringend Zeit für eine Wiederholung der Lektüre:

Dr. Jekyll and Mr. Hyde von R. L. Stevenson auf deutsch erschienen im Fischer Verlag übersetzt von Michael Adrian

Der erste Entwurf dieser unheimlichen Geschichte geht auf einen Traum Stevensons zurück. Der Arzt Dr. Jekyll ist sich von Jugend an seiner zwiespältigen Natur bewußt, versucht die dunkle Seite seines Charakters jedoch zu unterdrücken. Immer mehr ergreift der Gedanke Besitz von ihm, daß beide Veranlagungen in verschiedenen Körpern untergebracht werden könnten. Jekyll beginnt zu experimentieren …

„Stevensons makabre Studie vom menschlichen Doppel-Ich ist in erster Linie spannungsvolle, bildhafte Gestaltung seiner Einsicht von der Doppelnatur des Menschen, in dem das Böse, wenn es einmal bejaht wird, unweigerlich zur Macht drängt und seine guten Kräfte unterdrückt.“

Quiet minds cannot be perplexed or frightened but go on in fortune or misfortune at their own private pace, like a clock during a thunderstorm

Bei einem Glas Cider bleibt es in der Regel ja nicht, daher lasst uns ein wenig länger noch im Pub verweilen und ich lade euch ein mir hier demnächst auf den zweiten Teil unseres London Spaziergangs mit der jeweils passenden Lektüre zu folgen. Habt ihr noch Lust?

Auf welche Bücher bzw Ecken Londons konnte ich euch denn bisher schon Lust machen? Auf was seid ihr besonders gespannt?

Piranesi – Susanna Clarke

Es ist unmöglich, die Handlung zu beschreiben, ohne sie zu verraten, und der Spaß an diesem Buch ist die Klarheit, die man als Leser langsam, nach und nach erlangt, immer nur ein paar Schritte vor dem optimistischen und naiven Erzähler Piranesi, der eine schöne, aber einsame Welt bewohnt.

Diese Welt ist ein Haus aus endlosen Räumen mit Statuen und Gezeiten, die durch leere Hallen brausen. Die Räume des Hauses sind unendlich, seine Korridore endlos, die Wände sind mit Tausenden und Abertausenden von Statuen gesäumt, eine jede anders als die andere. Im Labyrinth der Säle ist ein Ozean gefangen, Wellen donnern die Treppen hinauf, Räume werden im Nu überflutet. Aber Piranesi hat keine Angst, denn er versteht die Gezeiten, so wie er das Muster des Labyrinths selbst zu lesen versteht. Er lebt, um das Haus zu erforschen.

I was in a house with many rooms. The sea sweeps through the house. Sometimes it swept over me, but always I was saved.

Er ist ihr einziger Bewohner, neben der geheimnisvollen Figur namens The Other, ein älterer Mann, der auf der Suche nach einer großen Macht durch die Hallen streift. Die beiden Männer treffen sich zweimal in der Woche, um zu besprechen, was sie entdeckt haben, obwohl The Other vielleicht nicht ganz das ist, was er vorzugeben scheint.

Piranesi kann sich nicht an ein Leben vor dem Haus erinnern, führt aber ein detailliertes Tagebuch über seine Zeit dort und kommt zu dem Schluss, dass er Mitte dreißig sein muss und mehrere Jahre dort draußen in der Welt gelebt hat. The Other hat ihn Piranesi genannt, nach Giovanni Piranesi, einem italienischen klassischen Archäologen, Architekten und Künstler, der für Zeichnungen von fantastischen Labyrinthen und Gefängnissen bekannt ist.

“The Beauty of the House is immeasurable; its Kindness infinite.”

Piranesi kennt das Haus in- und auswendig und katalogisiert alles, was er über es weiß. Er liebt das Haus und fühlt, dass es auch ihn liebt. Die Welt fühlt sich vollständig und ganz an, und „ich, ihr Kind, füge mich nahtlos in sie ein“, schreibt er. Er schaut auf die Statuen als Wegweiser und findet in ihnen Botschaften der Hoffnung und Stärke. Das Haus gibt ihm Nahrung, gibt ihm Wetter, gibt ihm einen Sinn, auch wenn es nur der ist, als Bewohner des Hauses zu dienen. Er hat sich dem Rhythmus des Hauses angepasst und sogar seinen eigenen Kalender, um die Ereignisse des Hauses herum erstellt – der Roman spielt im Jahr, in dem der Albatros in die südwestlichen Hallen kam.

“Perhaps even people you like and admire immensely can make you see the World in ways you would rather not.

Piranesi ist eine wilde, verrückte und surreale Fahrt,. Der erste Teil hätte für mich gern um 100 Seiten erweitert werden können, auf denen er einfach nur die Hallen erkundet. Ich habe es sehr genossen, in den Bildern in meinem Kopf zu leben – die Atmosphäre dieses Romans ist fantastisch und bringt einen so an atemberaubende Orte.

Wer ist Piranesi, was ist diese Welt, und wie kam er dorthin? Nichts in diesem Buch ist vorhersehbar, und Piranesis Suche nach Antworten macht die Lektüre zu einem fesselnden Erlebnis.

“In my mind are all the tides, their seasons, their ebbs and their flows. In my mind are all the halls, the endless procession of them, the intricate pathways. When this world becomes too much for me, when I grow tired of the noise and the dirt and the people, I close my eyes and I name a particular vestibule to myself; then I name a hall

Ich glaube Piranesi ist mein Lesehighlight 2020, immer wieder denke ich daran zurück und drehe im Kopf meinen eigenen Film dazu mit passendem Soundtrack. Ich mochte „Jonathan Strange & Mr Norrell„, aber Piranesi ist nochmal eine Schippe wunderbarer.

Ich beneide alle, die diese Lektüre noch vor sich haben. 1000 Dank an die wunderbare Anna vom Blog Buchpost, von der ich das Buch geschenkt bekam.

Auf Deutsch erschien das Buch unter dem gleichen Titel im Blessing Verlag.