Meine Lieblinge (3)

WW4

Heute stelle ich Euch Wortwahl vor – den Salon für Buchkultur. Kennen- und lieben gelernt haben wir uns so richtig auf Tollwood. Da gibt es seit ein paar Jahren im Weltsalon-Zelt von Wortwahl einen phantastischen Stand mit den schönsten Kinderbüchern die man sich vorstellen kann, aber auch eine Menge handverlesener toller Bücher.

Wortwahl ist zwischen Gärtnerplatz und Viktualienmarkt in der Reichenbachstrasse zu finden.

Spezialisiert haben sie sich auf außergewöhnliche Kinderbücher, sowie Bildbände zu Fotografie und Graphik/Design und eine kleine gut sortierte Belletristik-Ecke, in der man immer sehr interessante Entdeckungen machen kann.

WW1

Waldo WW3 WW2

Ein wirklich schöner Buchladen mit freundlich und kompetenten Bücherfreunden im Verkauf. Ich kann einen Besuch dort nur empfehlen.

Also beim nächsten Bummel durch das Glockenbachviertel unbedingt mal vorbeischauen – es lohnt sich 🙂

Meine Woche

113

 

Gesehen: Nur ein paar Folgen Big Bang Theory – keine Zeit für einen Film gehabt 😦

Gehört: meinen September-Mix, lade ich die nächsten Tage hoch

Gelesen: Den Artikel „Wir Geiseln des Arbeitswahns“ – spannend

Getan: im Lenbach-Haus die Neue Sachlichkeit und die Ausstellung von Florine Stettheimer angeschaut

Gegessen: Unmengen an Tütensuppen

Getrunken: Tee, Tee, Tee und einen sehr guten Singapore Sling

Gefreut: über das Wiedersehen mit LA Michelle, den Besuch einer Freundin und das das kranke Huhn wieder fit ist und heute mit auf die Wiesn kann und SONNE

Geärgert: über mich – weil ich es nur so schwer akzeptieren kann, in einer mir so wichtigen Freundschaft momentan einfach nur noch die zweite Geige zu spielen. Ich möchte doch gönnen können 😦

Gelacht: über eine interessante Hosen-Schmuck-Koffer Installation am Candidplatz

Geplant: einen Opern-Ausflug nach Mannheim im Frühjahr

Gewünscht: dieses coole Bike-Rack

Gekauft: einen wunderschönen Blumenstrauss

Gefunden: tolle neue Streetart

Geklickt: interessanter Artikel über meinen Lieblings-TV-Sender Arte

Gewundert: über Leute die mitten in Untergiesing zelten

(diese Auflistung bei philuko gesehen für toll befunden und übernommen – hoffe, das ist ok).

April – Angelika Klüssendorf

april

Wir treffen das Mädchen wieder, als sie das Kinderheim mit 18 verlassen muss. Die Jugendhilfe besorgt ihr ein Zimmer in der Wohnung einer ziemlich merkwürdigen Seniorin mit Kanarienvogel, einen Hilfsjob in einem Starkstrom-Kombinat und sie selbst versorgt sich mit einem Namen. „April“ aus einem Song von Deep Purple.

April stolpert durch die Freiheit ihres Erwachsenenlebens und sucht und sucht nach irgendetwas, was ihrem Inneren Halt gibt. Sie möchte Nähe und Ankommen, nicht mehr allein sein, vielleicht sogar geliebt werden, aber sie fürchtet sich davor, jemanden zu brauchen oder wirklich an sich heranzulassen.

Diese Zerrissenheit, diese ständigen Kämpfe zwischen Nähe und Distanz bestimmen ihren Alltag. Ihr Job langweilt sie, sie ist einsam und sie trinkt – heftig.

Sie schließt Freundschaften, verliebt sich ständig, entliebt sich aber fast genauso schnell wieder. Sie sucht unablässig die Nähe von Künstlern, möchte von ihnen ernst genommen werden, für ihre Gedanken und Worte geliebt werden und nicht für ihr Aussehen oder ihren Körper. Bücher sind auch weiterhin ihre Rettungsanker, wann immer sie wieder droht zu ertrinken. Sie schreibt, gibt eine systemkritische Literaturzeitung mit heraus und bewirbt sich um ein Literatur-Stipendiat.

Irgendwo habe ich gelesen April macht stets ein paar Schritte vor und gleich wieder ein paar zurück, aber sie bewegt sich nach vorn. Immer. 10 Schritte vor, 5 zurück – aber sie ist 5 Schritte weiter. Sie steht immer wieder auf, gibt nicht auf. Kämpft für sich, muss zu allererst sich selbst retten, bevor sie für jemand anderen da sein kann.

Mit Hans trifft sie wieder einen Künstler, ist gerne mit ihm zusammen, geniesst es in seiner schönen Altbauwohnung, die er mit seinem Bruder bewohnt, zumindest für kurze Zeit eine Heimat zu finden. Aber die große Liebe ist es nicht. Sie wird schwanger, sie ziehen in eine kleine gemeinsame Wohnung, aber sie schafft es nicht wirklich, eine enge Beziehung zu ihm oder ihrem Sohn aufzubauen.

Immer wieder kommt die Angst, nicht anders zu sein als ihre gefühlskalte Mutter oder ihr alkoholkranker Vater.

Sie stellen einen Ausreiseantrag, der überraschend schnell genehmigt wird. Die Übersiedlung in den Westen ist ein traumatisches Erlebnis für April. Es war keine gute Heimat, aber die einzige die sie je hatte. Der Westen überfordert sie mit all den glitzernden tausend Entscheidungsmöglichkeiten und eine Weile lang steht sie immer wieder am Grenzübergang, um wieder zurück in den Osten zu gehen, holt sich immer wieder die Abfuhr und hämischen Bemerkungen der Grenzer ab.

Sie ist lange Zeit im Exil in West-Berlin, bis sie ankommt. Noch immer strauchelt sie, aber sie findet eine Balance zwischen ihrem Wunsch nach Nähe und den Fluchtgedanken wenn es zu eng und zu viel wird.

Ein ganz wichtiges Buch. Grandiose Sprache, nüchtern, aber um so bewegender. Beeindruckend, wie Angelika Klüssendorf es schafft immer wieder kleine Hoffnungsschimmer durchdringen zu lassen. Das Unterschichten-Arbeiterkind aus bildungsfernem Mileu, das Schmuddelnd, mit dem die anderen nicht spielen sollen – sie zeigt es allen, gemäss ihrem Motto nach Rilke: „Wer spricht von Siegen – überstehen ist alles“.

„Sie spürt Unruhe in sich aufsteigen, steht da, als würde sie einen Feind wittern. Von klein auf kennt sie diesen Zustand der Bedrohungserwartung. Und sie weiß nie, wie sie da rauskommen soll. Als müsste sie den Orkan aushalten, bis er vorübergezogen ist.“

„Seit Tagen bringt sie kaum ein Wort heraus, spürt ihr Herz so laut und heftig klopfen, als würde es in einem leeren Zimmer liegen.“

„Sie lebt, so mußte es wohl ausgehen, obwohl sie durchaus sterben wollte. Doch wenn sterben genauso anstrengend  wie leben ist, kann sie durchaus noch eine Weile leben.“

„Sie läuft durch die langen Korridore, bleibt vor der rot gerahmten Hausordnung stehen, die sie an das Kinderheim erinnert, es kam ihr schon damals komisch vor, dass eine Hausordnung das Leben regel soll.“

„Ich bin meine eigene Mutter und mein eigener Vater, sagt sie und hört selbst den Trotz in ihrer Stimme.“

„April fühlt sich wohl und ist dennoch stets auf dem Sprung.“

„Es ist wie eine Naturgewalt, die über mich kommt, versucht sie zu erklären. Ich halte es nicht aus, wenn es mir gut geht, ich traue dem nicht.“

„Manchmal hat April das Gefühl, der Zorn ihrer Mutter würde wie eine Ascheschicht auf ihrem Herzen liegen. Als sollte sie nie frei atmen dürfen, als würde ihre Mutter noch immer versuchen, alles Gute und Lebendige in ihr zu vernichten.“

„Doch hinter dieser Ordnung meint sie die Anstrengung ihres Vaters zu spüren, nicht bloß zu existieren, ein Quäntchen Freude zu empfinden, und die allergrößte Anstrengung: nicht über den Rand der Welt zu kippen. Es kostet ihn Kraft, das durchzuhalten, das weiß sie genau, aber eines Tages wird er die ganze mühsam aufgerichtete Fassade wieder einreißen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche – es braucht nur den richtigen Auslöser, um den Säufer und Zerstörer zurück ans Ruder zu lassen.“

April ist im Kiepenheuer & Witsch Verlag erschienen.

Miss Wyoming – Douglas Coupland

coupland

Von Coupland hatte ich irgendwie schon jede Menge gehört. Kultbuch-Autor, Generation X – muss man gelesen haben, hatte ich bislang aber nicht.

Miss Wyoming hab ich letzten Sommer beim Radeln in einer Kiste mit „zu verschenken Büchern“ gefunden und jetzt wars dann mal so weit. Gar nicht einfach zu beschreiben, wie es mir gefallen hat. Es ist ein bißchen so, als wäre man zu lange mit dem Kopf unter Wasser gewesen und irgendwann hält man es nicht länger aus.

Ein atemloses Erlebnis, man hetzt von einer Episode zu anderen und muß stets auf der Hut sein, um nix zu verpassen. Er hat einen eigenwilligen Schreibstil, nutzt sehr abgefahrene Sprachbilder und irgendwie schafft er es, eine fast schon kitschige Liebes- und Selbstfindungsgeschichte zu erzählen, ohne das es wirklich ins Kitschige abdriftet.

Susan Colgate, die gar nichts mit Zahnprodukten zu tun hat, sondern früher Kinder-Schönheitskönigin und B-TV-Sternchen und John Johnson, ein Fan besonderer synthetischer Produkte und ein mehr oder weniger erfolgreicher Filmproduzent mit mehr Tiefen als Höhen, sind beide Experten für diverse Achterbahnen im Leben und beide sind mal für eine Weile aus ihrem Leben ausgestiegen.

Sie überlebt als einzige einen Flugzeugabsturz, mimt ihren eigenen Tod und verschwindet für ein Jahr. Nach und nach erfährt man, was ihr in diesem Jahr alles passiert ist.

John geht nach seinem Nah-Tod-Erlebnis, bei dem er irgendwie Susan Colgate zu sehen glaubt, auf eine quasi-philosophische Selbstentdeckungstour.Er verschenkt all sein Hab und Gut und lebt ein Jahr als Obdachloser und wandert ziellos durch die Gegend.

Die beiden begegnen sich im ersten Kapitel, verbringen ein paar Stunden spazierengehend miteinander und sind sehr voneinander angetan. John hat Susan in einem Nah-Tod-Erlebnis irgendwie gesehen und ist seitdem auf der Suche nach ihr. Warum, weiß er selbst nicht so genau, als er sie dann aber trifft, ist er sofort Hals über Kopf in sie verliebt. Sie aber verschwindet und er setzt alles daran, sie wieder zu finden.

Die Suche bringt so einiges an abgefahrenen Action, Zufällen, Obskuritäten und nach und nach erfährt man immer mehr über die beiden Protagonisten. Ein Road-Movie der besonderen Art.

Das Buch zeigt die harte Wirklichkeit hinter den pinkfarbenen Miss-Wahlen und wieweit Eltern gehen, um ihre Kinder zu dem zu machen, was sie selbst nie erreichen konnten.

Einige der Nebendarsteller waren sehr spannend, ich hätte gerne noch mehr über Vanessa gelesen, die brillante Lisbeth Salander-ähnliche Hackerin, den schmierigen Eugene oder die Numerolgin.

Coupland hat einen sehr speziellen Schreibstil, den man mögen muss. Mir hat das Buch ganz gut gefallen, auch wenn ich jetzt nicht direkt zum Fan geworden bin. Generation X werde ich aber bei Gelegenheit wohl noch lesen. Ein bisserl viel Hype, aber es ist definitiv unterhaltsam und besser geschrieben als so manch anderer Schmarrn.

„Er erinnerte sich, dass die Frau aus seiner Vision im Krankenhaus ihm das Gefühl gegeben hatte, es gäbe irgendwo auf dem fremden Todesstern, der sein Herz war, eine verwundbare Stelle, in die er eine Bombe hineinschmuggeln, sich damit in die Luft sprengen und aus den Überresten wieder neu zusammen setzen konnte.“

„Du bist liebenswert Vanessa. John zerbrach sich den Kopf, wie er das was er als nächstes sagen wollte, in Worte fassen konnte. Aber du musst dir die Brust aufreißen, frische Luft an dein Herz lassen und dir einen Sonnenbrand darauf holen, und das kann einem verdammt Angst machen.“

Meine Woche

1282

Gesehen: „Big Bang Theory“ Staffel 7 ist endlich da, und „Philomena“ ein sehr berührender, trauriger Film – sehr sehenswert.

Gehört: The Raveonettes „Kill“ , Boys Noize „Alarm“ und Trentemoller „Come Undone“

Gelesen: ausgiebig die ZEIT beim Frühstück und besonders gern den Artikel über Wolfgang Herrndorf’s nachgelassenes Romanfragment

Getan: zwei Bookclubs in einer Woche besucht – könnte ich mich dran gewöhnen

Gegessen: vietnamesische Pho

Getrunken: Singapore Sling

Gefreut: das die Überraschungsparty so gut geklappt hat und wir einen tollen Abend hatten

Geärgert: über einen Platten, der aber zum Glück schnell wieder geflickt war

Gelacht: über den Typ der nach tagelangem Anstehen sein neues iPhone erstmal einem Crash-Test unterzieht

Geplant: eine Great-Gatsby-Silvesterparty

Gewünscht: dieses coole Bücherregal

Gekauft: Bücher, Musik und ein paar Pflanzen bei Ikea

Gefunden: 20,- € aber nicht behalten.

Geklickt: bei Lumas – ich könnte mich hier totkaufen

(diese Auflistung bei philuko gesehen für toll befunden und übernommen – hoffe, das ist ok).

90 Jahre Büchergilde

 

büchergilde

Eine der größten und wichtigsten Entscheidungen, die ich mit 18 getroffen habe, war nicht die erste Wahl, auch wenn die sicher nicht unwichtig war, es war meine Entscheidung in die Büchergilde einzutreten. Die Oma war besorgt, ob meiner finanziellen Situation und ich solle doch einfach bei meiner Leihbücherei bleiben. Nix da, ich habe mich durchgesetzt und es nicht bereut. Gelockt haben sie mich damals aber auch sehr mit dem Angebot 3 Bücher für 5 DM. Hammer! Und zack den Doppelband Erich Kästner eingesackt und noch zwei andere (an die ich mich jetzt leider nicht mehr erinnern kann).

Vier mal im Jahr ein Buch aus dem Repertoire zu kaufen, ist zwar nicht übermässig viel, denn einen enormen Bücherverschleiss hatte ich ja immer schon. Nur hatte ich ja keine Kohle. Hab es trotzdem immer geschafft und selbst meine Zeit in Schottland und England haben uns nicht trennen können. Statt viermal im Jahr haben wir uns einfach auf einmal im Jahr geeinigt und kurz vor Weihnachten führte mich mein erster Weg stets in die Büchergilde, um mich selbst und gelegentlich auch andere liebe Menschen mit guten Büchern zu versorgen.

Die Büchergilden in Mainz, Hamburg und München waren und sind immer ganz besondere Buchläden für mich gewesen.

In Mainz, wo mir die wunderbare Buchhändlerin die reduzierten Büchergilden-Bücher, die ich mögen würde, immer auf Seite gepackt hat und bei der ich damals sogar anschreiben lassen konnte, wenn es in manchen Monaten besonders eng war.

Oder in Hamburg, wo es immer wunderbar leckeres Russisch Brot zu knabbern gab zum Tee, während man sich in aller Ruhe umgeschaut hat.

Hier in München gibt es keine eigene Büchergilden-Buchhandlung, aber Literatur Moths bietet ihnen eine gute Heimat. Eine tolle Buchhandlung. Habe ich ja vor ein paar Tagen schon mal als einen meiner Lieblinge vorgestellt.

So, jetzt muß ich mir den neuen Katalog aber erst mal ordentlich zu Gemüte führen und mir überlegen was ich wohl unbedingt noch haben sollte. Empfehlen kann ich neben den wunderbar illustrierten und fast immer leinengebundenen Büchern auch die „Tollen Hefte“. Wer die nicht kennt, ab in die nächste Büchergilden-Filliale und angucken. Befehl von ganz unten 😉

Happy Birthday liebe Büchergilde – auf die nächsten 90 Jahre und zu meinen 90. könnte ich mir gut eine fette Party in der Buchhandlung vorstellen, alle Gäste verkleidet als meine Lieblings-Romanfiguren.

Das Mädchen – Angelika Klüssendorf

Das Mädchen

Bevor ich in den nächsten Tagen „April“ lese und die Rezension hier hochlade, wollte ich mich noch einmal mit dem Vorgänger „Das Mädchen“ beschäftigen und meine Besprechung vom Sommer 2013 aus dem Archiv holen und hier hochladen.

Ein Buch das mich sehr berührt hat. Mir gingen beim Schreiben 1000 Emotionen und Erinnerungen durch den Kopf, es war schwer das Gelesene in Worte zu fassen. Vielleicht weil es, wie man im englischen sagt, ziemlich „close to home“ war,  hat es mich gelegentlich etwas aus der Bahn geworfen.

Das Mädchen lebt mit ihren Brüdern in einem von Gewalt und heftigen Emotionen geprägten Umfeld. Die Mutter hat wechselnde Liebhaber, der Vater ist Alkoholiker, die Kinder sind oft mehr oder weniger sich selbst überlassen. Der betrunkene Vater schlägt die Mutter, die lässt ihre Wut wiederum häufig an der – im Buch namenlosen – Tochter aus, die wiederum gelegentlich ihren kleinen Bruder drangsaliert. Die Kinder sind all den Emotionen schutzlos ausgeliefert. Die Launen der Mutter, die sich selbst „Zorn Gottes“ nennt,  können nicht eingeschätzt werden, sie schwankt ständig zwischen depressiven und brutalen Phasen hin- und her.

„Betrunken findet die Mutter zu ihren alten Zerstreuungen zurück; Alex muss mit ausgestreckten Armen in jeder Hand ein Kopfkissen halten, lässt er die Arme sinken, knallt die Mutter ihm den Ledergürtel zwischen die Beine.“

Die unglaubliche Stärke des Mädchens zeigt sich insbesondere darin, ihrer schrecklichen Realität um jeden Preis entfliehen zu wollen. Sie flüchtet ständig. In die Literatur, in Träume oder auch in tatsächlichen Ausbrüchen. Literatur als Lebens- oder doch zumindest Seelenretter. Sie versucht immer wieder aus ihrem Leben auszubrechen, besser zu werden in der Schule, schöpft Hoffnung bei jedem Lehrerwechsel, versucht sich mehr anzustrengen und scheitert doch immer wieder, weil sie keine Unterstützung erfährt.

Das Mädchen entwickelt ein Spiel mit ihrem kleinen Bruder, bei dem sie beide auf die vielbefahrene Straße rennen, ohne sich um die fahrenden Autos zu kümmern. Gleichgültig nehmen sie in Kauf, ihrem trostlosen Leben auf diese Art zu entkommen.

Das Buch zu lesen ist fast schon körperlich anstrengend. Die Sprache ist nüchtern, distanziert. Es ist schonungslos authentisch, ohne jemals ins Sentimentale abzuwandern. Es ist so derart hart, beklemmend und brutal und diese Härte färbt sich auch auf das Mädchen ab. Sie stumpft ab, sie schlägt andere Kinder, stiehlt, sie baut einen Schutzwall um sich herum auf, den nichts durchdringen kann und der sie nahezu emotionslos macht.

Wird sie wieder einmal nächtelang in den Keller gesperrt, ist es die Literatur und insbesondere Brehms Tierleben, das hilft, ihre Welt um sich herum zu verstehen. Sie wird Mitglied in einer Bücherei, erschließt sich mit den Büchern Zugang zu ganz anderen, besseren Welten. Und sie findet auf diesem Wege regelmässigen Zugang zum nötig gebrauchten Lesestoff. Bücher sind (Über-)Lebens-Mittel.

„Am nächsten Morgen ist die Mutter in besonders boshafter Stimmung, nennt ihre Tochter eine Missgeburt und erzählt ihr, dass sie leider vergeblich versucht habe, sie abzutreiben. Ausführlich schildert die Mutter die blutigen Details, und sie glaubt ihr sofort.“

„Als sie ein Päckchen von Ellen bekommt, beobachtet die Mutter sie beim Auspacken. Obwohl sie ihre Blicke spürt, schafft sie es nicht, einen kurzen Jauchzer zu unterdrücken, als sie ihr Briefmarkenalbum entdeckt. Sie versucht, das Album beiläufig in ihr Zimmer zu bringen, und als sie zurück in die Küche kommt, lächelt die Mutter und fragt nichts. Sie weiß, dass ein Lächeln der Mutter vieles bedeuten kann, doch sie ist müde und nicht so vorsichtig, wie sie sein sollte. Sie ist so müde, dass sie am späten Abend, während sie die Briefmarken sorgfältig auf dem Bettlaken vor sich aufreiht, einschläft. Als sie erwacht, sind alle Briefmarken zerrissen, auch die mit dem tanzenden goldenen Nilpferd.“

„Während man ihn zuweilen anfassen kann, ohne einen Schlag zu erhalten, empfindet man zu anderen Zeiten bei der geringsten Berührung die Wirkung seines Unwillens“

Das ist nicht nur eine sehr exakte Beschreibung ihrer Mutter, sondern auch des Zitteraals.

„Es macht keinen Unterschied, ob sie lügt oder die Wahrheit sagt, geprügelt wird sie immer … Sie verschwindet in der Raserei der Mutter wie in einem Strudel, lässt sich nach unten auf den Grund sinken und ist einfach nicht mehr da.“

Das Mädchen kommt irgendwann in ein Kinderheim. Was vielleicht eine Art Zuflucht sein könnte, ist leider nur ein Ort zur „Umerziehung fehlentwickelter junger Menschen“ , in der Bevölkerung auch gerne als „Asoziale“ bezeichnet. Sie flüchtet immer wieder aus dem Heim, in dem hauptsächlich auf die Einhaltung der „Zehn Gebote der sozialistischen Moral“ geachtet wird. Sie versucht außerhalb des Heimes Freundschaften aufzubauen, aber es gelingt ihr nicht wirklich Halt zu finden. Sie verletzt die Menschen um sie herum, sowohl die die ihr helfen wollen, als auch die denen sie gleichgültig ist. Es gelingt ihr nicht, sich von ihrer Mutter zu lösen, der sie ähnlicher wird, ohne etwas dagegen tun zu können. Eine der schlimmsten Stellen für mich im Buch, die Erkenntnis, das sie unweigerlich daraufzusteuert sich in ihre Mutter zu verwandeln. Nature vs Nurture ?!?

Sie wird gewalttätig, überwiegend aber sich selbst gegenüber, aber es gelingt ihr dennoch immer wieder sich zu behaupten, weiterzumachen, zu überleben und weiterzukämpfen. Zwar gibt es kein Happy End, aber doch die Hoffnung das dieses kleine magere, kämpferische Mädchen es doch schaffen wird.

„Sie hört einen Vogelschwarm, bevor sie ihn sieht, Wildenten, die Richtung Süden ziehen. Sie stellt sich vor, mit ihnen zu fliegen, egal wohin. Sie steigt schwerelos empor, betrachtet die Welt von oben, sieht sich selbst im Gras liegen, die Arme ausgebreitet, alles ist nah und doch so unendlich weit entfernt, sie fliegt höher und höher, bis sie ganz verschwunden ist.“

Ein heftiges Buch, das zurecht für den Buchpreis nominiert war und das ich unbedingt empfehle zu lesen. Ich bin gespannt auf „April“, aber ich fürchte mich auch ein ganz klein wenig davor. Und ich frage mich, ob die Mutter dieses Buch jemals gelesen und sich wiedererkannt hat? Und falls ja ?

Das Mädchen ist im Kiepenheuer & Witsch Verlag erschienen.

Die Stein-Strategie. Von der Kunst nicht zu Handeln – Holm Friebe

stein

Ein schönes Buch. Nicht nur vom Inhalt her, sondern auch vom Aussehen und der Haptik. Wie es aussieht, scheinen einige Leute das Buch aufgrund von Abbildung und Titel gelegentlich für einen Ratgeber für das Stein-Schere-Papier-Spiel zu halten, glücklicherweise hat sich meine Erwartung mit dem gedeckt, was ich mir erhoffte.

Also klar kein Stein-Schere-Papier-Ratgeber, auch weniger ein weiterer Selbsthilfe-Buch aus der Ecke „Mäuse-, Bären-, Bienen-Strategie“ etc., sondern Gedanken dazu, warum es häufig besser ist, erst einmal nichts zu tun, nachzudenken, innezuhalten und auf gar keinen Fall in Entscheidungshysterie zu verfallen.

Das Buch ist so einiges nicht. Kein Aufruf zur endlosen Prokrastiniererei, keine Bibel für Veränderungs-Verweigerer, Bremser und ewige Pessimisten. Kein Selbst-Optimierungsbuch, sondern eher ein Aufruf, das reflexartige Handeln häufiger mit dem reflexartigen Innehalten zu Ersetzen.

Holm Friebe, Autor, Trendforscher und Gründer der Zentralen Intelligenz Agentur und Mitbegründer des Blogs „Riesenmaschine“ beschäftigt sich häufig mit dem Thema Veränderung der Arbeitswelt. Das Konzept des „Powerpoint-Karaoke“ hat mir sehr gefallen und ich lese die Sachen aus dem Friebe/Passig/Lobo/Herrndorf-Umfeld sehr gerne. Da kommen meine Gehirnzellen in Schwung. Ist zwar dann auch etwas „Group-Think“, weil deren Texte bei mir meist zustimmendes Nicken hervorrufen, aber es macht Spaß und das eine oder andere ist mir neu oder ich teile es nicht ganz. Gut so.

Friebe spricht vieles aus, was mir schon lange durch den Kopf geht, ich bislang aber noch nie so schön und konzentriert aufs Papier bringen konnte.  Mich nervt dieser nicht totzubekommende Wunsch der Arbeitswelt, alles stets und ständig messen und kontrollieren zu müssen, hyperaktiv in Aktionismus zu verfallen, aus der panischen Angst heraus, irgendjemand könne faulenzen oder zu wenig tun und da Quantität sich ja oft so viel einfacher messen lässt als Qualität und viel hilft doch bestimmt auch viel, da kontrolliert alles eifrig vor sich hin und zweifelt viel zu selten an der Sinnhaftigkeit des Ganzen.

Wenn mich etwas im Laufe meines Arbeitslebens stets an den Rand des Wahnsinns getrieben hat, dann die Befürworter der „Command + Control“ Fraktion. Boah die werden nur getoppt von den „solange Du Deine Füße unter meinen Tisch stellst“-Mantra-Anhängern.

OK – genug aufgeregt. Das Buch zeigt, warum es wenig sinnvoll ist, sich stets und ständig zu ändern, nur um der Veränderung willen, wie häufig blinder Aktionismus an den Tag gelegt wird, aus Angst davor unentschlossen oder faul zu wirken. Über ein paar Sachen werde ich noch ein wenig nachdenken wollen, bevor ich meine Gedanken dazu mal aufschreibe, z.B. zu Zeitwohlstand vs Zeitnotstand, Information Overload und Filter Failure.

Ich habe schon lange nicht mehr so viel aus einem Buch herausgeschrieben. Eine Fülle von interessanten Ideen:

„Ein Großteil dessen, was unternommen wird, geschieht einfach nur deshalb, damit etwas geschieht.“

„Die durch Fortschritt gewonnene Zeit wird an anderer Stelle sofort wieder verausgabt.“

„Die Lösungen von heute sind die Probleme von Morgen“.

„Jede Arbeit dehnt sich solange aus, bis sie die dafür verordnete Zeit vollständig ausfüllt.

Parkinsons Law = Die verordnete Arbeitszeit füllen, in dem man die Zeit totschlägt, Projekte anzettelt, Meetings abhält oder dem Zeitvertreib cc an alle frönt.“

„Paradoxerweise könnte der Weg mehr erledigt zu bekommen sein, weniger zu tun.“

„Vielleicht begreifen es die Arbeitgeber ja irgendwann, dass viel nicht viel hilft und weniger manchmal mehr sein kann.“

„Mache nicht mit, nur weil es in ist. Verpasse nicht, nur weil es out ist“.

„Ein Lob auf das Füße-stillhalten-können und Kommen-lassen.“

„Früher war der Vertreter stolz auf seinen Abschluss oder der Tischler stolz auf sein Möbel. Heute sind viele Arbeitsprozesse so zerlegt, dass wir kaum Rückmeldungen bekommen. Stolz sind viele Menschen daher auf den Grad der Erschöpfung.“

„Bei einem Werkstück bin ich zu Pausen gezwungen, sei es weil Farbe trocknen muss, ich Bedenkzeit brauche, die Werkstatt schließt. Heute sind wir rund um die Uhr erreichbar und haben so das Gefühl, etwas zu erreichen.“

„Das Leben hat sich beschleunigt, hat sich verdichtet. Mehr Ereignisse denn je verlangen nach Aufmerksamkeit, jede Stunde, jeden Tag, jede Woche.“

„Die Stein-Strategie“ ist im Hanser Verlag erschienen.

Meine Woche

cambodia

Gesehen: „Barton Fink“ – es tut mir wirklich leid. Das mit den Coen Brüdern und mir es ist und bleibt einfach schwierig. Es will einfach nicht klappen zwischen uns. My mind wanders off und ich hatte überwiegend das Bedürfnis Barton Fink die Haare zu schneiden. Aber liegt an mir. Weiß ich. Keine Sorge. Coen Brüder sind bestimmt super, aber mir fehlt da anscheinend ein bestimmtes Gen.

Gehört: Diesen Song – toller Text, tolles Lied. Und Händels „Alcina“ – Aufführung der Staatsoper Stuttgart. Sooo schön.

Gelesen: sehr interessanten neuen Blog entdeckt, auf dem es viel spannendes zu lesen gibt.

Getan: unser Patenkind wurde eingeschult – schön wars 🙂

Gegessen: Selbstgebastelte Veggie-Döner

Getrunken: Lillet – hmmmmmm

Gefreut: liebe Freunde wiederzusehen und über ein gewonnes Buch das ich hier jetzt bald besprechen werde

Geärgert: fällt mir nix ein gerade

Gelacht: über ein „Sambal ölig“

Geplant: was wir uns im November auf Mallorca so anschauen wollen

Gewünscht: diese Jacke – aber erst mal wieder im Lotto gewinnen 😉

Gekauft: 5 Tage Urlaub auf Mallorca im Oktober

Gefunden: Luigi Pirandello’s „Meistererzählungen“

Geklickt: auf einen Bericht über Street photography in HongKong in den 50er Jahren

(diese Auflistung bei philuko gesehen für toll befunden und übernommen – hoffe, das ist ok).

The Drowned World – JG Ballard

Ballard

Heute mal wieder ein Schmankerl aus dem Archiv, das ich nach und nach hochladen will. Dieser absolut schrecklichste, nasseste und trübste Sommer ever in Bayern hat mich zu einem Sonnenfoto greifen lassen. Wie gerne würde ich jetzt dieses Buch noch einmal an diesem thailändischen Strand lesen!

JG Ballards „The Drowned World“ stand schon eine Weile auf meiner Leseliste, hatte es aber bislang nicht. Und wo finde ich dieses – ok etwas mitgenommene Exemplar? – in LAOS (!) in einem klitzekleinen Laden in dem man das weltbeste „Morning Glory“ essen konnte. Das lag da schon eine Weile und ich durfte es gerne mitnehmen.

Wo läßt sich „The Drowned World“ besser lesen, als im schwül-warmen Südostasien? Die Geschichte spielt in London, die Polarkappen sind geschmolzen, die Welt fast komplett abgesoffen und die Zivilisation so gut wie hin. Brennendes Sonnenlicht mit unglaublichen Temperaturen machen es nahezu unmöglich zu überleben. Unglaublich das diese Geschichte bereits 1962 geschrieben wurde, als noch kein Mensch von Klimawandel gesprochen hat.

Eine Gruppe von Außenseitern lebt an einem Sumpf oberhalb des gefluteten Londons. Dr. Keran wohnt in einem ehemaligen Hotel, Beatrice Dahl, mit der er gelegentlich eine Affaire hat, auf der anderen Seite und in der Nähe ist eine Militärbasis, auf der Experimente durchgeführt werden. Es ist gnadenlos heiß, es schwirren riesige Libellen durch die Luft und die ganze  Atmosphäre ist stickig, klebrig und die Hitze lähmt alles.

Die Atmosphäre schlägt allen aufs Gemüt und mehr und mehr setzt unter den Protagonisten eine durch Träume ausgelöste Form von Wahnsinn ein. Sie weigern sich, der Aufforderung des Militärs nachzukommen und mit diesen weiter Richtung Norden zu ziehen. Robert und Beatrice sind vollkommen lethargisch, schlafen fast nur noch, bis eine Gruppe Piraten auftaucht und anfängt die paar Überlebenden zu terrorisieren und die leerstehenden Gebäude auszurauben.

Auch bei ihnen beginnen irgendwann die Träume und sie merken, dass sie nach und nach den Halt verlieren und sich immer weiter von ihrer eigenen Menschlichkeit entfernen. Je amphibienhaft lethargischer sie werden, um so mehr beginnt die Natur um sie herum aufzublühen trotz oder gar aufgrund der widrigen Umweltbedingungen. Die Menschheit entwickelt sich zurück, unsere Zivilisation geht in die Knie, aber die Natur überlebt die Umweltkatastrophe.

Das Buch ist bei Weitem nicht fehlerfrei. Die Geschichte verliert etwas an Spannung in der Mitte, die Lethargie greift gelegentlich auch etwas auf den Leser über und man sollte nicht mit allzu hohen Logik-Ansprüchen an die Geschichte herangehen. Woher sie nach den vielen Jahren des Geflutet-Seins noch immer Nahrung, Alkohol und Benzin haben, hmmmmm.

Mir hat das Buch sehr gefallen, vielleicht oder gerade auch wegen der schwülen, traumartigen Atmosphäre im Buch und ich habe mich sehr an eine Star Trek TNG Folge erinnert gefühlt, in der sich die Besatzung, durch einen unbekannten Virus bedingt, auf ihre ursprünglichste Entwicklungsstufe zurückentwickelt.

Eine Dystopie, bei der man sich immer wieder einmal bewusst machen sollte, dass sie bereits in den 60er Jahren geschrieben wurde.

‚Did I or did I not try to kill myself?‘ One of the few existential absolutes, far more significant than ‚To be or not to be?‘, which merely underlines the uncertainty of the suicide, rather than the eternal ambivalence of his victim.“

„Nothing endures for so long as fear. Everywhere in nature one sees evidence of innate releasing mechanisms literally millions of years old, which have lain dormant through thousands of generations but retained
their power undiminished. The field rat’s inherited image of the hawk’s
silhouette is the classic example – even a paper silhouette drawn across a cage sends it rushing frantically for cover. And how else can you explain the universal but completely groundless loathing of the spider, only one species of which has ever been known to sting? Or hatred of snakes and reptiles? Simply because we all carry within us a submerged memory of the time when the giant spiders were lethal, and when the reptiles were the planet’s dominant life form.“

Das Buch ist auf deutsch unter dem Titel „Paradiese der Sonne“ in der Edition Phantasia erschienen