Das Mädchen – Angelika Klüssendorf

Das Mädchen

Bevor ich in den nächsten Tagen „April“ lese und die Rezension hier hochlade, wollte ich mich noch einmal mit dem Vorgänger „Das Mädchen“ beschäftigen und meine Besprechung vom Sommer 2013 aus dem Archiv holen und hier hochladen.

Ein Buch das mich sehr berührt hat. Mir gingen beim Schreiben 1000 Emotionen und Erinnerungen durch den Kopf, es war schwer das Gelesene in Worte zu fassen. Vielleicht weil es, wie man im englischen sagt, ziemlich „close to home“ war,  hat es mich gelegentlich etwas aus der Bahn geworfen.

Das Mädchen lebt mit ihren Brüdern in einem von Gewalt und heftigen Emotionen geprägten Umfeld. Die Mutter hat wechselnde Liebhaber, der Vater ist Alkoholiker, die Kinder sind oft mehr oder weniger sich selbst überlassen. Der betrunkene Vater schlägt die Mutter, die lässt ihre Wut wiederum häufig an der – im Buch namenlosen – Tochter aus, die wiederum gelegentlich ihren kleinen Bruder drangsaliert. Die Kinder sind all den Emotionen schutzlos ausgeliefert. Die Launen der Mutter, die sich selbst „Zorn Gottes“ nennt,  können nicht eingeschätzt werden, sie schwankt ständig zwischen depressiven und brutalen Phasen hin- und her.

„Betrunken findet die Mutter zu ihren alten Zerstreuungen zurück; Alex muss mit ausgestreckten Armen in jeder Hand ein Kopfkissen halten, lässt er die Arme sinken, knallt die Mutter ihm den Ledergürtel zwischen die Beine.“

Die unglaubliche Stärke des Mädchens zeigt sich insbesondere darin, ihrer schrecklichen Realität um jeden Preis entfliehen zu wollen. Sie flüchtet ständig. In die Literatur, in Träume oder auch in tatsächlichen Ausbrüchen. Literatur als Lebens- oder doch zumindest Seelenretter. Sie versucht immer wieder aus ihrem Leben auszubrechen, besser zu werden in der Schule, schöpft Hoffnung bei jedem Lehrerwechsel, versucht sich mehr anzustrengen und scheitert doch immer wieder, weil sie keine Unterstützung erfährt.

Das Mädchen entwickelt ein Spiel mit ihrem kleinen Bruder, bei dem sie beide auf die vielbefahrene Straße rennen, ohne sich um die fahrenden Autos zu kümmern. Gleichgültig nehmen sie in Kauf, ihrem trostlosen Leben auf diese Art zu entkommen.

Das Buch zu lesen ist fast schon körperlich anstrengend. Die Sprache ist nüchtern, distanziert. Es ist schonungslos authentisch, ohne jemals ins Sentimentale abzuwandern. Es ist so derart hart, beklemmend und brutal und diese Härte färbt sich auch auf das Mädchen ab. Sie stumpft ab, sie schlägt andere Kinder, stiehlt, sie baut einen Schutzwall um sich herum auf, den nichts durchdringen kann und der sie nahezu emotionslos macht.

Wird sie wieder einmal nächtelang in den Keller gesperrt, ist es die Literatur und insbesondere Brehms Tierleben, das hilft, ihre Welt um sich herum zu verstehen. Sie wird Mitglied in einer Bücherei, erschließt sich mit den Büchern Zugang zu ganz anderen, besseren Welten. Und sie findet auf diesem Wege regelmässigen Zugang zum nötig gebrauchten Lesestoff. Bücher sind (Über-)Lebens-Mittel.

„Am nächsten Morgen ist die Mutter in besonders boshafter Stimmung, nennt ihre Tochter eine Missgeburt und erzählt ihr, dass sie leider vergeblich versucht habe, sie abzutreiben. Ausführlich schildert die Mutter die blutigen Details, und sie glaubt ihr sofort.“

„Als sie ein Päckchen von Ellen bekommt, beobachtet die Mutter sie beim Auspacken. Obwohl sie ihre Blicke spürt, schafft sie es nicht, einen kurzen Jauchzer zu unterdrücken, als sie ihr Briefmarkenalbum entdeckt. Sie versucht, das Album beiläufig in ihr Zimmer zu bringen, und als sie zurück in die Küche kommt, lächelt die Mutter und fragt nichts. Sie weiß, dass ein Lächeln der Mutter vieles bedeuten kann, doch sie ist müde und nicht so vorsichtig, wie sie sein sollte. Sie ist so müde, dass sie am späten Abend, während sie die Briefmarken sorgfältig auf dem Bettlaken vor sich aufreiht, einschläft. Als sie erwacht, sind alle Briefmarken zerrissen, auch die mit dem tanzenden goldenen Nilpferd.“

„Während man ihn zuweilen anfassen kann, ohne einen Schlag zu erhalten, empfindet man zu anderen Zeiten bei der geringsten Berührung die Wirkung seines Unwillens“

Das ist nicht nur eine sehr exakte Beschreibung ihrer Mutter, sondern auch des Zitteraals.

„Es macht keinen Unterschied, ob sie lügt oder die Wahrheit sagt, geprügelt wird sie immer … Sie verschwindet in der Raserei der Mutter wie in einem Strudel, lässt sich nach unten auf den Grund sinken und ist einfach nicht mehr da.“

Das Mädchen kommt irgendwann in ein Kinderheim. Was vielleicht eine Art Zuflucht sein könnte, ist leider nur ein Ort zur „Umerziehung fehlentwickelter junger Menschen“ , in der Bevölkerung auch gerne als „Asoziale“ bezeichnet. Sie flüchtet immer wieder aus dem Heim, in dem hauptsächlich auf die Einhaltung der „Zehn Gebote der sozialistischen Moral“ geachtet wird. Sie versucht außerhalb des Heimes Freundschaften aufzubauen, aber es gelingt ihr nicht wirklich Halt zu finden. Sie verletzt die Menschen um sie herum, sowohl die die ihr helfen wollen, als auch die denen sie gleichgültig ist. Es gelingt ihr nicht, sich von ihrer Mutter zu lösen, der sie ähnlicher wird, ohne etwas dagegen tun zu können. Eine der schlimmsten Stellen für mich im Buch, die Erkenntnis, das sie unweigerlich daraufzusteuert sich in ihre Mutter zu verwandeln. Nature vs Nurture ?!?

Sie wird gewalttätig, überwiegend aber sich selbst gegenüber, aber es gelingt ihr dennoch immer wieder sich zu behaupten, weiterzumachen, zu überleben und weiterzukämpfen. Zwar gibt es kein Happy End, aber doch die Hoffnung das dieses kleine magere, kämpferische Mädchen es doch schaffen wird.

„Sie hört einen Vogelschwarm, bevor sie ihn sieht, Wildenten, die Richtung Süden ziehen. Sie stellt sich vor, mit ihnen zu fliegen, egal wohin. Sie steigt schwerelos empor, betrachtet die Welt von oben, sieht sich selbst im Gras liegen, die Arme ausgebreitet, alles ist nah und doch so unendlich weit entfernt, sie fliegt höher und höher, bis sie ganz verschwunden ist.“

Ein heftiges Buch, das zurecht für den Buchpreis nominiert war und das ich unbedingt empfehle zu lesen. Ich bin gespannt auf „April“, aber ich fürchte mich auch ein ganz klein wenig davor. Und ich frage mich, ob die Mutter dieses Buch jemals gelesen und sich wiedererkannt hat? Und falls ja ?

Das Mädchen ist im Kiepenheuer & Witsch Verlag erschienen.

2 Kommentare zu “Das Mädchen – Angelika Klüssendorf

  1. Ich danke dir für diese schöne Besprechung, die ich mit besonderer Neugier gelesen habe, da ich vor kurzem April gelesen habe. Ich werde das Mädchen wohl auf jeden Fall „hinterherlesen“, die Geschichte von April hat mich einfach sehr beeindruckt.

  2. Ein sehr beeindruckendes Buch mit einer sehr bewegenden Geschichte. Danke für die tolle Zusammenfassung. Ich lese deine Buchrezessionen wirklich immer gerne, sie geben genug Einblick, um sich entscheiden zu können, ob man das Buch lesen möchte und machen Geschmak auf mehr. Die Unterstreichung deiner dabei empfunden Gefühle runden es zu etwas Besonderem ab. MERCI 🙂

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