Women in Science (29) Henrietta Lacks

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Henrietta wurde am 1. August 1920 in Roanoke, Virginia, als Loretta Pleasant geboren. Irgendwie wurde über die Zeit ihr Name zu Henrietta.

Mit siebzehn heiratete Henrietta, einen jungen Mann namens Day mit dem sie fünf Kinder bekam. Das Krankenhaus John Hopkins das ganz in ihrer Nähe war, war ein Ort den Henrietta und viele andere Schwarze ihr Leben lang fürchteten, denn es hielten sich hartnäckig die Gerüchte, das sie nicht die gleiche Qualität  bekommen würden, wie Weiße und schlimmer noch, dass in dem Krankenhaus medizinische Experimente an ihnen durchgeführt wurden. Es gab auch Gerüchte, dass Chirurgen routinemäßig Hysterektomien bei schwarzen Frauen durchführten, wenn diese mit Bauch- oder Beckenschmerzen kamen ins Krankenhaus gingen.

Hätte Henrietta nicht selbst den „Knoten auf ihrer Gebärmutter“ertastet und geahnt, dass es sich dabei höchstwahrscheinlich um Krebs handelt, wäre sie wohl auch nicht ins Krankenhaus gegangen.

Im Jahr 1951 entnimmt ein Chirurg am Johns Hopkins Hospital in Baltimore ein Stück Krebsgewebe aus dem Gebärmutterhals der 30-jährigen Frau. Sie hatte eine „Operationserlaubnis“ unterschrieben, die es ihm erlaubte, Radium in ihren Gebärmutterhals einzubringen, um damit ihren Krebs zu behandeln, aber niemand hatte ihr irgendetwas erklärt. Und niemand sah voraus, dass Henrietta Lacks, eine Schwarze mit kaum sechs Jahren Schulbildung und fünf Kindern, die Mutter der modernen Medizin werden würde.

Das Gewebe, das aus ihrem Gebärmutterhals entnommen wurde, wurde Dr. George Gey übergeben. Er glaubte, dass er die Ursache von Krebs – und dessen Heilung – finden könnte, wenn er eine sich ständig teilende Linie von bösartigen menschlichen Zellen finden würde, die alle aus derselben Probe stammen. Er beschriftete jedes Röhrchen mit den ersten beiden Buchstaben des Vor- und Nachnamens des unfreiwilligen Spenders: HeLa

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Im Gegensatz zu allen anderen Zellen, die sie bisher entnommen hatten, starben diese nicht ab. Gey begann, die unsterblichen Zellen an Kollegen weiterzugeben. Innerhalb von zwei Jahren gingen die HeLa-Zellen in Massenproduktion. Sie wurden kommerzialisiert und weltweit vertrieben, was für die Entwicklung von Impfstoffen und viele medizinische Fortschritte von zentraler Bedeutung war. Bis 2017 waren HeLa-Zellen in 142 Ländern untersucht worden und hatten Forschungen ermöglicht, die zu zwei Nobelpreisen, Unmengen an Patenten und wissenschaftlichen Arbeiten führten und Henriettas Rolle als Mutter der modernen Medizin begründeten.

Henrietta starb am 4. Oktober 1951. Niemand hatte Henrietta oder ihre Familie darüber informiert, dass die Zellen noch existierten. Niemand hatte die Pläne und Experimente mit den HeLa-Zellen erwähnt. Niemand hatte um Erlaubnis gebeten, sie mitzunehmen oder zu benutzen.

In den folgenden Jahrzehnten konzentrierte sich die Familie Lacks darauf, herauszufinden, was es für sie bedeutet, dass ihre Zellen am Leben sind. Henrietta Lacks Zellen haben der Wissenschaft zu unschätzbaren Erfolgen verholfen und die Familie selbst hatte ihr Leben lang so wenig Geld, dass sie sich nicht einmal eine Krankenversicherung leisten konnten.

Erst im Jahr 2009 wurde von der Autorin des Buches Rebecca Skloot, eine Stiftung ins Leben gerufen, die Henrietta Lacks Foundation. Die Aufgabe der Stiftung besteht darin, „bedürftigen Personen und ihren Familien, die wichtige Beiträge zur wissenschaftlichen Forschung geleistet haben, ohne persönlich von diesen Beiträgen zu profitieren, finanzielle Unterstützung zu gewähren, insbesondere jenen, die ohne ihr Wissen oder ihre Zustimmung in der Forschung eingesetzt werden“. Darüber hinaus gibt sie den unzähligen Menschen, die von ihren Beiträgen profitiert haben, eine Möglichkeit, ihnen ihre Wertschätzung zu zeigen. Bis heute haben Mitglieder der Familie Lacks und andere mehr als 50 finanzielle Zuwendungen in unterschiedlicher Höhe erhalten.

Rebecca Skloot hat einen Wissenschaftskrimi geschrieben, der so spannend ist, dass man sich beim Lesen immer mal wieder in Erinnerung rufen muss, dass es sich hier um tatsächliche Begebenheiten handelt. Wäre man mit Henrietta und ihren Zellen auch so umgegangen, wenn sie nicht aus einer bildungsfernen, armen, schwarzen Familie gestammt hätte?

Ein Buch das viele ethische Fragen aufwirft und mich noch lange beschäftigen wird.

Habt ihr schon von Henrietta Lacks und ihrer Rolle in der Medizin gehört?

Women in Science (26) Janna Levin

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Janna Levin ist Professorin für Physik und Astronomie am Barnard College der Columbia Universität. Sie beschäftigt sich in ihrer Forschung hauptsächlich mit dem frühen Universum, mit der Chaos-Theorie und Schwarzen Löchern.

Schwarze Löcher sind dunkel, das ist mehr oder weniger ihre Essenz. Wenn schwarze Löcher miteinander kollidieren, passiert das in kompletter Dunkelheit. Doch wenn diese miteinander kollidieren, ist das ein Ereignis, das mehr Kraft freisetzt, als alles seit der Geburt unseres Universums. Der Überschuss an Energie der dabei entsteht, zeigt sich in der Form von Raumzeit: als Gravitationswellen.

Alles, was wir bisher über unser Universum wissen, kommt daher, dass wir seit Jahrtausenden den Himmel beobachten, erst mit unseren Augen, später mit immer besser werdenden Teleskopen. Neben der Erforschung über das Auge kommt jetzt die Erforschung des Alls über die Ohren hinzu. Die Entdeckung der Gravitationswellen ist eine der wichtigsten Entdeckungen in der gesamten Geschichte der Physik.

„Astronomy promises a score to accompany the silent movie humanity has compiled of the history of the universe from still images of the sky, a series of frozen snapshots captured over the past four hundred years since Galileo first pointed a crude telescope at the Sun.”

Gravitationswellen konnten bisher noch von keinem Teleskop aufgenommen werden, der einzige Hinweis auf ihre Existenz ist das Klingen der Raumzeit. Einstein sagte 1916 die Existenz von Gravitationswellen voraus und es war seine größte Priorität sie nachzuweisen, da sie seine Theorie der gekrümmten Raumzeit beweisen würden.

Ein Jahrhundert später gibt es Aufnahmen von den ersten Klängen aus dem Universum, sozusagen der Soundtrack, der den Stummfilm der Astronomie begleitet.

In „Black Holes and Other Songs from Outer Space“ gibt Janna Levin die faszinierende Geschichte der besessenen Suche der Wissenschaftler wieder, die sich auf die mehr als 50 Jahre dauernde Jagd nach den schwer fassbaren Wellen machten. Es war anfangs nur ein ambitioniertes Gedankenexperiment, das zu einer fixen Idee wurde für die Astronomen Rai Weiss, Kip Thorne und Ron Drever. Um ihre wilde Idee umzusetzen, sammelten sie im Laufe der Zeit ein internationales Team von über Hundert Wissenschaftlern und Technikern um sich.

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Das Herz der Geschichte liegt für Levin nicht so sehr in der Astronomie, sondern in den Wissenschaftlern, in ihrem Background, ihrer Art zu denken, ihre Arbeitsumgebung und wie sie mit anderen zusammenarbeiten. Sie schafft damit einen sehr faszinierenden, fast schon psychologischen Bericht des astronomischen Wissenschaftsbetriebs nach dem zweiten Weltkrieg.

Die Tatsache, dass man große astronomische Events wie die Kollision zweier Galaxien hören kann, war fast genau 100 Jahre lang das Hauptthema der theoretischen Physik, bis Ende 2015 dann zum ersten Mal eine offizielle Aufnahme im LIGO gelang. LIGO ist die Abkürzung für Laser Interferometer Gravitational Wave Observatory. Man kann sich vorstellen, dass solche riesigen Projekte eine ganze Menge Drama erzeugen.

Levins Buch hat mir noch einmal mehr verdeutlicht, wie sehr auch die Wissenschaft von Ellbogen- und Haifischmentalität bestimmt ist und auch, dass man sich eigentlich immer darüber klar sein sollte, dass wenn man an dem Nachweis einer bahnbrechenden Theorie arbeitet, man das in der Regel nicht alleine tut. Irgendwo auf der Welt wird jemand an genau dem gleichen Nachweis arbeiten und eigentlich hoffen, dass das Labor der Konkurrenz in Flammen aufgeht und man selbst in Ruhe den Preis einheimsen kann.

Ich könnte mir gut vorstellen, dass Jana Levin sich bei einigen nicht gerade beliebt gemacht hat, als sie auch über die ganzen unschönen Konflikte am LIGO geschrieben hat.

Aber abgesehen von pikantem Wissenschaftstratsch ist das Buch voll spannender Informationen zum Thema Gravitationswellen, es ist in einer sehr zugänglichen Sprache geschrieben und es liest sich teilweise wie eine Soap Opera mit seinen Abteilungsstreitereien, den politischen Winkelzügen, den schwierigen Persönlichkeiten oder wenn es wieder einmal so aussah, als würde es keine Finanzierung mehr geben.

Ich finde es nach wie vor sehr beeindruckend, dass Levin das Buch schrieb, bevor die Gravitationswellen tatsächlich entdeckt wurde. Sie startete das Buch also weniger als Beschreibung eines Triumphes, als über den mühseligen Aufstieg, während der Gipfel noch unerreicht in nebeliger weiter Ferne liegt. Das macht das Ganze noch einmal mehr zu einem bedeutenden Zeugnis, wozu der menschliche Geist fähig ist, wie hartnäckig der Mensch sein kann und warum es immer wieder Menschen gibt, die ihr gesamtes Leben einer Sache widmen, von der sie weder sicher sein können, dass sie jemals oder zumindest zu ihren Lebzeiten erfolgreich sein wird und die für diese Sache gegen unglaubliche Widerstände und Rückschläge kämpfen.

Wer das Buch liest weiß, dass sich die nervenaufreibende hoffnungsvolle, oft enttäuschende Suche gelohnt hat. Aber während des Lesens erlebt man deutlich die Unsicherheit, ob es wirklich gelingen wird, Gravitationswellen zu finden, oder ob man nach dem heiligen Gral sucht? Die Suche war riskant, kontrovers und aus technologischer Sicht eigentlich unmöglich.

Scientists are like those levers or knobs or those boulders helpfully screwed into a climbing wall. Like the wall is some cemented material made by mixing knowledge, which is a purely human construct, with reality, which we can only access through the filter of our minds. There’s an important pursuit of objectivity in science and nature and mathematics, but still the only way up the wall is through the individual people, and they come in specifics… So the climb is personal, a truly human endeavor, and the real expedition pixelates into individuals, not Platonic forms.

Als Laie braucht man keine Angst vor dem Buch zu haben, es gibt keine Formeln oder umständlichen physikalischen Erläuterungen, nur das Thema an sich – die Gravitationswellen – sind per se nicht ganz einfach zu verstehen und klingen irgendwie nach Star Trek.

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Foto: Guardian

Das Buch ist leider bisher noch nicht auf deutsch erschienen.

Women in Science (24) Blattgeflüster – Hope Jahren

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Dieses Mal habe ich für Women in Science auf Esthers wunderbarem Blog „Esthers Bücher“ geklaut, da werde ich immer wieder einmal fündig, sei es für meine Women in SciFi als auch diese Reihe. Der geistige Diebstahl wurde abgesegnet und somit freue ich mich euch heute eine Geobiologin vorstellen zu dürfen:

Hope Jahren ist eine amerikanische Geobiologin, die in diesem Buch über Pflanzen und ihr eigenes Leben erzählt, wobei der biografische Teil überwiegt. Es ist also weniger ein Sachbuch über unsere Flora, obwohl das Buch alleine schon wegen den bildhaften Beschreibungen des pflanzlichen Lebens lesenswert ist. Viel eher ist es die ergreifende Geschichte einer Wissenschaftlerin, die sich in einer von Männern dominierten Welt behaupten muss.

Was ist aber Geobiologie? Hope Jahren buddelt oft in der Erde, sammelt Pflanzen und verbringt sehr sehr viel Zeit in ihrem Labor (Doppelschichten sind bei ihr die Norm!). Das beschreibt schon mal ganz gut die Tätigkeit eines Geobiologen. Diese Wissenschaft ist nämlich „eine interdisziplinäre Forschungsrichtung, die die Methodiken der Geowissenschaften i. w. S. und der Biologie miteinander verknüpft, um Wechselwirkungen zwischen Biosphäre einerseits und Lithosphäre, Erdatmosphäre und Hydrosphäre andererseits zu erkunden“. (Wikipedia) Dabei folgt Jahren ihrer eigenen Methode, die in dieser Disziplin eher selten ist: Sie versucht die Logik der Pflanzen zu verstehen, und daraus Schlüsse zu ziehen. Für sie sind Bäume nicht einfach nur Bäume, sondern Lebewesen, die immer einen trifftigen Grund dafür haben, was sie gerade tun.

Ich versuchte, mir eine neue Umweltwissenschaft auszumalen, die nicht auf einer Welt der Menschen basierte, in der eben auch ein paar Pflanzen lebten, sondern auf einer Welt der Pflanzen, in der auch ein paar Menschen herumspazierten.

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Es ist nicht einfach, in der Männerdomäne der Naturwissenschaften sich als Frau einen Namen zu machen, das muss Hope Jahren immer wieder erfahren. Dass sie für ihre Forschung dann auch noch einen Weg wählt, der völlig ungewohnt ist, hilft ihr dabei nicht unbedingt. Ständige Geldprobleme machen es schwer, ihr Labor aufzubauen und ihre Kollegen zu bezahlen. Und als würden sich nicht bereits genug Hindernisse ihr in den Weg legen, muss sie auch mit einer Angststörung und den Auswirkungen ihrer manischen Depression kämpfen.

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All das scheint sie aber nicht zu verlangsamen, im Gegenteil. Sie arbeitet bis heute, wo sie bereits eine etablierte und mehrfach ausgezeichnete Wissenschaftlerin ist, Tag und Nacht. Das liegt sicherlich auch an ihrer medizinischen Kondition, aber auch an ihrem unbändigen Interesse am pflanzlichen Leben. Stets an ihrer Seite ist Bill, der im Buch ohne Nachnamen erwähnt wird, nach kurzer Recherche weiß man aber, dass es sich dabei um Bill Hagopian handelt. Bills Figur ist mindestens so faaszinierend, wie die von Hope Jahren. Er ist ein Einzelgänger, der in seiner Jugend im Garten seiner Eltern ein Loch gebuddelt und dort gelebt hat. Er liebt es nun mal, in der Erde zu graben. Er folgt Jahren überall hin, auch wenn seine Existenz meistens nicht gesichert ist. Denn während Jahren als Professorin immer über ein Gehalt von ihrer jeweiligen Universität erhält, muss Bill aus anderen, oft nicht vorhandenen oder sehr spärlichen Mitteln bezahlt werden. Das führt dazu, dass er teilweise kein Dach über dem Kopf hat und in seinem Auto oder verbotenerweise im Labor übernachten muss.

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Hope Jahren und Bill Hagopian. Foto: Gunhild M . Haugnes/UiO. Lizenz: CC BY 4.0

Bill ist es, der immer in der Lage ist, Jahren zu beruhigen, oder sie immer wieder zu motivieren, wenn sie aufgeben würde. Und Hope Jahren lernt nach und nach, was dazu notwendig ist, ihr Forscherteam nicht nur am Leben zu erhalten, sondern auch zum Erfolg zu führen. Man bekommt das Gefühl, dass sie ohne einander verloren wären und es nie soweit geschafft hätten, wo sie heute sind.

Und diese fast schon symbiotische Beziehung ist in ihrer Welt der Pflanzen nicht unbekannt. Das Überleben für eine Pflanze ist keine Selbstverständlichkeit. Nur ein kleiner Bruchteil aller Samen wird irgendwann mal zu einem Sprössling. Und nur ein Bruchteil dieser Sprösslinge wird mal zu einer erwachsenen Pflanze. Dass eine Pflanze lange überlebt und sich sogar fortpflanzen kann, bedarf so vieler glücklicher Umstände, dass man sie kaum aufzählen kann. Diese Parallelen zwischen Pflanzen und der Lebensgeschichte ihrer Erforscherin sind leicht zu entdecken und ergeben sich aus der Struktur des Buches. Scheinbar vermischen sich pflanzenbezogene Kapitel wahllos mit biografischen, doch da steckt eine tiefere Logik dahinter.

Ein tolles Buch, das mir so viel mehr gegeben hat, als was ich erwartet habe. Ich war auf ein Buch über Pflanzen vorbereitet, und habe mich darauf gefreut, mehr über sie erfahren. Und diese Erwartung wurde auch nicht enttäuscht. Womit ich nicht gerechnet habe, war Hope Jahren mit ihren immer wieder neu aufgebauten Laboren und mit ihrer Leidenschaft (oder Besessenheit?). Aktuell bereitet sie ihr nächstes Buch vor, das im März 2020 unter dem Titel „The Story of More“ erscheinen soll. Ich freue mich schon darauf.

 

Women in Science (23) Sonja Kowalewski

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Sonja Kowalewski wurde als Sofya Vasileyevna Kovalevskaya 1850 in Rußland geboren. Wie üblich bei russischen Namen, wurde ihr Name in vielen Varianten übersetzt, ich belasse es der Einfachheit halber hier bei der in Deutschland gängigen Variante Sonia Kowalewski.

Sie war eine Pionierin auf dem Gebiet der Mathematik und die erste Frau, die einen Doktor in Mathematik machte, sowie die erste Professorin für Mathematik in Nordeuropa.

Ihr Interesse für Mathematik wurde durch mathematische Unterlagen geweckt, die sie in ihrem Kinderzimmer enteckte. Da die Tapete in ihrem Zimmer nicht ausreichte, wurde der Rest der Wand mit Unterlagen einer mathematischen Vorlesung von Michail Ostrogradski zu Differential- und Integralrechnung tapeziert. Die Unterlagen gehörten ursprünglich ihrem Vater.

Mit diesen Berechnungen beschäftigte sich die kleine Sonja intensiv und ihr Interesse an der Mathematik wurde besonders von einem Onkel gefördert, der sich als Nichtmathematiker selbst in die Höhen der Mathematik eingearbeitet hatte.

Der Unterricht, den sie zu Hause erhielt, wurde ihr schnell langweilig und als ihr Interesse an Algebra und Geometrie stärker wurde, verbot ihr Vater ihr zunächst den Unterricht. Sie verfolgte ihre Interessen daher heimlich weiter.

Mit 15 begann sie, sich selbst Physik sowie die trigonometrischen Formeln, auf die sie beim Studium der Optik stieß, beizubringen. Sie korrespondierte mit dem Verfasser des Physik-Lehrbuchs und dieser setzte sich dafür ein, dass sie Unterricht in höherer Mathematik bekam.

Diesen bekam sie bei einem Professor in Sankt Petersburg, wo sie auch auf Dostojewski traf, für den sie von Jugend an schwärmte. Dieser interessierte sich allerdings mehr für ihre Schwester Anna.

Da Frauen zu dieser Zeit in Russland weder studieren, noch als Gasthörerinnen an Vorlesungen teilnehmen durften, gingen sie häufig zum Studium in den Westen (Marie Curie zum Beispiel nach Paris).

Es war gar nicht einfach für Frauen in Russland auszureisen, denn sie besaßen zu dieser Zeit keinen eigenen Reisepass. Eine Auslandsreise war ihnen daher nur in Begleitung des Vaters oder Ehemanns möglich. Ihr Vater war gegen ihr Auslandsstudium, sie aber setzte sich gegen seinen Willen durch und ging 1868 mit dem Studenten Wladimir Kowalewski eine Scheinehe ein. Im darauffolgenden Jahr reisten beide nach Wien, wo Sonja die Genehmigung eines Physikprofessors erhielt, an seinen Vorlesungen teilzunehmen.

Das Leben in Wien war teuer und  es gefiel ihr dort auch nicht sonderlich, so dass sie beschloss, nach Heidelberg zu gehen, wo sie im Sommer 1869 ihr Studium der Mathematik (bei Paul du Bois-Reymond und Leo Koenigsberger), Physik (bei Helmholtz) und Chemie (bei Bunsen) aufnahm.

Im Winter 1870 wechselte Sonja auf Anraten von Professor Koenigsberger nach Berlin, zu Karl Weierstraß, dem bedeutendsten Mathematiker seiner Zeit. Nach vier Jahren begann sie, an ihrer Dissertation zu arbeiten, teilweise arbeitete sie 16 Stunden am Stück. Dazwischen war sie hin- und wieder in Paris bei ihrem Mann und ihrer Schwester, die beide auf Seiten der Aufständischen aktiv in der Pariser Kommune waren. Nach der Niederschlagung der Kommune konnte ihre Schwester fliehen, ihr Mann wurde dabei verletzt. Kowalewski pflegte ihn und andere Verletzte in dieser Zeit im Hospital, nahm jedoch nicht am Aufstand selbst teil.

Obwohl ihr Lehrer Weierstraß selbst gegen das Studium von Frauen war, unterstützte er sie bei der Promotion, die sie 1874 an der Universität in Abwesenheit und ohne mündliche Prüfungen absolvieren konnte. Sie machte ihren Abschluss mit summa cum laude.

Nach ihrer Promotion ging sie mit ihrem Mann nach Russland zurück, wo sie jedoch keine Möglichkeit hatte zu unterrichten, außer in den untersten Klasse an einer Mädchenschule. Aus diesem Grund beschloss sie, der Mathematik den Rücken zu kehren und ihre Scheinehe zu einer richtigen zu machen. Im Jahr 1878 brachte sie eine kleine Tochter zur Welt.

Doch schon nach kurzer Zeit gerieten sie in finanzielle Bedrängnis und sie mussten vor Gläubigern nach Moskau fliehen. Dort begann sie, sich wieder mit der Mathematik zu beschäftigen. Nachdem ihr Mann durch irrsinnige Spekulationen finanziell immer weiter abrutschte, trennte sie sich von ihm und ging zurück nach Berlin, später nach Paris, wo sie in die Mathematische Gesellschaft gewählt wurde. Ihre Tochter schickte sie zurück nach Rußland, wo sie von einer Freundin aufgezogen wurde.

1883 erhielt sie eine Stelle als Privatdozentin an der Universität Stockholm. Eine Position, die ihr als getrennt lebende Frau lange verwehrt war, die ihr aber durch den Selbstmord ihres Gatten und ihrer somit neuen Rolle als ehrbare Witwe nun offen stand.

Ihre Ankunft in Stockholm war ein großes Ereignis, so ungewöhnlich war die Vorstellung einer weiblichen Professorin. August Strindberg bekleckerte sich auch nicht gerade mit Ruhm als er folgende Zeilen in einem Artikel veröffentlichte:

„…eine Frau als Mathematikprofessor eine schädliche und unangenehme Erscheinung sei, ja, daß man sie sogar ein Scheusal nennen könnte. Die Einladung dieser Frau nach Schweden, das an und für sich männliche Professoren genug habe, die sie an Kenntnissen bei weitem überträfen, sei nur durch die Höflichkeit der Schweden dem weiblichen Geschlecht gegenüber zu erklären.“

1887 lernte Kowalewski Alfred Nobel kennen, der ihr den Hof machte, den sie aber abblitzen ließ. Es gibt Gerüchte, dass seine gekränkte Eitelkeit der Grund dafür seien, dass es bis heute keinen Nobelpreis für Mathematik gäbe.

Im Juni 1889 wurde ihr in Stockholm eine Professur auf Lebenszeit übertragen und sie wurde in Frankreich zum Officier de l’Instruction publique ernannt, was allerdings keine nennenswerten Vorteile mit sich brachte. In Russland wurde sie nun immerhin zum „korrespondierenden Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften“ gewählt.

Leider hatte Kowalewski nicht mehr viel von ihrer Stellung auf Lebenszeit, da sie 1891 an den Folgen einer Lungenentzündung starb. Sie wurde nur 41 Jahre alt. Die Nachricht ihres frühen Todes erschütterte die Mathematiker in ganz Europa.

Seit 1992 wird von der Russischen Akademie der Wissenschaften für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Mathematik der Kowalewskaja-Preis verliehen. Erste Preisträgerin war Olga Ladyschenskaja.

Women in Science (22) Williamina Fleming

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Im Jahr 1881 hatte der Direktor des Harvard Observatoriums, Edward Charles Pickering, ein Problem: die Menge an Daten, die im  Observatorium eintrafen, konnten von seinen Angestellten überhaupt nicht mehr analysiert werden. Außerdem hatte er ziemlich Zweifel an der Kompetenz seiner Mitarbeiter, insbesondere an der seines Assistenten, den er für ineffizient hielt beim Katalogisieren. Daraufhin tat Pickering etwas ziemlich ungewöhnliches: er feuerte seinen männlichen Assistenten und ersetzte ihn mit seinem Zimmermädchen, Williamina Fleming. Diese war ihm von seiner Frau wärmstens empfohlen worden und sie zeigte sich als derart begabt im Berechnen und Katalogisieren der Daten, dass sie 34 Jahre lang in Harvard arbeitete und eine der Gründerinnen der „Harvard Computers“, einer rein aus Frauen bestehenden Truppe, die angestellt war, um die mathematischen Berechnungen durchzuführen und die Veröffentlichungen des Observatoriums zu editieren. 1886 wurde Fleming Chefin dieser Truppe.

Williamina war die Frau aus Dana Sobels „The Glass Universe“, die den stärksten Eindruck auf mich machte. Mit ihr begann die Ära der Frauen – teilweise mehr als 80 – die während Pickerings Amtszeit in Harvard astronomische Daten berechneten und katalogisierten. Einige dieser Frauen produzierten eigene signifikante Arbeiten und waren durchaus berühmt in wissenschaftlichen Kreisen. Der Großteil blieb allerdings nicht individuell im Gedächtnis, sondern als Gruppe mit dem nicht sehr einfallsreichen Namen „Pickerings Harem“.

 

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Der dämliche Spitzname zeigt den Status, den Frauen zu dieser Zeit hatten. Von Ihnen wurde mit seltenen Ausnahmen erwartet, dass sie ihre Energie darauf verwenden, sich um den Gatten zu kümmern, Kinder zu bekommen und den Haushalt zu machen. Die Wissenschaft zu dieser Zeit warnte Frauen regelrecht davor, sich weiterzubilden und zu arbeiten in der Annahme, sie seien zu zart für den Stress.

Edward Pickering war ein fortschrittlicher, progressiver Denker – zumindest wenn es um gleiche Bildungsmöglichkeiten ging. Bei der Arbeitseinteilung war er dann doch wieder sehr Kind seiner Zeit, die Frauen wurden überwiegend für administrative Tätigkeiten eingesetzt.

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Die Arbeit war überwiegend sehr monoton. Die Frauen saßen sechs Tage in der Woche über Fotografien für 25 – 50 cent pro Stunde (etwa die Hälfte von dem, was ein Mann verdiente). Sie klassifizierten die Sterne, in dem sie sie mit den Fotografien im Katalog abglichen bzw. katalogisierten die Sterne selbst. Ihre Notizen wurden händisch in Tabellen eingetragen, in denen die genaue Ortsbezeichnung des Sternes angegeben wurde und die jeweilige Helligkeit. Das war eine ganz schöne Schinderei. Williamina notierte diesbezüglich in ihrem Tagebuch:

„In the Astrophotographic building of the Observatory, 12 women, including myself, are engaged in the care of the photographs…. From day to day my duties at the Observatory are so nearly alike that there will be little to describe outside ordinary routine work of measurement, examination of photographs, and of work involved in the reduction of these observations.“

Fleming startete als administrative Kraft und begann ab 1886 mit der Klassifikation von Sternen. „Sie ersann ein System zur Klassifizierung von Sternen und half, es einzuführen. Das System basierte darauf, jedem Stern einen Buchstaben zuzuordnen in Abhängigkeit davon, wie viel Wasserstoff in seinem Spektrum beobachtet werden konnte. A-Sterne hatten am meisten Wasserstoff, B-Sterne etwas weniger, und so weiter. Insgesamt gruppierte Fleming die Sterne in 17 Kategorien ein“ (Wikipedia)

1888 entdeckte sie den Horsehead Nebel auf einer Teleskop-Fotoplatte die William Pickering, der Bruder des Direktors, gemacht hatte. Doch in den darauffolgenden Publikationen wurde ihr Name nicht genannt. Der erste Dreyer Index Katalog ließ ihren Namen ebenfalls aus der Liste der Mitarbeiter heraus und schrieb all ihre Entdeckungen dem Direktor des Observatoriums zu. Im zweiten Katalog, der 1908 erschien, wurde Fleming aber gemeinsam mit ihren weiblichen Kolleginnen als Mitarbeiterinnen genannt und sie bekamen die ihnen zustehende Anerkennung.

Fleming war darüberhinaus die Entdeckerin des ersten weißen Zwerges. Sie veröffentlichte dazu 1910 ein wissenschaftliches Papier.

Williamina Fleming war eine glühende Befürworterin für mehr Frauen in der Wissenschaft und sie hielt 1893 auf der Weltausstellung in Chicago eine entsprechende Rede und forderte dazu auf, mehr Frauen als Astronomie-Assistentinnen zu engagieren. In ihrer Rede stimmt sie der vorherrschenden Meinung zunächst zu, dass Frauen Männern unterlegen sind, führt aber danach aus, dass Frauen, wenn sie mehr Möglichkeiten bekommen, durchaus mit den Männern gleichziehen können.

1906 wurde sie als erste Amerikanerin Ehrenmitglied der Royal Astronomical Society von London und kurz vor ihrem Tod 1906, ausgelöst durch eine Lungenentzündung, erhielt sie eine Medaille der Astronomischen Gesellschaft Mexikos.

Ein Wort zum Abschluß noch zu Dana Sobels „The Glass Universe“. Ich habe es als Audiobuch gehört und fand die Geschichte ungewöhnlich dröge. Wer – wie ich – ihre Bücher „Longitude“ oder „Galileo’s Daughter“ kennt, wird überrascht sein, wie wenig plastisch die Figuren rüberkommen, oft hatte ich das Gefühl jemand würde einfach nur Wikipedia-Einträge vorlesen. Das scheint auch nicht nur am Audiobook zu liegen, denn auf Goodreads fanden sich eine ganze Reihe Kritiken von Leuten, die das Buch gelesen haben, die ebenfalls die mangelnde Ausarbeitung der Figuren beklagten.

Ich werde sicherlich auch weiterhin Bücher von Dana Sobel lesen (habe zum Beispiel „The Planets“ noch hier liegen) aber was „The Glass Universe“ angeht, würde ich raten vielleicht vorher reinzulesen.

Ich verspreche auch die Astronominnen jetzt eine Weile pausieren zu lassen, die haben sich doch etwas gehäuft in letzter Zeit. Der nächste Beitrag wird vermutlich ein Ausflug in die Mathematik mit sich bringen.

Women in Science (21) Maria Mitchell

„We have a hunger of the mind which asks for knowledge of all around us, and the more we gain, the more is our desire,”

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Die bahnbrechende Astronomin und Sklavereigegnerin Maria Mitchell (1818 – 1889) war eine der ersten amerikanischen Wissenschaftlerinnen, die es schon zu Lebzeiten zu relativ großer Berühmtheit brachte.

Sie wuchs in den ersten Tagen des Liberalismus auf, als Sozialreformer zwar begannen, sich darum zu bemühen, den Armen zu helfen, in der aber nach wie vor mehr als die Hälfte der Bevölkerung – Frauen und People of Color – weder wählen, noch Eigentum besitzen oder höhere Schulbildung genießen konnten. Dieser Tatsache war Maria Mitchell sich ein Leben lang stets bewusst und es schmerzte sie zu sehen, wie der intellektuelle und kreative Hunger so vieler Menschen unterdrückt wurde.

Maria Mitchell wurde in Nantucket, Massachusetts in eine Quäker-Familie hineingeboren. Einer der Grundsätze der Quäker beruht in der intellektuellen Gleichstellung von Männern und Frauen und Maria erhielt daher die gleiche Schulbildung wie die Jungen in ihrem Umfeld. Ihr Vater war ein hingebungsvoller Lehrer, der früh ihr Interesse an Mathematik und Astronomie erkannte. Überhaupt war Nantucket ein Ort, in dem Frauen ein recht unabhängiges Leben führten, wahrscheinlich auch der Tatsache geschuldet, dass der Ort überwiegend vom Walfang lebte und die Männer oft monatelang auf See waren, so dass die Frauen sich selbständig um die Dinge des Alltags kümmerten.

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Mit 12 Jahren berechnete Maria gemeinsam mit ihrem Vater die bevorstehende Sonnenfinsternis. 1835 öffnete sie ihre eigene Schule und ließ auch nicht-weiße Kinder am Unterricht teilnehmen, eine kontroverse Entscheidung, die für einige Diskussionen sorgte. Ein Jahr später wurde ihr der Job als Bibliothekarin im Nantucket Atheneum angeboten, ein Job, den sie über 20 Jahre lang behalten sollte.

Mitchell war die erste Frau, die die Goldmedaille gewann, die der dänische König Frederick ausgelobt hatte, für alle die, die Kometen entdeckten, die mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen sind.  Insgesamt war sie nach Caroline Herschel und Maria Margarethe Kirch die dritte Frau überhaupt, die einen Kometen entdeckte. Ihre Entdeckung verhalf der amerikanischen Astronomie zu größerer Bedeutung, die bis dahin von den europäischen Astronomen eher belächelt wurde.

“In my younger days, when I was pained by the half-educated, loose and inaccurate ways women had, I used to say, „How much women need exact science“. But since I have known some workers in science, I have now said, „How much science needs women.”

Ab 1865 begann sie im Vassar College zu unterrichten. Sie fing an Sonnenflecken zu beobachten und ab 1873 mit ihren Studentinnen täglich Fotografien von der Sonne anzufertigen. Es war die erste systematische Untersuchung der Sonne überhaupt.

Mit Mitte 40 machte Maria Mitchell eine Reise durch Europa, wo sie die berühmtesten Wissenschaftler und Künstler der alten Welt besuchte. Bei ihrer Rückkehr erwartete sie das für sie größte Geschenk: In einer der ersten Crowdfunding-Kampagnen überhaupt wurde Geld für sie gesammelt, um ihr ein Teleskop mit 12 cm Durchmesser zu schenken.

Foto: Brainpickings

Sie hatte schon während ihrer Europa-Tour von einem eigenen Observatorium geträumt und das Teleskop war eine phantastische Überraschung für sie. Hinter der ehemaligen Schule ihres Vaters errichtete sie eine Kuppel mit knapp 3,5 m Durchmesser.

Privat war sie mit Nathaniel Hawthorne, Ralph Waldo Emerson, Herman Melville, Frederick Douglass und Sojourner Truth befreundet. 1888 begab sie sich in den Ruhestand und starb nur ein Jahr später mit 70 Jahren an einer Gehirnerkrankung.

Das Observatorium in Nantucket ist nach ihr benannt und sie bleibt weiterhin eine der bekanntesten und bahnbrechensten Astronominnen der USA.

Wer mehr über diese faszinierende Frau erfahren möchte, Maria Popova  schreibt ausführlich über Maria Mitchell in ihrem Buch „Figuring

Women in Science (20) Maria Sibylla Merian

Als ich diese Reihe begann hätte ich niemals damit gerechnet, wie schwierig es ist unter meinen Blogger-Kolleginnen und Kollegen Mitstreiter für diese Reihe zu finden. Um so mehr freue ich mich, mit Birgit von Sätze und Schätze eine „Wiederholungstäterin“ zu haben, die auch schon bei den „Women in SciFi“ dabei war. Heute stellt sie uns eine sehr spannende Frau vor, die aufgrund ihrer genauen Beobachtungen und Darstellungen zur Metamorphose der Schmetterlinge sie als wichtige Wegbereiterin der modernen Insektenkunde gilt. Vorhang auf für

Maria Sibylla Merian – Die Frau der Metamorphosen

Surinam! Schon der Name klingt wie eine exotische Verheißung. Zwar steht das kleinste unabhängige Land Südamerikas nicht auf der Top Ten der Reiseländer, doch ist es für Touristen inzwischen relativ bequem zu besuchen. Doch was bewegte im Jahre 1699 eine Frau, die sich von Amsterdam zu einer nicht ungefährlichen Seereise aufmachte, dazu, die Strapazen und Gefahren solch eines Unternehmens auf sich zu nehmen? Es war, um es kurz zu machen, der reine Forschungstrieb.

Der Aufenthalt in der niederländischen Kolonie Surinam, den sie wegen gesundheitlicher Beschwerden 1701 vorzeitig beenden musste, das war sicher das größte Abenteuer im Leben der Maria Sibylla Merian, die aber auch sonst nicht über mangelnde Beschäftigung und Abwechslung klagen konnte. Mit der erstmaligen Erforschung der Flora und Fauna Surinams war die gebürtige Frankfurterin im Grunde die Wegbereiterin für Alexander von Humboldt und andere, die naturwissenschaftliches Interesse nach Südamerika zog.

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Welche Bedeutung die Forscherin heute noch für das kleine Land hat, zeigt sich das Geschenk, dass die Niederlande der ehemaligen Kolonie 1975 zur Unabhängigkeit machte: Surinam erhielt eine der raren Originalausgaben der „Metamorphosis insectorum Surinamensium“. Das opulente Werk mit Kupferstichen und Texten, das als Folioausgabe erschien und von Merian zum Teil handkoloriert wurde, gilt als ihr Hauptwerk, die wenigen erhaltenen Originalbände sind inzwischen bibliophile Kostbarkeiten.

Wer aber war diese Frau, die sich wegen einiger Insekten und Raupen, um es salopp auszudrücken, in solche Abenteuer stürzte?

Maria Sibylla Merian wird am 2. April 1647 in Frankfurt geboren. Sie stammt aus der berühmten Verlegerfamilie, jedoch aus der zweiten Ehe von Matthäus Merian dem Älteren. Der Vater stirbt bereits drei Jahre nach ihrer Geburt, die Mutter heiratet erneut, den Maler Jacob Marrel. Die künstlerische Ader ist ihr bereits als Talent schon durch die väterliche Familienseite mitgegeben, der Stiefvater wird dieses Talent fördern und ihr den Weg für ihre spätere berufliche Karriere bereiten.

Der Name Merian nutzt der kleinen Familie zunächst wenig: Maria Sibyllas Halbbrüder übernehmen die Verlagsgeschäfte, die Stiefmutter, nun verwitwet, wird gemieden und finanziell abgespeist. Maria Sibylla geht also schon in frühen Jahren beim Stiefvater Marrel sozusagen in die Lehre, arbeitet in dessen Atelier – oder besser Kunstwerkstatt – mit. Nichts Ungewöhnliches zu dieser Zeit, wie die Merian-Biographin Barbara Beuys hervorhebt:

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„Zu sehr hat das 19. Jahrhundert, als Bürgertöchter keinen Beruf erlernen durften, weil standesgemäßes Frauenleben sich nur mit Kindern, am Herd und im häuslichen Salon abspielte, den Blick dafür verstellte, dass in ferneren Epochen Gleichberechtigung Realität war – bei Handwerkern wie bei Kaufleuten. (…) Die mittelalterliche Stadt hatte die Frau aus der Vormundschaft ihrer Verwandten und ihres Mannes befreit; sie wurde eine Person eigenen Rechts und war geschäftsfähig. Finster dagegen war die moderne Zeit.“

Diese hohe Selbständigkeit und Unabhängigkeit wird sich Maria Sibylla Merian auch im weiteren Lauf ihres ungewöhnlichen Lebens bewahren. Von ihrer Herkunftsfamilie bekommt sie dafür das nötige Rüstzeug mit: Neben ihrem künstlerischen Talent die entsprechende Ausbildung und kaufmännisches Geschick. Später wird sie dies als Verlegerin ihrer Werke – heute wäre sie „Selfpublisherin“ – gut gebrauchen. Neben der künstlerischen Ader ist die junge Merian jedoch auch noch von einer anderen Eigenschaft geprägt: Einer unbändigen Neugier auf alles, was kreucht und fleucht.

Aus den wenigen Quellen geht nicht eindeutig hervor, warum sich die 13-jährige plötzlich mit Seidenraupen beschäftigte – ein doch etwas ungewöhnliches Hobby zu jener Zeit. Barbara Beuys, die 2016 ihre ebenso kenntnisreiche wie unterhaltsame Merian-Biographie veröffentlichte, verweist auf den damals gängigen Handel mit Seide und Seidenraupen, der Bruder von Merians Stiefvater ist ebenfalls in diesem Metier tätig. Im Vorwort zu ihrem Surinam-Buch schreibt sie:

„Ich habe mich von Jugend an mit der Erforschung der Insekten beschäftigt. Zunächst begann ich mit Seidenraupen in meiner Geburtsstadt Frankfurt am Main. Danach stellte ich fest, dass sich aus anderen Raupenarten viel schönere Tag- und Eulenfalter entwickelten als aus Seidenraupen. Das veranlasste mich, alle Raupenarten zu sammeln, die ich finden konnte, um ihre Verwandlung zu beobachten. Ich entzog mich deshalb aller menschlichen Gesellschaft und beschäftigte mich mit diesen Untersuchungen.“

Woher auch immer das Interesse kam, „das junge Mädchen füttert in einer Spanschachtel, die geschlossen, aber mit Luftlöchern versehen ist, über Tage und Wochen eine Seidenraupe. Es beobachtet, wie das Tier mit dem Spinnen des Seidenfadens beginnt und nach acht Tagen von einem festen Seidenkokon umgeben ist.“ Es ist der Beginn einer Karriere, die Maria Sibylla Merian in den Rang einer der wegweisenden Insektenforscherinnen erheben wird, auch wenn sie manchmal einseitig nur als „Künstlerin“ wahrgenommen wird. Tatsache aber ist, dass sie durch ihre jahrzehntelange Beobachtung und Protokollierung der Entwicklung von Raupen, deren Nahrungsgewohnheiten, deren Entwicklungsstadien usw., die Grundlagen für die moderne Insektenforschung mitbestimmte. Barbara Beuys betont:

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„Forschung und Kunst, Kunst und Forschung sind bei Maria Sibylla Merian nach ihrer eigenen Auskunft von Anfang an eine ausgewogene Partnerschaft eingegangen. Es gab keinen Bruch. Sie war nicht hin- und hergerissen, sondern führte die beiden Begabungen auf ideale Weise zusammen.“

1665 heiratet Maria Sibylla den Maler Johann Andreas Graff, ebenfalls ein Schüler ihres Vaters. Das Paar bekommt zwei Töchter, die das naturwissenschaftliche Interesse der Mutter später teilen, sie in ihrer Arbeit unterstützen und das Ganze zu einem Familienunternehmen ausbauen. Doch zunächst ist ein Ortswechsel angezeigt: 1670 zieht die Familie nach Nürnberg, wo die junge Frau durch Zeichenunterricht und den Handel mit Malutensilien zum Lebensunterhalt der Familie beiträgt. In Nürnberg entstehen zudem ihre ersten Bücher. Das „Neue Blumenbuch“, ein Musterbuch für stickende Damen, und das zweiteilige „Raupenbuch“. Es muss recht eigenartig ausgesehen haben in diesem Haushalt: Neben den Handwerksutensilien der Maler standen wohl allerorten Schachteln mit Raupen und es konnte, wie Barbara Beuys hinweist, durchaus geschehen, dass die Hausfrau beim Bearbeiten von Geflügel mehr Interesse für Maden aufbrachte, die sie im Inneren der Vögel fand, als für die Zubereitung des Mittagessens.

Painted portrait of Maria Sibylla Merian

Foto: Wikipedia

Daran ist die Ehe wohl nicht gescheitert – die eigentlichen Gründe dafür werden für immer im Dunkeln bleiben. Allerdings ist das Geschehen, wie Briefzeugnisse zeigen, vor allem für Johann Andreas Graff dramatisch: Nach zwanzig Jahren Ehe beschließt die Merian, gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren Töchtern in eine urchristliche Kolonie im niederländischen Friesland zu ziehen. Was Barbara Beuys über das Leben der Labadisten schreibt, erinnert an strenges, engherziges Sektierertum – dennoch aber scheint Maria Sibylla Merian hier den nötigen Abstand und die Ruhe für ihre Arbeiten zu finden. 1692 wird die Ehe geschieden.

1691 zieht sie nach Amsterdam, damals das Tor zur Welt. Es gelingt ihr auch dort wieder, ein eigenes Leben, eigene Geschäftstätigkeit und Beziehungen aufzubauen. Mit ihrem anschließenden Umzug nach Amsterdam habe sich Merian wiederum „genau die internationalen Kontakte“ gesucht, die sie für ihre weitere Forschungsarbeit benötigt habe, meint Barbara Beuys:

„Amsterdam war damals die Weltmetropole. Dort kamen Schiffe an aus aller Welt, mit exotischen Gewürzen aber auch Pflanzen und Tieren. Und dort ist sie ein- und ausgegangen bei den Gelehrten, sie war befreundet mit dem Bürgermeister, auch das in damaliger Zeit kein Problem.“ 

Und vielleicht trieb sie auch dabei die Neugier auf ein fernes Land namens Surinam an: Denn die frühpietistische niederländische Sekte, der sie angehörte, war eng mit dem Gouverneur von Surinam verbunden, schon in Friesland muss sie viel über die Kolonie erfahren haben. Dennoch: Von der Neugierde bis zur selbstfinanzierten Forschungsreise ohne männlichen Begleitschutz ist es ein weiter Weg. Das ganze Vorhaben war seinerzeit die reinste Sensation, viele Freunde rieten der Merian von der Reise ab. Ohne Erfolg: 1699 schiffte sie sich ein.

Zwar von der Malaria und anderen Krankheiten geschwächt nahm die Forscherin nach ihrer Rückkehr zu den Grachten 1701 ihr geschäftiges Leben wieder auf. Auch nach einem Schlaganfall arbeitete sie noch bis zu ihrem Tod 1717 trotz der körperlichen Einschränkungen weiter. Zumal ihr auch nichts anderes übrig blieb: Trotz ihrer guten Kontakte und vielfältigen Beziehungen, trotz ihres Handels mit Malutensilien und dem Verkauf ihrer Bilder und Präparate sowie anderer geschäftlicher Unternehmungen: Maria Sibylla Merian verstarb unvermögend. Viel Geld wird in die von ihr mit viel Aufwand und Liebe zum Detail erstellten Bücher geflossen sein.

Und gerade deshalb, weil sie sich diese Neugier an einem bis dahin unbeachteten Element der Natur – Insekten waren für die Forscher jener Zeit kein bemerkenswerter Gegenstand – von ihren Mädchenjahren bis ins hohe Alter bewahrte, weil sie sich von der Lust an der Erkenntnis leiten ließ, gerade deshalb kann man von einem erfüllten Leben sprechen. Barbara Beuys schreibt:

„Was von Maria Sibylla Merian bleibt, ist das Bild einer Persönlichkeit, deren Leben trotz der selbstgewählten Umbrüche und inmitten des dramatischen Übergangs von mittelalterlichen Gewissheiten in eine moderne, ungewisse Zeit, gelassen und beständig verlief. Maria Sibylla Merian behauptet sich neben ihren eindrucksvollen Büchern als eine Frau, die verwirklichte, was sie früh als ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten erkannte. Die mit konzentriertem Ernst und Ehrgeiz bei der Sache war.“

 

Women in Science (19) Siri Hustvedt

„Ich liebe Kunst, Geistes- und Naturwissenschaften. Ich bin Schriftstellerin und Feministin“

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Wenn Gefühle auf Worte treffen

Siri Hustvedt fing sich ihren Schreibvirus mit 13 Jahren ein. Ihr Vater, ein Professor für Norwegisch-Amerikanische Geschichte, nahm seine Frau und die vier Töchter mit nach Reykjavík, wo er die isländischen Sagen studierte. Dort konnte sie wegen der fehlenden Dunkelheit im Sommer und dem Jetlag nicht schlafen und begann, angeregt durch die intensive Lektüre von Klassikern wie „Der Graf von Montechristo“ oder „David Copperfield“, mit dem Schreiben.

Wenn es das ist, was Bücher machen können, dann ist es das, was ich machen will“

Und das hat sie dann auch getan. Insgesamt gibt es 7 Romane, einen Gedichtband, 6 Sachbücher zu ihren Spezialgebieten Kunst und Neurologie sowie diverse Veröffentlichungen, unter anderem in neurologischen Fachzeitschriften.

Was mich von jeher an Siri Hustvedt faszinierte, ist neben ihrem glühenden Intellekt ihre Begeisterung sowohl für naturwissenschaftliche Themen als auch für geisteswissenschaftliche, denn diese Verbindung ist nach wie vor viel zu selten. Sie sucht stets das Verbindende und beleuchtet jedes Thema aus den unterschiedlichsten Perspektiven. Sie sucht nicht nach Gewissheiten, sondern fühlt sich gerade wohl in den Zwischenbereichen, in den sowohl-als-auch-Momenten.

In dem Gespräch mit der Literaturwissenschaftlerin und Professorin für Anglistik an der Universität Zürich, Elisabeth Bronfen, spricht Siri Hustvedt über ihre Anfänge, ihre Zeit in New York, ihr Engagement für den Feminismus, den Zauber der Malerei, über das magische Reich der Fiktion, über das verwundete Selbst und ihr Engagement für eine Kultur der Sorgsamkeit im politischen Handeln.

Hustvedt hat ihr Leben lang daran gearbeitet, sich als intellektuelle Schriftstellerin in einer von Männern dominierten Welt zu behaupten. Im Gespräch mit Elisabeth Bronfen erzählt sie, warum man Autoren nicht trauen kann und wie sehr sie sich der Zeit bewusst wird, die ihr davon zu laufen scheint, wo sie doch noch so unglaublich viele Pläne hat wie, z.B. ein philosophisches Buch zu schreiben oder ihre diversen Essays zu kuratieren und in einem Band herauszugeben.

Ihren Tag beginnt sie üblicherweise sehr früh und sitzt nach einer Meditationseinheit in der Regel schon gegen 7 Uhr am Schreibtisch. Den Nachmittag verbringt sie meist lesend, in der Regel liest sie wissenschaftliche Papiere, die die Basis ihrer vielen Vorträge bilden, die sie zu Neurologie und Psychologie weltweit hält.

Sie ist seit 38 Jahren mit Paul Auster verheiratet und sie lesen einander noch immer nahezu täglich vor. Beide lieben Märchen, genauso wie ihre Tochter Sophie, die als Singer-Songwriterin relativ berühmt ist. Es gibt sicherlich noch andere Schriftsteller-Ehepaare, aber die wenigsten sind so lange zusammen wie Siri Hustvedt und Paul Auster.

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Siri  Hustvedt hatte wie die meisten Schriftstellerinnen häufig mit Vorurteilen zu kämpfen. Sie hat einen Doktor in Literaturwissenschaft, hat kürzlich die Ehrendoktorwürde der Universität Oslo erhalten, hat Artikel im European Journal of Epilepsy, Neurophychoanalysis, and Clinical Neurophysiologie veröffentlicht, ist Dozentin am Dewitt Wallace Institut für Psychiatrie an der Cornell Universität und erhielt 2012 den International Gabarron Prize for Thought and Humanities, aber immer wieder wollen Journalisten ihr erklären, ihr Mann habe ihr Neurowissenschaft oder Psychologie „beigebracht“.

„… Ich erzählte ihm, mein Mann wisse nicht viel darüber (Neurowissenschaft und Psychologie), weder über das eine noch über das andere. Paul habe etwas Freud gelesen, sich aber nie in die Pychoanalyse vertieft wie ich, und nie einen einzigen neurowissenchaftlichen Aufsatz angerührt. Der Journalist war schockiert. Ihm fiel der Unterkiefer runter. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen wie er meine Lernbegierde als direkten Angriff auf den Status meines Ehemannes empfinden. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft man mir ihn als großen Kenner von Jacques Lacan angepriesen hat. ..“

Das Interview von Hustvedt mit Elisabeth Bronfen ist das Gespräch zweier Universalgelehrter, die ein immens großes Interesse und Wissen haben. Die beiden wirken wie die Gelehrten des 18. Jahrhunderts, die zufällig Frauen des 21. Jahrhunderts sind. Solche Universalgelehrten gibt es heute leider nicht mehr so häufig.

Ich konnte diesen Interviewband überhaupt nicht aus der Hand legen. Ich fand das Gespräch so spannend und anregend, habe seitenweise unterstrichen, Sätze rausgeschrieben, Namen nachgeschlagen.

Egal wie viel man von Hustvedt schon gelesen hat, dieses Buch gibt einen spannenden Einblick in das stets brodelnde Hirn einer faszinierten Gelehrten, die eine großartige Bereicherin für die „Women in Science“-Reihe ist.

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The Shaking Woman – A History of My Nerves

Als Siri Hustvedts Vater stirbt, hielt sie die Grabrede auf seiner Beerdigung mit fester Stimme und ohne Tränen. Zweieinhalb Jahre später, als sie bei einem Vortrag vor einem College-Publikum wieder auf ihren Vater zu sprechen kommt, fängt sie plötzlich an, unkontrollierbar vom Genick abwärts zu zittern, so heftig, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Ihre Sprache war von diesem Anfall gänzlich unberührt und sie konnte den Vortrag unter Zittern weiterführen, ihre Mutter, die im Publikum saß, fühlte sich schrecklich an Hinrichtung auf einem elektrischen Stuhl erinnert.

In „The Shaking Woman – A history of my nerves“ versucht sie herauszufinden, wer diese zitternde Frau ist und woher ihre Symptome kommen könnten. Es ist eine persönliche Suche, eine philosophische Ermittlung, die auch in Augenschein nimmt, wie sich sowohl die Psychiatrie als auch die Neurologie in den letzten zwei Jahrhunderten entwickelt hat.

Kann ihr Zittern auf eine anatomische Ursache zurückgeführt werden oder ist diese abstrakter, weniger fassbar? Sie unterzieht sich Gehirnscans, die nichts aufzeigen, begibt sich in eine Psychoanalyse, die sie als Thema ohnehin schon lange fasziniert. Wie hätten Ärzte im Laufe der Jahrhunderte ihre Symptome klassifiziert?

Im 19. Jahrhundert wäre ihr wahrscheinlich Hysterie attestiert worden, im 20. Jahrhundert eher eine dissoziative Störung – eine Störung, die ihre Ursache im Bewußtsein hat, sich aber im Körper manifestiert. Unter Stress werden manche Menschen depressiv, andere brechen zusammen.

Macht es eigentlich Sinn, Erkrankungen als entweder psychisch oder körperlich zu klassifizieren? Welchen Einfluß hat Physiologie auf die Persönlichkeit? Wo beginnt das Selbst und wo endet es? Was ist Schmerz und kann man es vom Körper trennen, der ihn erleidet oder vom kulturellen Kontext in dem er stattfindet? Auf diesem verflochtenen Gebiet fühlt Siri Hustvedt sich durchaus wohl, da wo einfache oder singuläre Erklärungen nicht einmal ansatzweise ausreichen.

Hustvedt gelingt es, den Leser bei dieser anspruchsvollen Suche bei der Stange zu halten, ihre Untersuchungen von Geist und Körper und ihre glasklare Intelligenz fräsen sich durch Unmengen an interdisziplinärem Material. Ihr Referenzrahmen ist weit und sie nimmt sich mehr Zeit für Freud, als das heutige Wissenschaftler üblicherweise noch tun. Wenn Teile einer Theorie nicht perfekt sind, bedeutet das noch lange nicht, dass die gesamte Theorie falsch ist. Es ist sicherlich menschlich, allem einen Namen geben zu wollen, es einteilen und klassifizieren zu wollen, aber durch die Klassifizierung verweigern wir den Dingen teilweise ihre Komplexität.

„Science needs to be rigorous in defining a field of study, or evidence will be worthless; at the same time, there are disciplinary windows that narrow the view. Knowledge does not always accumulate; it also gets lost.“

Das Buch hat keine Kapitel und die haben mir ein wenig gefehlt, ich hätte gerne etwas mehr Struktur begrüßt. Ich nehme an, es war eine bewußte Entscheidung das Buch nicht in Kapitel aufzuteilen, denn wie Hustvedt abschließend bemerkt, Menschen leben ihr Leben auch nicht in sorgfältig sortierten Boxen, sondern eher total unorganisiert. Ein Neuronenfunke genügt und wir schalten vom Verstand auf Emotion um und innerhalb von Sekunden wieder zurück, wieder und wieder.

Wer Oliver Sacks gerne liest, wird an diesem Buch Spaß haben, denn wie er schafft sie es hervorragend, Wissenschaft und Empathie miteinander zu verbinden.

Lust auf mehr Siri? Hier findet ihr die Rezension zu ihrem Roman „The blazing world“ und hier einen Artikel über einen Abend mit ihr im Münchner Haus der Kunst wo sie einen Vortrag zu Louise Bourgeois hielt.

„The shaking woman – a history of my nerves“ erschien unter dem Titel „Die zitternde Frau – eine Geschichte meiner Nerven“ im Rowohlt Verlag.

Ich bedanke mich beim Kampa Verlag für das Rezensionsexemplar von „Wenn Gefühle auf Worte treffen“.

Women in Science (18) Cordelia Fine

Geschlechterdiskriminierung möchten uns viele glauben machen, ist ja ein Ding der Vergangenheit. Heute ist ja alles absolut ausgeglichen und wenn Mädchen Prinzessinnen werden wollen und Jungs sich beim Spielen dreckig machen, dann ist das halt biologisch schon so vorgesehen, das sind halt die unveränderlichen Unterschiede zwischen dem weiblichen und dem männlichen Gehirn. Jede Menge Artikel erscheinen auch heute noch, die wissenschaftlich erklären wollen, warum es so wenig Frauen in der Naturwissenschaft oder in technischen Berufen gibt.

Cordelia Fine ist eine kanadisch-britische Wissenschaftsautorin, Forscherin und Journalistin. 2001 promovierte Fine im Fach Psychologie am Institut für kognitive Neurowissenschaften des University College London. Sie ist Research Associate im Centre for Value, Agency & Ethics der Macquarie University in Australien und Ehrenmitglied in der Fakultät der psychologischen Wissenschaften der Universität Melbourne.

Basierend auf neuesten Forschungsergebnissen aus der Entwicklungspsychologie, den Neurowissenschaften und der sozialen Psychologie, räumt Cordelia Fine mit diesen Mythen auf und zeigt, wie hier alter Wein in neue angeblich wissenschaftliche Schläuche gefüllt wurde, um den geschlechterdiskriminierenden Status Quo zu erhalten.

Fines Buch bietet eine Fülle an spannenden Informationen, besonders spannend fand ich diesen Punkt:

Wir haben wahrscheinlich alle (mehrfach) die folgende Geschichte gehört: „Ich wollte meine Kinder wirklich geschlechtsneutral erziehen, aber an einem bestimmten Punkt hat der Bub einfach ganz natürlich angefangen, mit den Autos zu spielen und die Mädchen haben sich in rosafarbene Prinzessinnen verwandelt. Obwohl ich doch alles dafür getan habe, dass die Mädchen Autos spielen und die Jungs mit Puppen. Das muss also biologisch sein, an meiner Erziehung lag es jeden Falls nicht.“ Dieses Phänomen ist unter Soziologen als „biology as fallback“ bekannt.

„The frustration of the naively nonsexist parent has become a staple joke. An all but obligatory paragraph in contemporary books and articles about hardwired gender differences gleefully describes a parent’s valiant, but always comically hopeless, attempts at gender-neutral parenting“

Fine berichtet dann über über das Experiment von Sandra und Daryl Bem (Bem Sex-role inventory), die in den 1970er versuchten, Kinder geschlechtsneutral zu erziehen – und was sie dabei alles beachten mussten. Sie bearbeiteten sämtliche Kinderbücher, in dem sie Bärte wegretuschierten, die Haarlänge anglichen und Brüste hinzufügten oder übermalten (übrigens selbst heute ist sind Männer mit einer Ratio von 2:1 gegenüber Frauen repräsentiert). Sie überarbeiteten die Texte die Männer und Frauen in geschlechterspezifischen Stereotypen beschrieben und so weiter und so fort.

Foto: Wikipedia

Das zeigt, wie schwer es ist, ein Kind geschlechterneutral erziehen zu wollen. Fine erklärt, dass die Vergeschlechtlichung (manchmal wünschte ich, ich hätte diesen Artikel auf Englisch geschrieben und könnte einfach gendern schreiben 😉 ) so omnipräsent in unserer Kultur vorhanden ist und unglaublich intensiv. Nicht einmal die Kinder der Bems konnten sich dem komplett entziehen. Und Kinder reagieren unglaublich sensibel auf die unterschiedlichen Anleitungen, die sie bekommen, mit Blick darauf, wie sie sich ihrem Geschlecht entsprechend verhalten sollen.

Children randomly assigned at preschool to a ‘red’ group or a ‘blue’ group, and wearing the appropriate colored T-shirts to school each day, after three weeks, with no further reinforcement, will find themselves conforming to what they take to be the norms for their respective groups. One needs little imagination to see how much more intrusive the pressures on gender conformity will be, even if the parents are like the Bems.“

Fines Angriffsziel im Buch ist das, was sie mit „Neurosexismus“ bezeichnet – die Misinterpretation der modernen Neurowissenschaften, die bestehende Stereotypen bekräftigen und Diskriminierungen weiter aufrechterhalten. Frauen sind angeblich emphatischer, Männer analytischer, Frauen können nicht führen und Männer keine Kinder erziehen etc. etc.

Die Wurzeln dieser Überzeugungen finden sich aber nicht in inhärenten biologischen Limitationen, sondern in kulturellen Vorurteilen, in der Erziehung, der Bildung und darin, wie wir unsere Kinder prägen.

Wissenschaft existiert nicht in einem Vakuum. Fine zeigt jede Menge Fehler auf, in der grundlegenden Methodologie wie Experimente durchgeführt werden oder zeigt wilde Extrapolationen auf die auf dem Verhalten von Säuglingen basieren. Auch wenn Ergebnisse auf solidem Wege generiert wurden, werden die Interpretationen oft so hingebogen, wie man sie gerne hätte.

Cordelia Fine ist aber keine Dogmatin, sie akzeptiert, dass es medizinische Forschungsergebnisse gibt, die bestimmte biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen erkennen lassen (zum Beispiel im Vergleich von Lupus oder Haarausfall) aber es wäre völliger Unsinn zu behaupten, dass diese erkennbaren Unterschiede eine Basis bieten würden, um stereotypes Verhalten und gesellschaftliche Rollenverteilungen zu rechtfertigen.

Große Empfehlung für alle, die sich für Feminismus, Neurowissenschaften, Psychologie und Gender Studies interessieren.

Auf deutsch erschien das Buch unter dem Titel: „Die Geschlechterlüge: Die Macht der Vorurteile über Mann und Frau“ im Klett Cotta Verlag.

Women in Science (17) Lisa Randall

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Lisa Randall ist Professorin für theoretische Physik an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts.  Sie gilt als eine führende Expertin für Teilchenphysik, Stringtheorie und Kosmologie und ist bekannt für das Randall-Sundrum Modell und die darin erfolgte Einführung von Extradimensionen in die phänomenologische Teilchenphysik.

Allein die Einführung reichte um mir immens Respekt vor Ms Randall einzuflössen und meine Hoffnung, sie würde es mir mit „Knocking on Heavens Door“ in irgendeiner Weise einfach machen Zugang zur theoretischen Physik zu bekommen, flogen schon nach den ersten paar Kapiteln fröhlich aus dem Fenster. Die Harvard-Dozentin ist mittlerweile ein ziemlicher Star unter den theoretischen Physikern, insbesondere für ihre Forschung im Bereich Hochenergie Physik. Sie hat einen unglaublichen Enthusiasmus für ihr Feld und man möchte ihr einfach folgen und sich mit ihr an Themen wie dem Large Hadron Collider, der Suche nach dem Higgs Boson, bis hin zur  Theorie um das Geheimnis fehlender Antimaterie abzuarbeiten. Ihre Begeisterung kombiniert mit einem sehr angenehmen Schreibstil helfen enorm, wenn man sich auf das schwierige Terrain der Teilchenphysik begeben will.

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“Despite my resistance to hyperbole, the LHC belongs to a world that can only be described with superlatives. It is not merely large: the LHC is the biggest machine ever built. It is not merely cold: the 1.9 kelvin (1.9 degrees Celsius above absolute zero) temperature necessary for the LHC’s supercomputing magnets to operate is the coldest extended region that we know of in the universe—even colder than outer space. The magnetic field is not merely big: the superconducting dipole magnets generating a magnetic field more than 100,000 times stronger than the Earth’s are the strongest magnets in industrial production ever made.“

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And the extremes don’t end there. The vacuum inside the proton-containing tubes, a 10 trillionth of an atmosphere, is the most complete vacuum over the largest region ever produced. The energy of the collisions are the highest ever generated on Earth, allowing us to study the interactions that occurred in the early universe the furthest back in time.”

Mir gefiel das Kapitel, in dem sich sich ausgiebig mit der Skalierung beschäftigt – vom Universum zu den kleineren Atomen, zu den noch kleineren Protonen bis hin zu den Quarks. Ich fand es spannend, ich habe mich tapfer durchgekämpft, aber ehrlich gesagt hat Ms Randall mein Hirn mit einem derart hohen Datenstrom beschossen, dass die Teilchenphysik teilweise doch zur Antimaterie wurde und mein Hirn irgendwann einem schwarzen Loch glich.

Ich habe eine Menge gelernt, dass Neutrinos sich nicht den physikalischen Gesetzen unterwerfen und sich zumindest für kurze Zeit schneller als das Licht bewegen können, dass auf künftige Zeitreisen hoffende noch immer keinen Grund zum Jubeln haben und auch das Wissenschaftler jede Theorie – und sei es die eigene – immer wieder versuchen zu widerlegen, alles zu hinterfragen, bis eine Theorie nicht länger nur Theorie ist.

Aber ganz ehrlich „Knocking on Heaven’s Door“ war eine Spur zu heftig für mich – zu viel Physik, die ich mit meinem Erbsenhirn nicht meistern konnte. Das ist aber auf gar keinen Fall ein Grund dieses Buch nicht zu lesen. Wenn es jemand schaffen kann, Menschen für Physik zu begeistern und diese besser zu erklären, dann Lisa Randall und selbst wenn man nicht alles versteht, man wird definitiv mehr über die Welt und das Universum wissen als vorher. Ms Randall ist im Übrigen nicht nur wahnsinnig intelligent, witzig und ausgesprochen attraktiv, in ihrer Freizeit schreibt sie dann eben auch noch mal Opern. Nee, ist klar 😉

Auf deutsch erschien das Buch unter dem Titel: „Die Vermessung des Universums: Wie die Physik von Morgen den letzten Geheimnissen auf der Spur ist“ im S. Fischer Verlag.