Women in Science (24) Blattgeflüster – Hope Jahren

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Dieses Mal habe ich für Women in Science auf Esthers wunderbarem Blog „Esthers Bücher“ geklaut, da werde ich immer wieder einmal fündig, sei es für meine Women in SciFi als auch diese Reihe. Der geistige Diebstahl wurde abgesegnet und somit freue ich mich euch heute eine Geobiologin vorstellen zu dürfen:

Hope Jahren ist eine amerikanische Geobiologin, die in diesem Buch über Pflanzen und ihr eigenes Leben erzählt, wobei der biografische Teil überwiegt. Es ist also weniger ein Sachbuch über unsere Flora, obwohl das Buch alleine schon wegen den bildhaften Beschreibungen des pflanzlichen Lebens lesenswert ist. Viel eher ist es die ergreifende Geschichte einer Wissenschaftlerin, die sich in einer von Männern dominierten Welt behaupten muss.

Was ist aber Geobiologie? Hope Jahren buddelt oft in der Erde, sammelt Pflanzen und verbringt sehr sehr viel Zeit in ihrem Labor (Doppelschichten sind bei ihr die Norm!). Das beschreibt schon mal ganz gut die Tätigkeit eines Geobiologen. Diese Wissenschaft ist nämlich „eine interdisziplinäre Forschungsrichtung, die die Methodiken der Geowissenschaften i. w. S. und der Biologie miteinander verknüpft, um Wechselwirkungen zwischen Biosphäre einerseits und Lithosphäre, Erdatmosphäre und Hydrosphäre andererseits zu erkunden“. (Wikipedia) Dabei folgt Jahren ihrer eigenen Methode, die in dieser Disziplin eher selten ist: Sie versucht die Logik der Pflanzen zu verstehen, und daraus Schlüsse zu ziehen. Für sie sind Bäume nicht einfach nur Bäume, sondern Lebewesen, die immer einen trifftigen Grund dafür haben, was sie gerade tun.

Ich versuchte, mir eine neue Umweltwissenschaft auszumalen, die nicht auf einer Welt der Menschen basierte, in der eben auch ein paar Pflanzen lebten, sondern auf einer Welt der Pflanzen, in der auch ein paar Menschen herumspazierten.

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Es ist nicht einfach, in der Männerdomäne der Naturwissenschaften sich als Frau einen Namen zu machen, das muss Hope Jahren immer wieder erfahren. Dass sie für ihre Forschung dann auch noch einen Weg wählt, der völlig ungewohnt ist, hilft ihr dabei nicht unbedingt. Ständige Geldprobleme machen es schwer, ihr Labor aufzubauen und ihre Kollegen zu bezahlen. Und als würden sich nicht bereits genug Hindernisse ihr in den Weg legen, muss sie auch mit einer Angststörung und den Auswirkungen ihrer manischen Depression kämpfen.

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All das scheint sie aber nicht zu verlangsamen, im Gegenteil. Sie arbeitet bis heute, wo sie bereits eine etablierte und mehrfach ausgezeichnete Wissenschaftlerin ist, Tag und Nacht. Das liegt sicherlich auch an ihrer medizinischen Kondition, aber auch an ihrem unbändigen Interesse am pflanzlichen Leben. Stets an ihrer Seite ist Bill, der im Buch ohne Nachnamen erwähnt wird, nach kurzer Recherche weiß man aber, dass es sich dabei um Bill Hagopian handelt. Bills Figur ist mindestens so faaszinierend, wie die von Hope Jahren. Er ist ein Einzelgänger, der in seiner Jugend im Garten seiner Eltern ein Loch gebuddelt und dort gelebt hat. Er liebt es nun mal, in der Erde zu graben. Er folgt Jahren überall hin, auch wenn seine Existenz meistens nicht gesichert ist. Denn während Jahren als Professorin immer über ein Gehalt von ihrer jeweiligen Universität erhält, muss Bill aus anderen, oft nicht vorhandenen oder sehr spärlichen Mitteln bezahlt werden. Das führt dazu, dass er teilweise kein Dach über dem Kopf hat und in seinem Auto oder verbotenerweise im Labor übernachten muss.

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Hope Jahren und Bill Hagopian. Foto: Gunhild M . Haugnes/UiO. Lizenz: CC BY 4.0

Bill ist es, der immer in der Lage ist, Jahren zu beruhigen, oder sie immer wieder zu motivieren, wenn sie aufgeben würde. Und Hope Jahren lernt nach und nach, was dazu notwendig ist, ihr Forscherteam nicht nur am Leben zu erhalten, sondern auch zum Erfolg zu führen. Man bekommt das Gefühl, dass sie ohne einander verloren wären und es nie soweit geschafft hätten, wo sie heute sind.

Und diese fast schon symbiotische Beziehung ist in ihrer Welt der Pflanzen nicht unbekannt. Das Überleben für eine Pflanze ist keine Selbstverständlichkeit. Nur ein kleiner Bruchteil aller Samen wird irgendwann mal zu einem Sprössling. Und nur ein Bruchteil dieser Sprösslinge wird mal zu einer erwachsenen Pflanze. Dass eine Pflanze lange überlebt und sich sogar fortpflanzen kann, bedarf so vieler glücklicher Umstände, dass man sie kaum aufzählen kann. Diese Parallelen zwischen Pflanzen und der Lebensgeschichte ihrer Erforscherin sind leicht zu entdecken und ergeben sich aus der Struktur des Buches. Scheinbar vermischen sich pflanzenbezogene Kapitel wahllos mit biografischen, doch da steckt eine tiefere Logik dahinter.

Ein tolles Buch, das mir so viel mehr gegeben hat, als was ich erwartet habe. Ich war auf ein Buch über Pflanzen vorbereitet, und habe mich darauf gefreut, mehr über sie erfahren. Und diese Erwartung wurde auch nicht enttäuscht. Womit ich nicht gerechnet habe, war Hope Jahren mit ihren immer wieder neu aufgebauten Laboren und mit ihrer Leidenschaft (oder Besessenheit?). Aktuell bereitet sie ihr nächstes Buch vor, das im März 2020 unter dem Titel „The Story of More“ erscheinen soll. Ich freue mich schon darauf.

 

Meine Woche

23 Nov_____

Gesehen: „The Wings of the Dove“ (1997) von Iain Softley mit Helena Bonham Carter. Wunderschöne Henry-James-Verfilmung, die große Lust auf Venedig macht.

Jeder für sich und Gott gegen alle“ (1974) von Werner Herzog. Verfilmung des Kasper Hauser Mythos mit großartigen Bildern und tollem Soundtrack.

The Omen“ (1976) von Richard Donner mit Gregory Peck. Ein kleiner Junge der vom Teufel besessen ist und seine Eltern ins Unglück stürzt. Danach möchte man eher keine Kinder haben 😉

Lady Blue Shanghai“ (2010) von David Lynch mit Marion Cottilard. 15 minütiger Dior-Kurzfilm in typisch wunderbarer Lynch-Manie.

Gehört: „Einsjäger & Siebenjäger“ – Popul Vuh, „Electric“ – Boy Harsher, „Fairge“ – Claire M Singer, „Valentine“ – Haim, „Black Gold“ – Editors, „Hurt my heart“ – White Lies

Gelesen: The feminist history of Shakespeare & Co, The history of women’s terrible pockets, Why do people hate vegans?, Big Tech’s terrible diversity rate visualized in Logos, diesen Artikel über David Bowies Bücher, diesen Artikel über den Film „Porträt einer jungen Frau in Flammen“, diese Kurzgeschichte von Diana Athill

Getan: ein mexikanisches Dinner gekocht

Geplant: eine Weinprobe und den Bookclub besuchen

Gegessen: Linsensalat mit Edamame

Gefreut: über eine Virginia Woolf Büchersendung

Geweint: nein

Geklickt: What it’s like to live on the International Space Station, auf dieses Interview mit Kristen Stewart und auf die Hörbuch Fortsetzung von Orphan Black – The next chapter

Gestaunt: This Illustrated Periodic Table Shows How We Regularly Interact With Each Element

Geärgert: nein

Gelacht: Women Trying To Politely End Conversations With Men In Western Art History

Gewünscht: diese Notizbücher, dieses Outfit, diese Tassen

Gefunden: nix

Gekauft: 2 Hosen, 1 Paar Schuhe, 1 kleiner Wal, Teller von Motel a Miio

Gedacht: It is never too late to be what you might have been – George Sand

#WomeninSciFi (52) Planet der Frauen – Joanna Russ

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Das ist kein Buch für schwache Gemüter, für das Buch muss man echt ein bisschen arbeiten. Man muss höllisch aufpassen und sehr aufmerksam lesen. Wer hier eine stringente Science Fiction Geschichte erwartet, könnte enttäuscht werden. Es gibt einen Science-Fiction Rahmen, aber die Geschichte an sich ist eher eine Ansammlung ironischer Gedanken von Frauen aus verschiedenen Gesellschaften in unterschiedlichen Welten und zur unterschiedlichen Zeiten.

Daher würde ich das Buch wohl eher als eine teils satirische feministisch-philosophische Sozialstudie bezeichnen. Was es etwas schwierig macht reinzukommen ist, dass alle 4 Protagonistinnen einen Vornamen mit „J“ haben und jede von sich als „Ich“ spricht. Es dauert daher immer ein bisschen, bis man auf dem Schirm hat, wer jetzt gerade aktuell spricht.

Wenn die Protagonistinnen in eine jeweils andere Welt wechseln, verändern ihre jeweiligen Sichten auf die Geschlechterrollen ihre zuvor bestehenden Vorstellungen von der Rolle der Frau. Die Begegnungen beeinflussen sie dahingehend, dass sie ihr eigenes Leben reflektieren und sich Gedanken zu ihrer jeweiligen Rolle als Frau in der Gesellschaft machen.

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Eine der Frauen, Joanna, nennt sich selbst einen weiblichen Mann, weil sie sie glaubt, sie müsse ihre Identität als Frau vergessen, um anerkannt zu werden.

Planet der Frauen besteht aus mehreren unterschiedlichen Welten:

  • Joannas Welt: Joanna lebt in einer Welt, die der unserer Erde um die 1970er Jahre ähnelt.
  • Jeannine’s Welt: sie lebt in einer Welt, in der die amerikanische Weltwirtschaftskrise nie endete. Der 2. Weltkrieg fand nicht statt, da Hitler 1936 ermordet wurde.
  • Janets Welt (Whileaway): Janet lebt in einer Welt, die sich Whileaway nennt, eine utopische Gesellschaft in der fernen Zukunft, in der alle Männer vor 800 Jahren an einer geschlechtsspezifischen Krankheit gestorben sind. Die Frauen leben in lesbischen Beziehungen und begannen, sich durch Parthenogenese fortzupflanzen. Die Gesellschaft ist technologisch weit fortgeschritten, dennoch besteht der größte Teil der Wirtschaft aus Landwirtschaft.
  • Jael’s Welt: ist eine Dystopie, wo Männer und Frauen sich permanent in einem Geschlechterkampf befinden. Obwohl dieser Konflikt schon mehr als 40 Jahre andauert, betreiben beide Gesellschaften Handel miteinander. Frauen tauschen Kinder gegen Ressourcen. Um den Sexualtrieb der Männer befriedigen zu können, werden kleine Junge kosmetischen Operationen unterzogen, so dass sie wie Frauen aussehen.

Joanna Russ schrieb den Roman in den 1970er Jahren und die Protagonisten Joanna lebt in der Welt, die der ihren am ähnlichsten war.

Ich habe mich mit der Struktur des Romans etwas schwer getan und ich habe eine Weile gebraucht, bis ich drin war. Auch wenn der Roman ziemlich wütend wirkt, gibt es doch auch manche witzige Stelle.

Joanna Russ (1937 – 2011) war eine radikale Feministin, Autorin und Wissenschaftlerin. Sie unterrichtete an verschiedenen amerikanischen Universitäten und erhielt Ende der 1970er Jahre einen Lehrstuhl an der Washington University.

Sie veröffentlichte 6 Romane und über 50 Kurzgeschichten. Sie galt neben James Tiptree Jr als eine der einflussreichsten Science Fiction Autorinnen. 2013 wurde sie in die Science Fiction and Fantasy Hall of Fame aufgenommen.

Definitiv ein sehr interessanter Roman, der zu den Klassikern der feministischen Science Fiction Literatur gehört und bei dem es sich lohnt, dran zu bleiben und sich die Zeit zu nehmen, in die Geschichte hineinzufinden.

Vita Sackville-West

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Die Autorin, Dichterin und Garten-Designerin Vita Sackville-West wurde am Bekannstesten durch ihre Affäre und langjährige Freundschaft mit Virginia Woolf, die ihr wiederum mit dem Roman „Orlando“ ein einmaliges literarisches Denkmal setzte. Die Geschichte von Vitas Ehe mit Harold Nicolson ist eine Mischung aus Faszination und Fassungslosigkeit. In „Porträt einer Ehe“ kombiniert Vitas Sohn Nigel die Memoiren seiner Mutter, die er nach ihrem Tod in ihrem Arbeitszimmer fand, mit seinen eigenen Erinnerungen und dem, was er in zahllosen Briefen über die Ehe seiner Eltern erfuhr. Trotz Vitas zahlreicher Beziehungen und Affären mit verschiedenen Frauen und Haralds gelegentlichen kurzen Affären mit Männern, blieben die beiden bis zu ihrem Tode ein sich liebendes Ehepaar. Zwei Menschen, die häufig missverstanden wurden, aber stets zu faszinieren wußten.

Neben Virginia Woolf und Harold Nicolsen gab es noch eine weitere große Liebe in Vitas Leben: die zu ihrem Geburtsort Knole, einem riesigen Landhaus in Kent aus dem 16. und 17. Jahrhundert mit über 360 Räumen. Vita hätte Knole von ihrem Vater geerbt, wäre sie ein Mann gewesen, so allerdings ging es an ihren Onkel. Ein Verlust, den sie nie ganz überwinden sollte.

Knole,_Sevenoaks_in_Kent_-_March_2009Knole Country House Foto: Wikipedia

Im Jahr 1918, als Vita 26 Jahre alt war, hatte sie eine Beziehung mit Violet Trefusis, die ihr in einem Brief schrieb:

Give me great glaring vices, and great glaring virtue… be wicked, be brave, be drunk, be reckless, be dissolute, be despotic, be an anarchist, be a suffragette, be anything you like, but for pity’s sake be it to the top of your bent. Live fully, live passionately, live disastrously. Let’s live, you and I, as none have ever lived before.

Vita hatte mit 20 einen symphatischen jungen Mann namens Harald Nicolson geheiratet. Er war Diplomat und Kritiker. Sie wusste schon bei der Heirat, dass sie eigentlich auf Frauen steht, aber sie glaubte, das die beiden Seiten ihrer Persönlichkeit gut nebeneinander her existieren könnten. Was auch ganz gut klappte, bis sie Violet traf. Als Violets Familie von der Affäre der beiden Frauen erfuhr, wurden einige Augenbrauen hochgezogen und Violet solange unter Druck gesetzt, bis sie sich fügte und den unglücklichen Denys Trefusis heiratete. Von da an wurde alles ziemlich kompliziert.

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In einem Brief schreibt Violet an Vita:

He is abhorrent to me with his tears and his servility. I told him I looked upon him merely as my jailor, and that my one ambition was to get away from him.

Worauf Vita im gleichen Jahr über Violets Ehemann schreibt:

I now hate him more than I have ever hated anyone in this life, or am likely to; and there is no injury I would not do to him with the utmost pleasure.

Vita und Violet verlassen ihre Ehemänner und hauen gemeinsam nach Paris ab, wo Vita sich unglaublich frei fühlte und überwiegend in Männerklamotten durch die Gegend läuft:

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I dressed as a boy. It was easy… It must have been successful because no one looked at me curiously or suspiciously – never once, out of the many times I did it. My height, of course, was my great advantage. I looked like a rather untidy young man, a sort of undergraduate of about nineteen. It was marvelous fun, all the more so because there was always the risk of being found out.

Harold Nicolson versuchte, seine Frau zur Rückkehr zu bewegen:
When you fall into Violet’s hands, you become like a jellyfish addicted to cocaine.

In der britischen Oberschicht schienen offene Ehen mehr oder weniger an der Tagesordnung gewesen zu sein. Es wurde lediglich erwartet, dass die jeweiligen Ehepartner ihre Affären diskret behandelten und die Ehe nicht in Gefahr brachten.

Vita und Harold haben diese übliche Offenheit aber wahrscheinlich noch ein bisschen extremer betrieben als die meisten. Als die hitzige Violet-Affäre nach etwa drei Jahren im Sand verlief, erreichten Vita und Harold sowas wie ein zivilisiertes Gleichgewicht. Beide hatten weiterhin gleichgeschlechtliche Affären, aber nie wieder in einer solchen Heftigkeit, dass der Fortbestand ihrer Ehe in Gefahr geriet.

So carefree were they that quite often Harold’s friend and Vita’s would join the same weekend party, and the four of them would refer to the situation quite openly.

Virginia Woolfs Affäre mit Vita findet einige Jahre nach Violet statt. Virginias Unvermögen, Sex zu genießen, war der Grund dafür, dass ihre körperliche Beziehung nicht sehr lange dauerte, Virginias Liebe zu Vita sollte allerdings bis an ihr Lebensende halten. Vita scheint sich sehr positiv auf Virginias Schreiben ausgewirkt zu haben, denn sie schrieb einige ihre besten Bücher während dieser Zeit. Auch Virginia war verheiratet, doch weder ihr Mann Leonard, noch Harold hatten ein Problem mit der Beziehung der beiden. Vitas Sohn Nigel nannte Virginia Woolfs Roman „Orlando“, den sie Vita gewidmet hatte, den längsten und bezaubernsten Liebesbrief in der Literatur.

Überhaupt war fast jeder im Dunstkreis von Vita und Harold (und natürlich auch die beiden selbst) wahre Buchproduktionsmaschinen:

Vita schrieb 17 Romane, 12 Gedichtbände, Tagebücher und natürlich jede Menge Briefe, Artikel etc.

Virginia Woolf schrieb 9 Romane, unzählige Essays, Kurzgeschichten, Tagebücher, Briefe und Artikel.

Violet schrieb 7 Romane und eine Autobiografie.

Harold brachte es gar auf 40 Bücher überwiegend zum Thema Geschichte und Biografien, daneben noch Tagebücher und Briefe.

Wenn man noch die ganzen Bücher dazu zählt, die über die jeweiligen Protagonisten geschrieben hat, würde man locker eine ganze Bibliothek mit ihren Werken füllen können.

Wer sich für das Leben einer der aufregendsten Frauen des 20. Jahrhunderts interessiert, dem kann ich sowohl Nigel Nicolsons „Porträt einer Ehe“ als auch Matthew Dennisons „Behind the Mask“ nur ans Herz legen.

Im Literaturhaus in München gibt es seit dem 8. November eine Ausstellung zu „Orlando„, eine von Tilda Swinton kuratierte Fotosammlung, auf die ich mich schon sehr freue und die ich zum Anlass genommen habe, mal wieder „Orlando“ zu lesen. Hier wird es also in nächster Zeit noch mehr von Virginia & Vita zu lesen geben.

Bei Interesse verweise ich noch auf den Briefwechsel zwischen Virginia Woolf (Link zu ihrer Biografie hier) und Vita Sackville-West, den ich hier besprochen habe.

Meine Woche

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Foto: Stephanie Meier

Gesehen: „Portrait of a Lady on Fire“ (2019) von Céline Sciamma mit Noémie Merlant und Adèle Haenel. Wunderschöne Bilder, großartige Story – mein Lieblingsfilm 2019

Beyond the Black Rainbow“ (2010) von Panos Cosmatos. Würden David Lynch, Stanley Kubrick und Dario Argento ein Kind bekommen käme dieser Film raus. Großartig und abgefahren.

Smilla’s sense of Snow“ (1997) von Bille August mit Julia Ormond und Gabriel Byrne. Gelungene Literaturverfilmung und ein schöner Kopenhagen-Film.

Gehört: „L’Estate – Antonio Vivaldi, „La jeune fille en feu“ – Para One & Arthur Simonini, „Beyond the Black Rainbow“ Soundtrack, „Everything I wanted“ – Billy Eilish, „Lark“ – Angel Olsen, „Iluitec Rayless Sun“ – TXT Recordings, „Music for Mediations“ – Arkh Wagner, Johann Johannson live at KEXP

Gelesen: dieses Interview mit Phoebe Waller-Bridge, Michael Cabon bonding with his father over Mr. Spock, Intellektuelle Frauen um 1800, What the Berlin Wall and the Handmaid’s Tale taught me about time, how ICE picks its targets, the first fairy tales were critiques of patriarchy

Getan: Workshop durchgeführt, einen schönen Abend mit einer Freundin verbracht und das Bücherregal umgeräumt

Geplant: Yoga und Herbstspaziergänge

Gegessen: Linsenfrikadellen, koreanisches BBQ und Rote Beete in der Resi Huber

Gefreut: über #Autorinnenschuber

Geweint: nein

Geklickt: auf diese bezaubernde Auto-Werbung, auf dieses Gespräch zwischen Ruth Bader Ginsburg, Donna Leon und Joyce DiDonato, Nelly Bly makes the news,

Gestaunt: über diese bezaubernden Otter und to pay attention the brain uses filters not a spotlight

Geärgert: nein

Gelacht: yep

Gewünscht: diese Teedosen, diese Polaroidkamera, dieses Haus, dieses Bilderbuch

Gefunden: nix

Gekauft: nix

Gedacht: Now is the envy of the dead

The People in the Trees – Hanya Yanagihara

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Im Jahr 1950 begibt sich ein junger Arzt namens Norton Perina mit dem Anthropologen Paul Tallent während einer Expedition auf einer entlegenen mikronesischen Insel namens Ivu’ivu auf der Suche nach einem geheimnisvollen Stamm. Sie finden nicht nur den besagten Stamm, sondern auch noch eine Gruppe mysteriöser Waldbewohner, die die „Träumer“ genannt werden. Es stellt sich heraus, dass diese „Träumer“ ein unglaublich langes Leben leben und zwar körperlich recht agil, allerdings zunehmend seniler werdend.

“It disappointed me when I discerned as an adolescent that my father had married my mother only for her beauty, but this was before I realized that parents disappoint us in many ways and it is best not to expect anything of them at all, for chances are that they won’t be able to deliver it.”

Perina glaubt, dass die Ursache dieser unglaublichen Langlebigkeit in einer sehr seltenen Schildkrötenart liegt. Er sucht nach dieser Schildkröte und schmuggelt das Fleisch zurück in die USA, wo er seine These wissenschaftlich nachweisen kann, weltweiten Ruhm erlangt und sogar den Nobelpreis verliehen bekommt. Außer dem Schildkrötenfleisch nimmt er auch nach und nach etwa 50 Kinder mit in die USA und adoptiert sie.

Gods are for stories and heavens and other realms; they are not to be seen by men. But when we encroach on their world, when we see what we are not meant to see, how can anything but disaster follow?”

“Life was elsewhere, and it was frightening and vast and mountainous and uncomfortable.”

Nach kurzer Internetsuche stösst man auf den Nobelpreisträger, der der Autorin als Inspiration für diese Geschichte diente. Es handelt sich um den berühmten Wissenschaftler Carleton Gajdusek, der für die Entdeckung einer neuartigen Klasse infektiöser Erreger, der Prionen, 1976 – zusammen mit Baruch Blumber, den Nobelpreis für Medizin erhielt und der 1997 wegen sexuellen Missbrauchs an von ihm adoptierten Jungen, welchen er im Gerichtsverfahren zugegeben hatte, zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde.

“It is astonishing and a little sad to realize how many discoveries, how many advancements, have been delayed for years, for decades, not because the information was unavailable but because of sheer cowardice, fear of being laughed at, of being ostracized by one’s colleagues.”

Keine Sorge ich spoiler hier nicht, der Nobelpreisgewinn und auch die Anklage wegen sexuellen Missbrauchs an seinen adoptierten Kindern wird im Roman schon auf den ersten paar Seiten erwähnt. Es handelt sich hier um ein Buch im Buch, die Memoiren Perinas werden von seinem früheren Mitarbeiter und Freund Ronald editiert, der ein eher unzuverlässiger Erzähler ist.

Die Entdeckung des sogenannten „Selene-Syndromes“ und der damit verbundene Nobelpreis haben enorme Implikationen auf Perinas Karriere und seinen Ruf. Doch was passiert, wenn der Mensch versucht, sich zu einem Gott zu erheben? Wenn wir es schaffen Dinge zu tun, die vielleicht nie für uns gedacht waren? Welchen Preis sind wir bereit, für den Fortschritt zu zahlen? Was sind wir bereit zu opfern und zu vergeben?

“All ethics and morals are culturally relative. And Esme’s reaction taught me that while cultural relativism is an easy concept to process intellectually, it is not, for many, an easy one to remember.”

Yanagiharas Roman hat für eine ausgesprochen interessante Diskussion in unserem Bookclub gesorgt. Nur wenige Autoren trauen sich auf so dünnes Eis, wagen es, keine Stellung zu nehmen und Fragen aufzuwerfen wie zum Beispiel die, wie man mit einem Genie umgeht, der im Privatleben alles andere als großartig ist? Ist Perina/Gajdusek eine Legende oder ein Monster? Ist es ok, wie Faust, seine Seele zu verkaufen für Unsterblichkeit?

Yanagihara kickt ihre Leser definitiv aus der Komfortzone. Der Roman hat einige sehr aufwühlende Szenen, es gibt jede Menge Frauenfeindlichkeit, Kolonialismus und Pädophilie. Also keine leichte Kost. Ein Buch, das aufwühlen möchte – auf keinen Fall eine „feel good“ Lektüre.

The People in the Trees“ ist ein großartiger Roman sowohl was die Entwicklung der Charaktere, die Struktur des Romans oder die Sprache angeht. Die Symbolik ist sorgfältig ausgewählt und platziert. Ich war sehr beeindruckt von ihrer Fähigkeit die Vielzahl an schwierigen Themen so gekonnt und elegant miteinander zu verweben.

Was für ein Debüt!

Neben dem wunderbaren Roman möchte ich euch auch diese spannende Dokumentation über Daniel Gajdusek ans Herz legen:

Auf deutsch erschien der Roman unter dem Titel „Das Volk der Bäume“ im Hanser Verlag.

Meine Woche

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Gesehen: „Picnic at Hanging Rock“ (1975) von Peter Weir. Mystery um ein Valentins-Picknick im Jahr 1900 bei dem mehrere Mädchen verschwinden. Wunderschöne Bilder, tolle Atmosphäre.

The Yellow Handkerchief“ (2008) von Udayan Prasad mit Kristen Stewart, William Hurt und Eddie Redmayne. Road Movie um drei einsame Menschen auf der Suche nach Halt.

Killing Eve“ (2018) mit Sandra Oh und Jodie Comer. Brilliante Thriller-Serie um eine Auftragsmörderin. Großartige Dialoge, intelligent und witzig – unbedingt ansehen

Gehört: „Trouble so hard“ – Vera Hall, „Halo“ – Mono, „From dust to beyond“ – God is an Astronaut, „Cellophane“ – FKA Twigs, „Watchmen“ – Trent Raznor & Atticus Ross, It’s all over now, Baby Blue – Them, „Last Walk“ – Space Mountain, „Smash my Head“ – CocoRosie

Gelesen: Margarete Stokowskis Rede anläßlich ihres Tucholsky-Preises, Was es mit OK Boomer auf sich hat, diesen Artikel von W. H. Auden über Virginia Woolf, J. S. Bach der Rebell, Goodbye to free lunches, John le Carrés Exit vom Brexit, How Susan Sontag taught me how to think, Oslo ist nahezu komplett autofrei in der Innenstadt

Getan: viel gelaufen, den Zündfunk Kongress besucht und meinen nächsten Workshop vorbereitet

Geplant: einen erfolgreichen Workshop durchzuführen

Gegessen: Brokkoli-Salat mit Kichererbsen

Gefreut: über die vielen spannenden Menschen die sich engagieren, zB  hier: ReDi School, Foodsharing, Netzpolitik

Geweint: nein

Geklickt: Boy told off for doodles becomes restaurant artist und auf dieses „Actor on Actor“-Interview von Jessica Lange und Taylor Schilling

Gestaunt: über diese unglaublich schönen Pilze, über den Bananen-Aal  und australische Wasserratten die mit chirurgischer Präzision Krötenherzen entfernen und essen

Geärgert: nein

Gelacht: über diesen Panda

Gewünscht: diese wasserfesten Sneaker, dieses Häuschen, dieses Lego Batmobile

Gefunden: tolle Bücher im Bücherschrank

Gekauft: nix

Gedacht: „If you don’t care who gets the credit, you can do a lot of good in the world“ (Esther Abraham)

Kopenhagen by the book

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Kopenhagen wird regelmässig zur glücklichsten Stadt der Welt gewählt und auf Instagram kann man den Bildern aus der Stadt gar nicht mehr ausweichen. Den Nordic-Virus hatten wir uns dieses Jahr schon heftig  in Stockholm eingefangen und wir nutzten das lange November Wochenende, um dem Virus weiter Futter zu geben und die Straßen der dänischen Hauptstadt unsicher zu machen.

Die Stadt ist wunderschön, gehört aber eindeutig zu den teuersten Hauptstädten Europas. Wir waren von Kopenhagen total begeistert – hier ein kurzer Überblick was diese Stadt so einzigartig macht:

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Die Københavener. Sie sind nicht nur wahnsinnig freundlich und offen, sie sind alle auch verdammt gutaussehend. Man kommt sich unweigerlich wie der Glöckner von Notre Dame vor. Und sie sind riesig. Wir kamen gelegentlich wie die Minions vor und mussten ab und an Hilfestellung von den großen Dänen bekommen, wenn irgendwelche Knöpfe oder Dinge außerhalb unserer Reichweite waren.

Design & Architektur. Die Dänen können nicht nur hygge, das ist auch wirklich alles wahnsinnig stylisch, die Architektur ganz oft ein sehr gelungener Mix aus alt und neu. Besonderes Highlight die Oper und die Königliche Bibliothek „The Black Diamond“.

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Eines der besten Abendessen unseres Lebens hatten wir im Høst, ein Restaurant das ihr Euch auf keinen Fall entgehen lassen solltet bei einem Besuch in Kopenhagen.

Der Vergnügungspark Tivoli versprüht wunderbar altmodischen Charme, gerade zu Halloween war das ein großer Spaß. Weniger spannend fanden wir die Freistadt Christiana, eine alternative Wohnsiedlung und vom Staat geduldete autonome Gemeinde. Man bekommt dort legal Drogen jeglicher Art, aber ansonsten hat es uns sehr an das Münchner Tollwood erinnert.

Buchläden gibt es reichlich in der Stadt, meist groß, hell und einladend und dänische und englische Bücher stehen bunt gemischt in den Regalen.

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Unbedingt ans Herz legen würden wir euch auf jeden Fall einen Besuch in der Cisterne einem ehemaligen Wasserspeicher, in dem das ganze Jahr über eine Ausstellung des dänischen Künstlerkollektivs Superflex stattfindet. Mit Sci-Fi Elementen haben die Künstler eine dystopische Welt geschaffen, in dem der Klimawandel die Gesellschaft drastisch verändert hat. Wirklich großartig.

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Foto: Cisterne

Wer mir an jeder Ecke der Stadt begegnete war die wohl bekannteste Schriftstellerin Karen Blixen. Geboren wurde sie 1885 etwa 20km außerhalb Kopenhagens in Rungstedlund, wo sie 1962 auch starb. Sie lebte 17 Jahre lang als Kaffeefarmerin in Kenia. Sie wurde berühmt durch ihr Buch „Out of Africa“, das 1985 unter dem Titel „Jenseits von Afrika“ mit Meryl Streep und Robert Redford verfilmt wurde.

Ihr Leben in Afrika war von außergewöhnlicher Liebe und Schönheit, aber auch von fürchterlichen Verlusten geprägt. Ihre Kaffeeplantage ging pleite, ihre Ehe war am Ende und ihr Liebhaber mit dem Flugzeug abgestürzt.

Sie kehrte nach Dänemark zurück und versuchte des Öfteren, Afrika zu besuchen, doch ihre Pläne zerschlugen sich immer wieder. Sie stürzte sich in ihre Karriere als Autorin. 1934 veröffentlichte sie ihr Debüt „Seven Gothic Tales“ unter dem Pseudonym Isak Dinesen. Die Geschichten hatte sie während ihres Aufenthaltes in Afrika geschrieben. Ihr zweites Buch wurde ihr erfolgreichstes – ihre Erinnerungen an Afrika.Als Reiselektüre hatte ich mir ihre Erzählungen „Nordische Nächte“ mitgenommen, die eine ihrer berühmtesten Erzählungen „Babettes Fest“ enthält.

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Die Geschichten haben etwas leicht beunruhigendes, ohne dass ich den Finger darauf legen könnte, was diese Unruhe bei mir auslöst. Das sind keinesfalls kuschelige Hygge-Geschichten, die man warm auf dem Sofa eingepackt kurz vorm Eindösen lesen könnte. Bei Blixen muss man stets aufmerksam und wach sein, denn hier zählt jedes Wort.

„Babettes Fest“ war auch zugleich meine Lieblingsgeschichte. Eine junge Frau namens Babette, ein Flüchtling vor dem Krieg in Frankreich, schlüpft bei zwei älteren religiösen Schwestern unter und bleibt bei ihnen jahrelang hängen. Sie kocht und sorgt für die beiden Damen. Irgendwann äußert sie die Bitte, ein Fest für die zwei und ihre Freunde veranstalten zu dürfen… Eine geheimnisvolle Geschichte gespickt mit leisem Humor, poetisch und provokant. Ein echter Leckerbissen, der mir große Lust auf die gleichnamige Verfilmung machte.

Neben „Babettes Fest“ finden sich noch 6 weitere Geschichten in der Sammlung. Den Geschichten merkt man Blixens Sehnsucht nach einer aristokratischen Weltordnung an. Ihre Geschichten sind nie ganz Teil der wirklichen Welt, sie lesen sich oft wie Märchen. Blixen ist eine Autorin, die einen Schritt zurücktritt, die Welt betrachtet und sie sorgsam destilliert. Ihre Geschichten sind stark formalisiert und man schwebt stets ein wenig im Ungewissen.

Ich habe die Erzählungen gerne gelesen, aber ich hatte häufig das Gefühl, als würde die Autorin kurz den Vorhang öffnen, der Leser sieht eine Weile dem Treiben der Geschichte zu und irgendwann macht sie den Vorhang wieder zu und die Geschichte ist vorbei. Große Bindung zu den Figuren oder Interesse hatte ich außer zu Babette eigentlich nicht.

Spannender noch als ihre Erzählungen ist das Leben der Autorin und ich mache mich umgehend auf die Suche nach einer Biografie. Eine Autorin, die gleich zweimal für den Literaturnobelpreis nominiert war, zu deren Fans neben Ernest Hemingway auch Truman Capote, Pearl S Buck und Arthur Miller zählte und die großen Spaß hatte, ihren Mythos der geheimnisvollen Gräfin zu pflegen, ist definitiv eine gute Kandidatin für eine spannende Biografie.

Ich danke dem Random House Verlag für das Rezensionsexemplar.

Habt ihr schon etwas von Karen Blixen gelesen oder könnt vielleicht eine Biografie empfehlen?

Meine Woche

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Gesehen: „Insidious“ (2010) von James Wan. Horror um einen kleinen Jungen der von einem Dämonen besessen ist. Fing super an, zum Schluss wurde fiel er ziemlich ab.

Gehört: „Island of Doom“ – Agnes Obel, „The French Brexit Song“ – Amanda Palmer, „Fliegende Schatten“ – Frank Makowski, „A different place“ – Claire M Singer, „Quand on n’a que l’amour – Jacques Brel, „Seven Days Walking“ – Ludovico Einaudi, „Frozen Passages“ – Poemme

Gelesen: Warum viele junge Leute nicht ins Theater gehen, dieses Interview mit Patagonia-Gründer Yvon Chouinard, dieses mit Adam Driver und dieses mit Jeanette Winterson, Enough leaning in. Let’s tell men to lean out, Book Women on horseback

Getan: viel durch Kopenhagen gelaufen, die Exploding Boys gehört, eines der besten Menüs ever gegessen, die Cisterne durchwandert und im Tivoli Halloween gefeiert

Geplant: den Zündfunk Netzkongress besuchen

Gegessen: das weltbeste Menü im Høst

Gefreut: über unser wunderschönes Wochenende in Kopenhagen

Geweint: nein

Geklickt: How the economic machine works by Ray Dalio

Gestaunt: so schnell kann eine Maschine den Zauberwürfel lösen

Geärgert: nein

Gelacht: Do you all remember before the internet when we thought the stupidity of people was due to lack of access to information? Yeah, it wasn’t that…

Gewünscht: diese Bettwäsche, diese Notizbücher, diesen Schreibtisch

Gefunden: nix

Gekauft: Virgina Woolfs „To the Lighthouse

Gedacht: „Do not let your fire go out, spark by irreplaceable spark in the hopeless swamps of the not-quite, the not-yet and the not-at-all. Do not let the hero in your soul perish in lonely frustration for the life you deserved and have never been able to reach. The world you desire can be won. It exists… It is real… It is possible… It’s yours
(Ayn Rand)

Düsterer Kiez

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In Rückblenden erzählt Sonja M. Schultz  die Lebensgeschichte von Hawk. Der floh in den 1950er Jahren vor seinem gewalttäigen Vater aus Süddeutschland nach Hamburg. Er kommt in einem Seemannsheim unter, wo ihn der Besitzer unter die Fittiche nimmt und ihm einen Job im Hafen besorgt. Doch Hawk fühlt sich vom fürsorglichen Ersatzvater gegängelt, der alles versucht, um ihn vor der schiefen Bahn zu retten.

„Man pfeift nicht am Hafen. Das bringt Sturm auf See.“ 

Doch erste Kontakte mit dem Kiez-Milieu macht er im Hafen schnell. Er lernt Pik Johnny kennen, fängt an zu boxen und beginnt recht bald für Johnny zu arbeiten. Anfangs sind das einfache Handlanger-Tätigkeiten, später steigt er peu à peu bis zum Drogenschmuggler auf.

Im „Fleur de Mal“ lernt er die geheimnisvolle, coole Lu kennen, in die er sich schwer verliebt. Nie habe ich schönere Beschreibungen gehört wie die Hawks, wenn er von den wogenden Wellen, den Fischen und Meerjungfrauen spricht:

„Unter ihrem schwarzen T-Shirt liegt das Meer.“

Sie ist eine großartige Figur und ich hätte zu gerne eine ihrer Mixtapes gehört, die sie regelmäßig in ihrer Kneipe spielt.

Mit Lu beginnt Hawks Geschichte dann auch von den Erinnerungen an seine Vergangenheit im Heute anzukommen. Irgendjemand hat es nämlich auf ihn abgesehen. Sein heißgeliebtes Auto geht in Flammen auf, jemand zündet seine Wohnung an und immer wieder scheint ihm ein Typ in Motorradmontur durch Hamburg zu folgen.

Ich bin so froh, dass Sonja M Schultz mich anschrieb und fragte, ob ich Interesse hätte, ihren Roman zu rezensieren. Ich bin da oft zurückhaltend, aber dieser Roman passt zur Bingereaderin wie die Faust aufs Auge.

Ein sehr atmosphärischer, emphatischer Roman, bei dem man den Hafen zu riechen glaubt, der eigentlich am Besten mit einem Astra in der einen und einem Fischbrötchen in der anderen Hand gelesen werden sollte (was natürlich schwierig ist, weil man dann keine Hand mehr zum umblättern frei hat)

Ich habe mich derart fest gelesen, ich habe das Buch an einem Wochenende verschlungen. Eine Playlist zum Buch hätte mir noch gefallen. Vielleicht schreibe ich der Autorin mal und frage sie nach der Tracklist von Lus Mixtapes 😉

Hawk ist einer, bei dem man spürt, wie sehr einen die eigenen Herkunft prägt und wie stark die Nachwirkungen der Nazi-Zeit sind, die sowohl weitergegeben werden von Generation zu Generation, auch wenn gleichzeitig dagegen rebelliert wird.

Ein besonderer Kiez-Krimi mit einem außergewöhnlich emphatischen Blick auf seine Protagonisten.

Hier noch ein Blick auf den Trailer, den es zum Buch gibt, der mir auf jeden Fall auch noch mal besondere Lust auf das Buch machte:

Ich danke dem Kampa Verlag für das Rezensionsexemplar.

Ein Buch, das schon etwas länger bei mir zu Hause rumstand, eignete sich bestens als Pendant zum „Hundesohn“:

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„Der goldene Handschuh“ ist ganz harter Tobak. Strunk ist deutlich mehr Reporter als empathischer Autor, er dokumentiert die wahren Geschehnisse um den Frauenmörder Fritz Honka, in dem er das Soziotop der Gaststätte ‚Zum goldenen Handschuh‘ auf St. Pauli in den 1970er unter die Lupe nimmt.

Hier finden sich die menschlichen Restexistenzen, die vom Alkohol völlig zerstört sind und am Rande der Gesellschaft ein Schattendasein fristen. Da sind Kriegsversehrte, Einsame, gealterte Prostituierte, aber auch der eine oder andere aus der sogenannten „feinen Gesellschaft“. Was allen gemeinsam ist, sie saufen bis sie vom Stuhl kippen, versuchen, das Elend um sich herum zu vergessen.

“Einmal hat ihm einer im Schlaf die Schuhe ausgezogen, reingeschissen und wieder angezogen. Um diese Uhrzeit ist prinzipiell alles möglich.”

Mehr als einmal habe ich das Buch angeekelt zur Seite legeben müssen. Die detaillierte Beschreibung der Verwahrlosung, in der die Gäste des Handschuhs leben, ist nahezu unvorstellbar. Die eigentlichen Morde werden eher am Rande erwähnt und sind nur die Spitze des Ekels und Grauens darunter.

Strunk beschreibt auf der einen Seite das Leben des Serienmörders Honka auf sehr plastische Weise und stellt diesem das Leben der feinen Reederfamilie aus Hamburgs vornehmsten Kreisen gegenüber. Die sind äußerlich vielleicht ganz vorzeigbar, innerlich aber mindestens genauso verrottet wie die Gäste aus dem Handschuh.

Ein wirklich gutes Buch, auch wenn das Thema schwer erträglich ist. Eine unglaubliche Mischung aus Ekel, Witz und Sozialstudie.

Eines der ganz wenigen Bücher, die ich partout nicht abends im Bett lesen wollte, ich mochte das Buch nicht einmal im Schlafzimmer liegen haben. Nix für zarte Gemüter.

Zwei Bücher, die auf ganz unterschiedliche Weise dem Kiez unter den Rock gucken. So sehr ich Lust habe, mal wieder die Nacht auf St. Pauli durchzumachen, für Laden wie den Handschuh bin ich dann doch nicht hartgesotten genug – dann doch lieber ein Astra im Lehmitz.