Until I Find You – John Irving

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Puh – was war denn hier los? Wurde der Editor von der Mafia entführt, durch Bahnstreiks von seinem Arbeitsplatz ferngehalten oder war Herr Irving eventuell der Meinung er brauche keinen? Dieses Buch hat mich verzweifelt sprachlos zurückgelassen. Ich habe selten einen Roman gelesen, auf den ich mich auf der einen Seite so gefreut habe, weil die ganzen einzelnen Zutaten genau meinem Geschmack entsprechen und der dann so sehr daneben gegangen ist.

Um es gleich vorweg zu nehmen – wer Kritiken nur liest, wenn der Rezensent das Buch auch zu Ende gelesen hat, der kann jetzt den roten Knopf betätigen und hier per Schleudersitz aussteigen. Auf Seite 480 etwa bin ich ausgestiegen  – ich konnte und wollte nicht mehr. Durch Treibsand waten klang zu dem Zeitpunkt nach einem verlockenden Vergnügen!

„Owen Meany“ ist eines meiner Lieblingsbücher. Ich liebe Tattoos, Orgelmusik von Bach und Händel – yes please! und ich habe eine große Affinität zu Büchern, die sich mit schwierigen oder nicht-existenten Kind-Elternteil-Beziehungen beschäftigen. Es hätte wirklich ein perfekt auf mich zugeschnittenes Lesevergnügen werden können, wurde dann aber eine über 800 Seiten andauernde dröge Beweisführung des dem Roman vorgestellten Romans zur Unzuverlässigkeit von Erinnerungen.

„Until I find you“ ist glaube ich der persönlichste und autobiographischste Roman von John Irving und vielleicht liegt genau da das Problem. Es fehlt der Abstand und es fehlt ein guter Editor, der John Irving darauf aufmerksam macht. Der kleine Jack startet mit seiner Mutter Alice, einer Tätowiererin, eine umfassende Suche nach seinem biologischen Vater. Der ist Orgelspieler, ein Tattoo-Fetischist und, was die Damenwelt angeht, kein Kind von Traurigkeit. Nach monatelanger Suche, in dem der Vater ihnen jedesmal um Haaresbreite durch die Lappen geht, kehren sie nach Kanada zurück und geben mehr oder weniger auf.

Wovor auch immer man im Leben die größte Angst hat (Verlustangst z.B.), kommt immer wieder bei allem durch, was man tut und denkt. Man sieht das Leben einfach immer durch diese Brille. Das was uns Angst macht, zeigt wer wir eigentlich sind. Diese Dinge lassen Dich nie wieder los, die kommen immer wieder durch! Das wurde mir klar beim Lesen dieses Romans und das war für mich die wichtigste Erkenntnis aus diesem Buch. Ansonsten fand ich noch alles rund um die Geschichte und die Kunst des Tätowierens spannend. Mit Jack’s Mutter Alice – ja, also mit der wär ich durchaus gerne mal ein Bier trinken gegangen. Eine spannende, vielschichtige Frau und soviel interessanter als Jack, den man irgendwie an der Nabelschnur durchs Leben ziehen musste.

Dieser erste Teil der Suche hat mir gut gefallen, ab da ging es für mich bergab. Selbst die Standardzutaten, die jeden Irving-Roman prägen (Prostituierte, seltsame Sexpraktiken wie Inzest oder obsessives Penishalten, sehr junge Männer mit Hang zu älteren Frauen und Ringen) haben irgendwann einfach nur noch genervt. Wo waren eigentlich die Bären? Kamen die später noch? Bis zu Seite 480, oder wo auch immer ich genau ausgestiegen bin, sind zumindest keine aufgetaucht. Vielleicht hätten die Bären ja noch was gerissen.

“In increments both measurable and not, our childhood is stolen from us — not always in one momentous event but often in a series of small robberies, which add up to the same loss.”

Wie schade. Hatte nach langer Zeit wieder mal Lust auf einen John Irving. „Owen Meany“ ist ein Meisterwerk, ich mochte „The Hotel New Hampshire“, „Cider House Rules“ oder auch Garp, aber diesen (über weite Strecken) editor-freien Schreib-Durchfall äh Unfall, den sollte man idealerweise ganz schnell vergessen. Ich fürchte fast Mr Irving unsere Wege trennen sich hier 😦

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Das Buch ist auf deutsch unter dem Titel „Bis ich dich finde“ im Diogenes Verlag erschienen.

 

The Children Act – Ian McEwan

IMG_1817 Ein perfektes kleines Buch vom großen Ian McEwan. Nur wenige Autoren schaffen es, eine großartige Geschichte auf so wenige Seiten zu transportieren. Kurz und knapp ist schon nicht unbedingt einfach und dann auch noch diese wunderschöne Sprache. Traurig, tragisch und melancholisch.

Es ist die Geschichte einer Familienrichterin, eine Frau die, selbst kinderlos, stets über verschiedenste familienrechtliche Fälle den Überblick behalten muss, während ihr eigenes Leben gerade den Bach runterzulaufen droht. Langsam aber sicher hat sich jede Erotik und Intimität aus ihrer Ehe geschlichen und sie hat es nicht einmal wirklich bemerkt. Erst als ihr Mann ihr von seinem Plan erzählt, Sex mit einer anderen (natürlich jüngeren) Frau haben zu wollen, bemerkt sie, wie sehr sich ihre Ehe am Abgrund befindet.

Den Sexplänen ihres Mannes stimmt sie überraschenderweise nicht jubelnd zu, sie zieht sich zurück und beschäftigt sich vielleicht noch intensiver als zuvor mit ihren Fällen, die sich meist um Kinder drehen und die sie ihre eigene Kinderlosigkeit besser händeln läßt. Auf diese Weise gerät auch der schwerkranke junge Mann aus einer Zeugen Jehova Familie in ihr Leben, der aus religiösen Gründen eine lebensrettende Bluttransfusion verweigert und, da er noch nicht ganz volljährig ist, auf Fiona trifft, die diese Entscheidung für ihn treffen muss. Ist er nur ein Papagei, der nachplappert, was ihm seine Eltern und die religiösen Altvorderen vorplappern, oder ist das wirklich seine eigene tiefe Überzeugung, dass es richtig ist, diese Transfusion zu verweigern und zu sterben.

Die Geschichte ist wundervoll erzählt, der Konflikt selbst für nicht gläubige Menschen wie mich nicht nur nachvollziehbar, nachfühlbar würde es eher treffen. Wie unglaublich schwierig, aus einem solchen Glaubenssystem auszusteigen, wenn man ein Leben lang nichts anderes erlebt hat und wie sehr das ganze Leben aus den Fugen gerät, wenn solch ein lang etabliertes Glaubenssystem angegriffen oder zerstört wird. Mit dem Ende selbst hatte ich gerechnet, die überraschenden Wendungen selbst habe ich nicht kommen sehen.

Es ist diese Entscheidung, vor der eigentlich alle McEwan Charaktere immer wieder stehen, die dieses Buch ausmachen. Die Entscheidung wird nicht nur das Leben des Jungen, Adam, verändern, es wird auch Fiona’s Leben verändern, ob sie will oder nicht. “Blind luck, to arrive in the world with your properly formed parts in the right place, to be born to parents who were loving, not cruel, or to escape, by geographical or social accident, war or poverty. And therefore to find it so much easier to be virtuous.”

McEwan gibt Einblick in das Leben und die Arbeit einer Familienrichterin und konfrontiert uns mit schwierigen moralischen und juristischen Fragen, die über das übliche wer zahlt wem wieviel Unterhalt und wer darf das Kind an wievielen Tagen im Monat sehen weit hinaus geht. Bei Fiona Mayes Fällen geht es häufig um Leben und Tot, Macht und Glaube. Die Schicksale lassen sie nicht einfach wieder los. Sie setzt sich oft noch lange nach dem Urteil damit auseinander. “Not men who ran the world, but who made it run.” Wie bei den siamesischen Zwillingen, wo sie die Entscheidung treffen muss, ob man einen Zwilling töten darf, um den anderen am Leben erhalten zu können. Religion ist nur ein weiterer Faktor, der in die Entscheidungsfindung mit hineingenommen werden muss. Fiona’s Entscheidung zu Adam verwirrt ihn zutiefst, er sucht ihre Nähe, will ihre Entscheidung, aber auch sie selbst verstehen.

Diese Suche ist meines Erachtens großartig erzählt, die Rahmenhandlung um Fiona’s Ehekrise herum habe ich eher aus einer gewissen Distanz betrachtet. Das Leben schreibt die besten Romane. Ist einfach so.

Eine weitere Rezension zu Ian McEwan’s „Kindeswohl“ findet ihr hier: https://deepread.wordpress.com/2015/01/25/kindeswohl-von-ian-mcewan/

Das Buch ist auf deutsch unter dem Titel „Kindeswohl“ im Diogenes Verlag erschienen.

The Spinning Heart – Donal Ryan

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Unsere Februar-Lektüre ist wieder ein gutes Beispiel dafür, warum ich es so liebe, durch den Bookclub auf Bücher gebracht zu werden, die ich sonst höchstwahrscheinlich nie gelesen hätte. Donal Ryan’s dünnes Debüt „The Spinning Heart“ ist so eines. 2013 auf der Longlist des Man Booker Prizes gelandet, ist es mir dennoch komplett unter den Radar durchgerutscht und vielleicht hätte ich es auch gar nicht gekauft, selbst wenn ich es entdeckt hätte, denn ein Buch über die Folgen der Wirtschaftskrise in Irland hört sich im ersten Moment nicht sonderlich anziehend an, da habe ich wohl vorurteilsbeladen ein etwas „Angela’s Ashes“-ähnliches alkoholgetränktes Depri-Buch befürchtet.

„My Father still lives back the road past the weird in the cottage I was reared in. I go there every day to see if he is dead and every day he lets me town. He hasn’t yet missed a day of letting me down.“

„Why can’t I want to be me?“

Ryan wurde aber zum Glück in unsere jährliche Liste gewählt und das war sehr gut so. Ryan erzählt in seinem virtuosen Debüt in 21 unterschiedlichen Stimmen, die in ebensoviele Kapitel aufgeteilt sind, die Geschichte eines irischen Dorfes in der Provinz, das von der Wirtschaftskrise hart getroffen wird. Die paar Boomjahre haben die Arbeiter am Wohlstand teilhaben lassen, als einer der größten Arbeitgeber und der Bauunternehmer Pokey Burke über Nacht abhaut, stehen sie vor dem Nichts und die Dorfgemeinschaft steht unter Schock. Sie sind nicht nur betrogen worden von ihrem Arbeitgeber und der Wirtschaft allgemein, sie sind auch noch pleite und der einzige Trost vielleicht, das es nahezu jeden getroffen hat.

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Foto: joyzz.com

Bobby, ist der zentale Charakter der Geschichte, der Vorarbeiter und ehemals allseits beliebte Golden Boy des Dorfes, dem bislang alles zu gelingen schien, hört das Eis unter seinen Füßen knacken „he is filling up with fear like a boat filling with water“. Die Geschichte spielt in einem namenlosen irischen Dorf und Ryan widmet jedem direkt oder indirekt betroffenen Erzähler ein kurzes Kapitel und darin liegt sein ganz besonderes Können: wie er es schafft, 21 deutlich voneinander unterscheidbare Charaktere greifbar zu machen, ihnen eigene Stimmen zu geben, ihre individuellen Geschichten nachvollziehbar. Man fühlt sich an Dylan Thomas’s „Under the Milk Wood“ erinnert, aber Ryan’s Geschichten erschienen mir härter, vielleicht einfach weil sie aktueller sind.

“I wish to God I could talk to her the way she wants me to, besides forever making her guess what I’m thinking. Why can’t I find the words?”

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Unser organisiertestes Bookclub Mitglied, die diesen Monat auch die Diskussionsleitung übernommen hatte, hat neben diesen phantastischen Cupcakes im Bild auch eine Art Flow Chart gemacht, um darzustellen, wie die verschiedenen 21 Charaktere miteinander zusammenhängen. Es ist nicht unbedingt notwendig, ein solches Chart anzufertigen, man versteht die Geschichte schon auch so, aber es war schon hilfreich 😉

“Bernadette never went to Mass; she was a fundamentalist Christian. Mother often said she only used religion as a framework for her craziness. She could just as easily have been a Muslim or a Buddhist or a white witch.”

„The Spinning Heart“ ist ab und an ein ganz klein wenig alkoholgetränkt-depri, aber es ist überwiegend liebevoll, spannend, häufig auch lustig und ich war einfach nur erstaunt, wie er Ryan es geschafft hat ein so rundes Buch zu verfassen auf nur 160 Seiten. Es ist wirklich großartig – lesen, lesen, lesen!

Das Buch erschien auf deutsch unter dem Titel „Die Gesichter der Wahrheit“ im Diogenes Verlag.

Fahrenheit 451 – Ray Bradbury

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Selten hat ein 50 Jahre altes Buch ein so erschreckend aktuelles Bild gezeichnet wie Fahrenheit 451. Die unermüdliche Suche nach dem Glück kann zum Fluch werden, für eine Gesellschaft, die das Glück zum Alleinzweck definiert. Ray Bradbury zeigt in seiner Dystopie eine Zukunft, in der niemand mehr Bücher liest. Anfangs, weil die Leute Unterhaltung und Informationen in immer kleiner zubereiteten Häppchen vorgesetzt bekommen wollten, bis am Ende nur noch Soundbites übrigbleiben, denn für mehr reicht die Aufmerksamkeit einfach nicht (klingt irgendwie bekannt, oder ?)

Irgendwann begannen sie in Büchern aber grundsätzlich einen Feind zu sehen, der unterschiedlichste Weltsichten, konkurrierende Ideen, Meinungen und Thesen vertritt, die Menschen damit überfordert und verwirrt.Dann doch lieber ein Leben als emotionslose Flatline, als diese ständigen Höhen und Tiefen und starken Gefühle, die häufig unglücklich machen.

Die Menschen beginnen ein immer schneller werdendes Leben zu führen, die in Super-Autos (Beetles – wie süß) durch die Gegend rasen, die alles umbringen, was ihnen in den Weg gerät. Ihre Kinder (wenn sie denn welche haben) sehen sie so gut wie nie, denn das raubt nur unnötig Zeit, die man doch lieber mit der Dauersoap „The Family“ zu Hause auf den lebensgroßen Bildschirmen verbringen möchte. Den ganzen Tag von der „Family“ berauscht, gehen sie abends dann mit Muscheln im Ohr ins Bett, die ohne Unterbrechung weitersenden, eine Dauer-Kakophonie aus bedeutungslosen News, Klatsch, Musik die die Leute betäubt.

“A book is a loaded gun in the house next door…Who knows who might be the target of the well-read man?”

“The terrible tyranny of the majority.”

Schlaf- und Beruhigungstabletten werden geschluckt, wie zu anderen Zeiten Süßigkeiten, Suizid weit verbreitet und kaum kommentiert. Montag, von Beruf Feuerwehrmann, dessen Job es nicht ist Feuer zu löschen, sondern Bücher zu verbrennen, trifft eines Tages auf ein junges Mädchen aus der Nachbarschaft und beginnt ein Gespräch mit ihr. Dieses Gespräch, das erste richtige das er seit einer Weile überhaupt führt, da seine Frau nur noch im Tablettenrausch zwischen Soap und Muschelrauschen dahingleitet. Das Gespräch bringt ihn aus dem Gleichgewicht, bringt ihn zum Nachdenken und dazu, die Welt mit anderen Augen zu sehen.

Why is it,“ he said, one time, at the subway entrance, „I feel I’ve known you so many years?“
„Because I like you,“ she said, „and I don’t want anything from you.

Er beginnt Bücher für sich zu entdecken und entschließt sich zum Kampf gegen die Gesellschaft, in der er lebt. Vielleicht sollten wir alle es so machen, wie die anderen Rebellen und ein uns wichtiges Buch auswendig lernen, nur für den Fall, dass wir es einmal brauchen könnten. Ich bin auf jeden Fall glücklich in einer Welt zu leben, in der Bücher noch einen sehr hohen Stellenwert haben, wobei ich glaube, dass wir dabei sind, die Fähigkeiten richtig zu lesen, zum „deep read“, zu verlieren, wenn wir nicht aufpassen.

“With school turning out more runners, jumpers, racers, tinkerers, grabbers, snatchers, fliers, and swimmers instead of examiners, critics, knowers, and imaginative creators, the word ‚intellectual,‘ of course, became the swear word it deserved to be.”

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“There must be something in books, something we can’t imagine, to make a woman stay in a burning house; there must be something there. You don’t stay for nothing.”

Die Kurzbiografie im Buch beschreibt einen Autor, der einen großen Teil seines Lebens in Bibliotheken verbracht hat. Bücher und Bibliotheken spielen eine große Rolle in einer Reihe seiner Werke und ich habe vor, noch einiges von ihm zu lesen. Ich habe gefühlt meine halbe Kindheit in einer Bücherei verbracht und werde für immer dankbar sein, für die Welt die sich mir dadurch erschlossen hat.

„The main thing to call attention to is the fact that I’ve been a library person all of my life.“

Fahrenheit 451 entstand auch im Keller einer Bibliothek, wo Bradbury eines Tages eine Münzschreibmaschine entdeckte, auf der er die Kurzgeschichte „The Fireman“ schrieb und immer 10-Centstücke nachwerfen musste, wenn die Zeitdauer überschritten war. Insgesamt kostete die erste Fassung 9,80 $.

Der Roman wurde 1966 von Francois Truffaut verfilmt und ich bin sehr gespannt darauf. Der Film weicht von der Romanvorlage etwas ab, aber eigentlich mag ich die Filme von Truffaut sehr gerne und bin gespannt.

Das Buch erschien auf deutsch unter dem gleichen Titel im Diogenes Verlag.

The Comfort of Strangers – Ian McEwan

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Bislang habe ich noch kein Buch von Ian McEwan gelesen, dass mich kalt gelassen hat und „The Comfort of Strangers“ ist da keine Ausnahme. Dieses kleine Büchlein, das wir in einer „zu verschenken“-Box gefunden haben, ist ein echter Page-Turner.

Die Geschichte ist von Anfang an schleichend beunruhigend und beklemmend. Die düster schwüle „Gothic“-Atmosphäre kommt in Venedig natürlich besonders gut zur Geltung. Habe mich an Thomas Manns „Tod in Venedig“ erinnert gefühlt oder auch an „Wenn die Gondeln Trauer tragen“.

Mary und Colin verbringen ihren Urlaub in einer Stadt, die nicht klar als Venedig benannt wird, aber die Beschreibungen der Stadt lassen eigentlich keinen Zweifel aufkommen. Die beiden sind schon länger zusammen, nicht verheiratet, ihr wirklicher Beziehungsstatus ist etwas unklar. Sie verbringen eine anfangs nette, unaufgeregte Zeit, verlaufen sich des Öfteren in den Gässchen, sind irgendwie nicht wirklich glücklich miteinander und haben ab und an unaufgeregten Sex.

„What tended to happen, to Colin and Mary at least, was that subjects were not explored so much as defensively reiterated, or forced into elaborate irrelevancies, and suffused with irritability“

Das alles ändert sich schlagartig, als sie wieder einmal ohne Straßenkarte durch die Gegend irrend den charismatischen Robert treffen. Er umgarnt sie, schleppt sie in eine Kneipe, unterhält sie, macht ihnen Komplimente und füllt sie ziemlich ab. Von der ersten Sekunde an ist klar, Robert hat Hintergedanken. Sie haben den ganzen Abend nichts gegessen und finden betrunken nicht einmal in ihr Hotel zurück.

Überraschend treffen sie ihn am späten Vormittag wieder. Noch immer hungrig und übermüdet, da sie es noch immer nicht in ihr Hotelzimmer geschafft haben, schleppt er sie in seine palastartige Wohnung, um sich um sie zu kümmern. Robert und seine Frau Caroline wirken nahezu hypnotisch auf die beiden und mit einer schrecklichen Unausweichlichkeit steuern Mary und Colin ahnungslos-naiv auf ein schreckliches Ende hin.

„She sleepwalked from moment to moment, and whole months slipped by without memory, without bearing the faintest imprint of her conscious will“

Die Sprache ist wunderschön, man möchte umgehend nach Venedig reisen, wird aber vermutlich jedem wohlmeinendem Fremden weiträumig aus dem Weg gehen 😉

Das Buch ist auch verfilmt worden, leider ist er bei Lovefilm momentan nicht zu bekommen. Hätte große Lust auf die Verfilmung. Angelo Badelamenti hat die Titelmusik geschrieben und die Hauptrollen im Film spielen Christopher Walken, Rupert Everett und Helen Mirren (!).

Das Buch ist auf deutsch unter dem Titel „Der Trost von Fremden“ im Diogenes Verlag erschienen.

N. P – Banana Yoshimoto

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Kazami, die Erzählerin, arbeitet wie ihre Mutter als Übersetzerin. Ein paar Jahre nach dem Selbstmord ihres Freundes, der ebenfalls als Übersetzer tätig war, trifft sie die Kinder des Autors der Kurzgeschichten-Sammlung NP (benannt nach einem alten Song „North Point). NP scheint verflucht zu sein. Der Autor selbst, Sarao Takase, hat Selbstmord begangen, ebenso drei der Übersetzer, die versuchten das Werk ins Japanische zu übersetzen. Takases Kinder sind ziemlich besessen von den Geschichten.

Insbesondere von der Geschichte, in der ein Mann eine Affäre mit einem jungen Mädchen hat, das sich später als seine Tochter herausstellt. Eine kaum verhüllte Anspielung auf Takases Affäre mit seiner eigenen Tochter Minowa. Diese wiederum ist jetzt mit ihrem Halbbruder Otohiko zusammen, eine Situation, die beiden mehr und mehr zu schaffen macht und die durch Minowas unerwartete Schwangerschaft zu einem dramatischen Ende kommt.

NP ist ein wilde Kombination aus Inzest, Selbstmord und kaputten Beziehungen. Man könnte das ganze für einen Krimi halten, aber das ganze ist dann doch mehr die Geschichte dreier Mädchen und eines Jungen, die sich auf unterschiedliche Weise zueinander hingezogen fühlen.

„Aber nicht einschlafen können hat auch was für sich. Die Nacht ist interessant. Für Leute, die sofort einschlafen, ist sie im Nu vorbei, aber dem, der sich durchwacht, kann sie wie ein ganzes Menschenleben vorkommen. Bisweilen hat man sogar das Gefühl, Zeit gewonnen zu haben.“

Die Atmosphäre ist traumartig, die Sprache recht spartan aber ich wurde einfach das Gefühl nicht los das ganze sei eine nicht zu Ende entwickelte Kurzgeschichte. Am liebsten hätte ich sie um- oder weitergeschrieben. Die Charaktere sind allesamt ziemlich schräg und narzistisch und so wirklich warm wurde ich nicht mit ihnen.

Nach den phantastischen Büchern „Kitchen“ und „Tsugumi“ empfand ich NP als deutlich schwächer. Es wird aber nicht mein letzter Yoshimoto gewesen sein.

„Ich sah den Himmel und das Meer und den Sand und die flackernden Flammen des Lagerfeuers – meine Sicht war noch verschwommen von den Tränen. Alles auf einmal stürmte mit schwindelerregender Geschwindigkeit in meinen Kopf, daß mir die Augen rollten. Die ganze Welt, alles, was geschehen war, war wunderschön – wahnsinnig schön, zum Verrücktwerden.

 

Der Buchhändler von Archangelsk – Georges Simenon

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Jonas Milk, ein vierzigjähriger jüdischer Flüchtling aus Russland lebt in einer französischen Kleinstadt und betreibt ein Buch-Antiquariat. Er liebt Briefmarken, Bücher und seine junge untreue Ehefrage Gina – die eines Tages zusammen mit seinen wertvollsten Briefmarken verschwindet. Eine dumme, unnötige Lüge seinerseits führt dazu das er immer stärker in den Verdacht gerät, mit dem Verschwinden seiner Frau etwas zu tun zu haben. Und dann meldet sich, kurz bevor es zu seiner Verhaftung kommt, doch noch jemand, der ihn ganz und gar von jeglicher Schuld reinwaschen könnte, aber er nutzt die Gelegenheit nicht.

Ein ganz typischer Non-Maigret ist das. Die Schreibweise ist wie immer sehr nüchtern und einfach, aber voll psychologischer Finesse. Er erinnert mich immer ein wenig an Patricia Highsmith, denn so einfach diese Krimis wirken, sie haben es in sich. Die Protagonisten in den Non-Maigret’s sind fast immer männlich, sind häufig sehr in ihren Routinen gefangen und verspüren oft aber nicht immer, dass in ihrem Leben etwas fehlt und werden durch ein außergewöhnliches aus ihrem Leben geworfen und plötzlich gelten Regeln dann nicht mehr. Die äußere Handlung spielt nur eine sekundäre Rolle. Simenon’s Beobachtungsgabe und Gespür für Atmosphäre sind außergewöhnlich.

Simenon wurde für seine Fließband-Schreibe häufig kritisiert. Im Laufe seines Lebens verfasste Simenon über 100 Romane etwa 150 Erzählungen und knapp 200 Groschenromane und über 1000 Kurzgeschichten unter verschiedenen Pseudonymen. Ironie war nicht seins und gelegentlich spürt man die mangelnde Qualität durch seine Hast beim Schreiben, aber seine Krimis sind trotzdem einfach gut und er hatte auch eine Menge berühmter Bewunderer. Von Andre Gide mit dem er eng befreundet war, über Walter Benjamin, Ernest Hemingway, Patricia Highsmith, Kurt Tucholsky, Dashiell Hammett, Thornton Wilder bis hin zu Gabriel Garcia Marquez, der ihn sogar für „den wichtigsten Schrifsteller unseres Jahrhundert“ hielt.

Seinen eigenen Angaben zufolge war er als Liebhaber ähnlich produktiv wie als Schriftsteller. Fellini gegenüber behauptete er einmal mit über 10000 Frauen geschlafen zu haben. Er ist nicht unbedingt liebevoll mit seinen Frauen umgegangen und zumindest eine seiner vier Ehefrauen landete nicht zuletzt auch seinetwegen vorübergehend in der Psychiatrie.

„Er log, und das war ein Fehler. Es wurde ihm in dem Augenblick klar, als er den Mund öffnete, um Fernand Le Bouc zu antworten; und aus Schüchternheit, letztlich aus einem Mangel an Kaltblütigkeit ließ er die Worte unverändert, die ihm über die Lippen kamen.“

Hier ein interessantes kurzes Interview mit Monsieur Piepeau: