Hirngymnastik – Astrophysik

Astrophysik

Mir hat es schon lange nicht mehr so das Hirn zerschossen, wie bei dieser Hirngymnastik.  Ob Hawking, Lisa Randall oder auch meine Annäherungsversuche an die Quantenphysik, mir wurde traurig bewusst, wie beschränkt mein Hirn ist und wie oft man Sätze lesen kann, ohne sie wirklich zu verstehen. Die eine oder andere Synapse ist heiß gelaufen, dennoch würde ich diese Hirngymnastik nicht komplett gescheitert nennen.

Das eine oder andere ist hängengeblieben und als echter Sci-Fi Fan und Trekkie alter Schule muss man sich durchbeißen, wenn man sich Hoffnungen auf die Starfleet Academy macht, wobei ich hier definitiv eine Nachhilfe-Stunde bei Data oder Spock bräuchte, um mich durch die Aufnahmeprüfung zu pauken.

Die Fragen, um die es geht in der Astrophysik (oder Astronomie) sind die richtig großen und da es nicht sicher ist, ob wir jemals Antworten bekommen, ist es ein Fach, dem eine Menge Leute liebend gern den Geldhahn zudrehen würden, da das ja alles nicht praktisch genug ist. Aber die Fragen sind immens wichtig:

  • Wie funktioniert das Universum? Wie ist es entstanden, woraus besteht es, was hat es mit den schwarzen Löchern oder schwarzer Materie auf sich?
  • Wo kommen wir her ? Wie entstehen und entwickeln sich Galaxien, Sterne und Planeten aus denen unser Universum besteht?
  • Sind wir alleine? Gibt es da draußen möglicherweise Planeten, auf denen Leben existieren könnte?

Der richtige Einstieg ins Abenteuer Astrophysik bietet der Wissenschaftsjournalist Alexander Mäder, der in der Reclam „100 Seiten“ Reihe Lust macht auf das Thema. Er selbst, ähnlich durch Star Trek sozialisiert, interessiert sich von klein auf für die Welt der Sterne und lädt mit dem Büchlein auf eine Reise durch Raum und Zeit ein. Er erklärt gängige Begriffe wie Quasar, dunkle Materie, Urknall, Supernova usw. Für Einsteiger klasse, Fortgeschrittene werden hier nicht viel Neues finden.

Ich habe aber gemerkt, mir hilft es immer wieder, Einsteiger-Bücher bei bestimmten Themen zu lesen, damit sich nach und nach schwierigere Zusammenhänge doch erschließen und etwas mehr hängen bleibt. Wer es derber und eine Spur lustiger mag, dem rate ich zum Einsteig ins Thema zu „Das Universum ist eine Scheißgegend“ der Science Busters Oberhummer / Puntigam / Gruber, die hauen aber auch schon mal ordentlich zu, empfindliche Gemüter sind bei Mäder auf der sichereren Seite.

Stephen Hawkings „Eine kurze Geschichte der Zeit“ ist da schon ein ganz anders Kaliber. Der Einstieg geht, er führt uns sachte an die Big Bang Theory heran, erklärt wie die enorm hohe Gravität in schwarzen Löchern dazu führt, dass nicht einmal Licht entkommen kann und wie Entropie funktioniert. Entropie bedeutet im Grunde genommen, dass das Universum stets von einem stark geordneten Status in einen weniger geordneten Status übergeht. Wie zum Beispiel bei einer Flasche Parfum. Wenn man den Verschluß abnimmt und die Flasche ein paar Tage offen stehen lässt, wandelt sich das Parfum von einem stark geordneten Status (der Duft in der Flasche)  in einen stark ungeordneten Status (der Duft verflogen im Zimmer).

“The increase of disorder or entropy is what distinguishes the past from the future, giving a direction to time.”

Dieses Beispiel nutzt Hawking um zu erklären, warum Zeitreisen seiner Meinung nach unmöglich sind. Man braucht nur wenig Energie um ein Glas umzuwerfen und es kaputt zu machen, aber jede Menge Energie um das Glas wieder auf den Tisch hochzubefördern und das Glas so zusammen zu setzen, wie es war, bevor es vom Tisch geflogen ist. Es wäre unmöglich, und diese Unmöglichkeit ist, was der Zeit ihre klare Richtung gibt.

Was mich unendlich fasziniert ist die Tatsache, wieviel seltsamer die Realität als alles ist, was sich Science Fiction Autoren so ausdenken. Insbesondere die Relativitätskonzepte oder die Quantenmechanik sind krass und es ist unglaublich schwer, die wirklich zu begreifen.

Ich glaube schon, dass Hawking versucht hat, ein Buch für Laien zu schreiben, aber für jemanden, dem Mathematik und Physik so derart leicht fällt, ist es glaube ich einfach verdammt schwer zu erkennen, wann etwas tatsächlich klar verständlich ist und wann nicht. Sein Konzept der „imaginären Zeit“ muss ich glaube ich noch ein paar Mal lesen oder schauen, ob es irgendwo eine etwas einfachere Erklärung gibt. Dieses ganze time/space quanitifiability Dingens tut meinem Hirn weh, aber ich will das knacken.

“Ever since the dawn of civilisation, people have not been content to see events as unconnected and inexplicable. They have craved an understanding of the underlying order in the world. Today we still yearn to know why we are here and where we came from. Humanity’s deepest desire for knowledge is justification enough for our continuing quest. And our goal is nothing less than a complete description of the universe we live in.”

Aber auch in seiner teilweisen Unverständlichkeit ist „Eine kurze Geschichte der Zeit“ absolut faszinierend. Wer vor dem Buch zurückschreckt, hat vielleicht aber Lust, sich mit dem Hirn dahinter ein wenig zu beschäftigen, daher lasse ich hier mal den Trailer zu „The Theory of Everything“ mit Eddie Redmayne.

“Any physical theory is always provisional, in the sense that it is only a hypothesis: you can never prove it. No matter how many times the results of experiments agree with some theory, you can never be sure that the next time the result will not contradict the theory.”

Meine Hoffnung, Lisa Randall würde es mir mit „Knocking on Heavens Door“ in irgendeiner Weise einfach machen, flog schon nach den ersten paar Kapiteln fröhlich aus dem Fenster. Die Harvard-Dozentin ist mittlerweile ein ziemlicher Star unter den theoretischen Physikern, insbesondere für ihre Forschung im Bereich Hochenergie Physik. Sie hat einen unglaublichen Enthusiasmus für ihr Feld und man möchte ihr einfach folgen und sich mit ihr an Themen wie dem Large Hadron Collider, der Suche nach dem Higgs Boson, bis hin zur  Theorie um das Geheimnis fehlender Antimaterie abzuarbeiten. Ihre Begeisterung kombiniert mit einem sehr angenehmen Schreibstil helfen enorm, wenn man sich auf das schwierige Terrain der Teilchenphysik begeben will.

“Despite my resistance to hyperbole, the LHC belongs to a world that can only be described with superlatives. It is not merely large: the LHC is the biggest machine ever built. It is not merely cold: the 1.9 kelvin (1.9 degrees Celsius above absolute zero) temperature necessary for the LHC’s supercomputing magnets to operate is the coldest extended region that we know of in the universe—even colder than outer space. The magnetic field is not merely big: the superconducting dipole magnets generating a magnetic field more than 100,000 times stronger than the Earth’s are the strongest magnets in industrial production ever made.“

And the extremes don’t end there. The vacuum inside the proton-containing tubes, a 10 trillionth of an atmosphere, is the most complete vacuum over the largest region ever produced. The energy of the collisions are the highest ever generated on Earth, allowing us to study the interactions that occurred in the early universe the furthest back in time.”

Mir gefiel das Kapitel, in dem sich sich ausgiebig mit der Skalierung beschäftigt – vom Universum zu den kleineren Atomen, zu den noch kleineren Protonen bis hin zu den Quarks. Ich fand es spannend, ich habe mich tapfer durchgekämpft, aber ehrlich gesagt hat Ms Randall mein Hirn mit einem derart hohen Datenstrom beschossen, dass die Teilchenphysik teilweise doch zur Antimaterie wurde und mein Hirn irgendwann einem schwarzen Loch glich.

Ich habe eine Menge gelernt, dass Neutrinos sich nicht den physikalischen Gesetzen unterwerfen und sich zumindest für kurze Zeit schneller als das Licht bewegen können, dass auf künftige Zeitreisen hoffende noch immer keinen Grund zum Jubeln haben und auch das Wissenschaftler jede Theorie – und sei es die eigene – immer wieder versuchen zu widerlegen, alles zu hinterfragen, bis eine Theorie nicht länger nur Theorie ist.

Aber ganz ehrlich „Knocking on Heaven’s Door“ war eine Spur zu heftig für mich – zu viel Physik, die ich mit meinem Erbsenhirn nicht meistern konnte. Das ist aber auf gar keinen Fall ein Grund dieses Buch nicht zu lesen. Wenn es jemand schaffen kann, Menschen für Physik zu begeistern und diese besser zu erklären, dann Lisa Randall und selbst wenn man nicht alles versteht, man wird definitiv mehr über die Welt und das Universum wissen als vorher. Ms Randall ist im Übrigen nicht nur wahnsinnig intelligent, witzig und ausgesprochen attraktiv, in ihrer Freizeit schreibt sie dann eben auch noch mal Opern. Nee, ist klar 😉

Das Buch „Unser Mond“ von Heinz Haber habe ich dieser Hirngymnastik zu Ehren wieder vorgekramt. Es gehörte meinem Opa, der mich zum Trekkie machte und mir die Sehnsucht nach den Sternen vererbt hat. Es hat einen ganz wichtigen Platz in meiner Bibliothek. Haber war in den 50er Jahren Chief Science Consultant bei Walt Disney und moderierte in den 60er und 70er Jahren Wissenschaftssendungen im Fernsehen. Falls es euch mal über den Weg läuft, nehmt es mit, es ist durchaus interessant, vielleicht etwas trocken geschrieben, aber danach wollt ihr garantiert auch unbedingt zum Mond fliegen 😉

Keine Empfehlung gibt es von mir für das Buch „Binärcode“ von Christian Gude aus der Zeit Wissenschaftskrimi-Reihe. Der hatte den Charme eines billigen Lokalkrimis und nach knapp 60 Seiten flog der in die Ecke. Dämliche Protagonisten, Astronomie-Thriller aus Darmstadt – nope, das ging gar nicht.

Viel lieber empfehle ich dann noch die spannende Serie „Cosmos“ von Neil deGrasse Tyson, die mich bestens durch mein Hirngymnastik Abenteuer „Astrophysik“ begleitet hat. Spannend, unterhaltsam und gigantische Bilder. Müsst ihr euch unbedingt ansehen:

Hier die Bücher nochmal im Überblick die mich bei dieser Hirngymnastik begleitet haben:

Alexander Mäder – Astrophysik, Reclam Verlag (ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar)
Lisa Randall – Knocking on Heavens Door „Die Vermessung des Universums„, Fischer Verlag
Stephen Hawking – Eine kurze Geschichte der Zeit, Rowohlt Verlag
Heinz Haber – Unser Mond dva Verlag (nur noch gebraucht erhältlich)
Oberhummer/Puntigam/Gruber – Das Universum ist eine Scheißgegend, Hanser Verlag

So – jetzt lasse ich das Hirn erstmal wieder etwas auf normale Betriebstemperatur runterfahren und dann gehts an die nächste Hirngymnastik – bis dahin 🙂

Der Zauberberg – Thomas Mann

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Als ich hörte, Thomas Manns „Zauberberg“ wird das Thema der nächsten Literaturhaus-Ausstellung, nahm ich das als Zeichen, mich nun endlich mit diesem Werk zu beschäftigen. Die Kombination aus richtig fettem Wälzer UND Thomas Mann, führten allerdings schon im Vorfeld zu leichter Schnappatmung und das Vorhaben klang für mich schon ähnlich anstrengend wie die Besteigung des Matterhorns.

Wir haben nicht wirklich die besten Erfahrungen miteinander. Bis auf „Tod in Venedig“ bin ich bei all meinen anderen Versuchen an ihm gescheitert oder er an mir, man weiß es nicht so genau. Ich habe sehr viel und sehr gerne über die Famillie Mann gelesen, mag Erika und Klaus besonders gern, in ganz früher Jugend gefiel mir „Der Untertan“ natürlich, aber puh, der stocksteife ewig nörgelige Thomas mit seinen zugegebenermaßen wunderschönen Sätzen, nope bisher wurde das nix.

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Nun also der „Zauberberg“. Ich will es gar nicht so spannend machen, um die Seite 500 herum habe ich aufgegeben. Es war keine Total-Niederlage. Einen Teil des Sogs, des Zaubers dieser melancholisch-fiebrigen Atmosphäre auf dem Berg, der hat mir schon gefallen, dem konnte ich mich nicht entziehen. Aber letztlich bin ich vielleicht doch zu sehr Identifikationsleser und habe es einfach nicht mehr ausgehalten. Ich wollte Hans Castorp einfach nur noch schütteln und aus seinem Liegestuhl werfen.

Auf der Metaebene ist das alles ja auch richtig gut. Diese Betrachtungen der Zeit auf verschiedenen Ebenen, der erfolglose intellektuelle Reifeprozess des Protagonisten, die philosophischen Debatten der Herren Settembrini und Naphta, die doch nur Schwätzer sind und letztlich auch die Entlarvung der Tuberkulose-Heilpraktiken als reine Abzocke und Scharlatanerie. Alles gut, aber 1000 Seiten hätte ich einfach nicht durchgehalten.

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Die Ausstellung im Literaturhaus hat mir aber auf jeden Fall großen Spaß gemacht. Bin in den Genuss einer Führung gekommen, was meinen Erkenntnisgewinn erheblich vergrösserte. Vom ersten Moment an, wenn man mit der Bahn hoch fährt auf den Berg, hatte ich das Gefühl im „Berghof“ zu sein. Selbst gehustet wurde in jedem Raum, man erfährt eine Menge zu den damals üblichen Behandlungspraktiken, kann sich selbst für einen Moment eine Liegekur verordnen und aus dem Fenster auf die tiefverschneite Berglandschaft schauen.

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„Dem Problem der Toleranz dürften Sie kaum gewachsen sein, Ingenieur. Prägen Sie sich immerhin ein, dass Toleranz zum Verbrechen wird, wenn sie dem Bösen gilt.“

Die Sprache ist wunderschön, die Atmosphäre hat mir stellenweise sehr gefallen, immer dann, wenn es leiser und dunkel-morbid wurde.

„Das verstehe ich nicht!“ sagte Hans Castorp. „Ich verstehe es nicht, wie jemand nicht rauchen kann, – er bringt sich doch, sozusagen, um des Lebens bestes Teil und jedenfalls um ein ganz eminentes Vergnügen! Wenn ich aufwache, so freue ich mich, daß ich tagüber werde rauchen dürfen, und wenn ich esse, so freue ich mich wieder darauf, ja ich kann sagen, daß ich eigentlich bloß esse, um rauchen zu können, wenn ich damit natürlich auch etwas übertreibe. Aber ein Tag ohne Tabak, das wäre für mich der Gipfel der Schalheit, ein vollständig öder und reizloser Tag, und wenn ich morgens sagen müßte: heut gibt’s nichts zu rauchen, – ich glaube, ich fände den Mut gar nicht, aufzustehen, wahrhaftig, ich bliebe liegen. Siehst du: hat man eine gut brennende Zigarre – selbstverständlich darf sie nicht Nebenluft haben oder schlecht ziehen, das ist im höchsten Grade ärgerlich – ich meine: hat man eine gute Zigarre, dann ist man eigentlich geborgen, es kann einem buchstäblich nichts geschehen.“

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Musik spielt eine große Rolle im „Zauberberg“, deren Thema wohl die Überwindung der romantischen Todessehnsucht ist. Es wäre also passend eines dieser Musikstücke auszuwählen für diesen Bericht, allerdings bin ich über die wunderbare Elektro-Band „Gas“ gestolpert, die den „Zauberberg“ vertont hat – für mich war das die passende Begleitmusik zum Buch:

„Der Zauberberg“ ist ein monumentales, intellektuelles Werk, das Geduld und langsames, tiefes Lesen erfordert. Thomas Mann entwickelt auf geradezu grandiose Weise ein Gefühl von Zeitlosigkeit mit bewusst ermüdenden Beschreibungen der diversen obsessiven Gemütszustände der Bewohner, ihrer Feindseligkeiten untereinander und der imaginären Liebesaffären.

Die Geschichte selbst ist relativ einfach, die Erzählweise unglaublich komplex und man fühlt sich beim Lesen wie beim Klettern über einen einfach aussehenden, aber verdammt gefährlichen steilen Abhang.

Für Notfälle sollte man ein Sauerstoffgerät dabei haben, die weniger erfahrenen Alpinisten müssen sonst, wie ich, eventuell die Besteigung des Zauberbergs abbrechen.  Die Ausstellung im Literaturhaus kann ich hingegen jedem ans Herz legen. Die ist wunderschön, spannend und für eine Kurz-Liegekur sehr zu empfehlen.

Einen weiteren sehr schönen Bericht über die Ausstellung findet ihr bei Sätze & Schätze.

Der Zauberberg ist im Fischer Verlag erschienen.

Things Fall Apart – Chinua Achebe

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„Turning and turning in the widening gyre
The falcon cannot hear the falconer,
Things fall apart; the center cannot hold
Mere anarchy is loosed upon the world.

– W. B. Yeats, „The Second Coming“

Chinua Achebe’s „Things Fall Apart“, ein Buch das fast jeder kennt, aber das in meinem Bekanntenkreis zumindest noch niemand gelesen hatte, war die Januarlektüre des Buchclubs.

„Things Fall Apart“ erzählt die Geschichte von Okonkwo. Ein junger Mann, der ziemliche Probleme mit seinem Vater hat, den er schwach und ambitionslos findet. Auf keinen Fall will er einmal so werden wie er. Daher gilt es, um jeden Preis jedes Anzeichen von Schwäche und Herzlichkeit im Keim zu ersticken.

Okonkwo ist ein ziemlicher Tyrann, der seine Ehefrauen und Kinder über das seiner Kultur und Zeit übliche Mass traktiert. Er ist erfolgreich und angesehen, doch das Blatt scheint sich für ihn zu wenden, als er sich mit der geplanten Ermordnung eines Jungen konfrontiert sieht, der wie ein Sohn seit ein paar Jahren in seiner Familie lebt.

Die britische Kolonialisierung und insbesondere die Missionare bringen immer größere Veränderungen mit sich. Achebe macht diesen Effekt sehr deutlich, ohne je in Schwarz-Weiß-Malerei zu verfallen. Denn es gibt niemals nur Verlierer durch Veränderungen. In einer Gesellschaft, in der Stärke irgendwann nicht mehr das Einzige ist, das zählt, haben auch Frauen irgendwann die Möglichkeit, sich durch mehr auszuzeichnen als durch Schönheit und Gehorsam. Auch Zwillinge wären in der Kultur der Igbo irgendwann nicht mehr automatisch zum Tode verurteilt.

“The white man is very clever. He came quietly and peaceably with his religion. We were amused at his foolishness and allowed him to stay. Now he has won our brothers, and our clan can no longer act like one. He has put a knife on the things that held us together and we have fallen apart.”

Ich fand das Buch interessant, aber mehr wie beim Lesen eines Artikels im National Geographic, wirklich gefesselt hat es mich nicht. Der Roman enthält relativ viele unübersetzte Igbo-Worte, was sicherlich zur Authentizität der Geschichte beigetragen hat, für mich hat es den Fluß der Geschichte allerdings wieder und wieder unterbrochen.

„The world has no end, and what is good among one people is an abomination with others.”

Ich bin den Protagonisten nicht wirklich näher gekommen, das liegt aber vielleicht mehr an mir als an Achebe.

Passend zum Buch wurde beim Bookclub-Dinner Yam serviert – schmeckt interessant. Hier ein Bild vom Rest der Wurzel, vor der Zubereitung:

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Bin über die Crash Course Videos auf YouTube (die ich nur empfehlen kann) auf das „Things Fall Apart“-Video von John Green gestolpert, das ich sehr sehenswert fand:

Auf deutsch ist es unter dem Titel „Alles Zerfällt“ bei Fischer Klassik erschienen.

Geliebtes Wesen…Briefe von Vita Sackville-West an Virginia Woolf

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Die Briefe anderer zu lesen hat immer etwas voyeuristisches. Häufig lässt die Spannung allerdings nach einer Weile nach, wenn der Kitzel des Verbotenen nachlässt und gelegentlich langweilt man sich nach einer Weile sogar wenn der Kontext fehlt oder man die Personen nicht einordnen kann, über die geschrieben wird.

Nicht bei diesen beiden. Nicht eine Sekunde lang habe ich mich gelangweilt, ich war gerührt, gespannt, verzweifelt und habe diese tiefe Liebe, Verbundenheit und Leidenschaft bewundert, die diese beiden erstaunlichen Frauen füreinander empfunden haben.

„I am reduced to a thing that wants Virginia.
I composed a beautiful letter to you in the sleepless nightmare hours of the night, and it has all gone: I just miss you, in a quite simple desperate human way. You, with all your undumb letters, would never write so elementary a phrase as that; perhaps you wouldn’t even feel it. And yet I believe you’ll be sensible of a little gap. But you’d clothe it in so exquisite a phrase that it should lose a little of its reality. Whereas with me it is quite stark: I miss you even more than I could have believed; and I was prepared to miss you a good deal. So this letter is really just a squeal of pain. It is incredible how essential to me you have become. I suppose you are accustomed to people saying these things. Damn you, spoilt creature; I shan’t make you love me any more by giving myself away like this — But oh my dear, I can’t be clever and stand-offish with you: I love you too much for that. Too truly. You have no idea how stand-offish I can be with people I don’t love. I have brought it to a fine art. But you have broken down my defenses. And I don’t really resent it.“

Nachdem Vita Sackville-West und Virginia Woolf sich 1922 trafen, begannen sie kurz darauf eine leidenschaftliche Beziehung, die bis zu Woolf’s Selbstmord im Jahr 1941 andauern sollte.

Vita, verheiratet mit dem englischen Diplomaten Harold Nicholson, war zehn Jahre jünger als die ebenfalls verheiratete Virginia Woolf. Ihre Korrespondenz beleuchtet sämtliche Aspekte ihres Lebens, das sie überwiegend getrennt voneinander verbrachten. Es sind innige Liebesbriefe, die aber auch ernsthafte Kritik am literarischen Werk der jeweils anderen beinhalten, Gedanken um ganz alltägliche Dramen, innere Zwiespälte, Auseinandersetzungen, die häufig durch Eifersucht ausgelöst waren, das Ringen um Anerkennung und immer wieder das gemeinsame Glück, wenn sie Zeit und Nähe miteinander verbringen konnten.

Die starke extrovertierte Vita, die ihre Energie kaum im Zaum halten kann, und die zarte, kränkliche, brilliante Virginia hätten nicht gegensätzlicher sein können. Vitas überschäumende Lebenslust reicht nicht nur für einen Ehemann, zwei Kinder und Virginia, immer wieder hat sie Affären mit anderen Frauen, denen sie ebenfalls viel zu geben hat. Keine diese Affären reicht je an die Bedeutung ihrer Beziehung mit Virginia heran, aber sie stillen ihren Appetit, sie holt sich bei anderen, was Virginia ihr nicht geben kann. „Vitas Bedürfnis nach Zuneigung lag stets im Kampf mit ihrem Bedürfnis nach Unabhängigkeit. Virginias Zerbrechlichkeit weckt ihr Gefühl nach Stärke.“

Auch für diese Frauen schreibt sie leidenschaftliche Gedichte und pflegt diese Freundschaften und Korrespondenzen und man fragt sich wirklich, wo sie die Energie hernimmt. Und neben all diesen emotionalen Höchstleistungen schafft sie es noch, mit ihrem Mann die halbe Welt zu bereisen und einige Bücher und Gedichtbände zu veröffentlichen.

Vita, der Lebenssaft, steht ganz für das Fleischliche, das Hier und Jetzt. Die ätherische Virginia verkörpert die stets Unerreichbare, die ganz Intellekt ist und doch so romantisch sein kann.

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Diese romantischen Seiten haben mich sehr überrascht an Virginia. Ich hatte sie mir kühler vorgestellt, viel distanzierter und gänzlich über solch gemeinen Dingen wie Eifersucht stehend.

In diesem Band, der über 500 Briefe enthält aus ihrer knapp 20 jährigen Korrespondenz, bringen DeSalvo und Leaska Konturen und Kontext und lassen uns sehr nah an die beiden heran. Ich hätte gerne mehr Briefe von Virginia gelesen, um diese besondere Beziehung, die soviel mehr als eine einfache Affäre war, noch besser zu verstehen.

Parallel zu den Briefen habe ich das Stück  „Vita & Virginia“  von Eileen Atkins gelesen (Danke an dieser Stelle an Barbara aus Berlin, die die grandiose Idee hatte mir das Stück als auch die Korrespondenz zu leihen), dem dieser Briefwechsel zu Grunde liegt und das in seiner Kürze noch einmal mehr die Intensität vermittelt und die immense intellektuelle Stimulation, die zwischen den beiden herrschte.

“Is it better to be extremely ambitious, or rather modest? Probably the latter is safer; but I hate safety, and would rather fail gloriously than dingily succeed.”

Je mehr ich mich dem Ende des Buches näherte, desto mehr fühlte es sich an „Titanic“ zu schauen, man hofft dieses eine Mal möge es anders enden, möge Virginia sich gegen den Selbstmord entscheiden. Vita war überzeugt davon, dass sie Virginia hätte retten können, wenn sie bei ihr gewesen wäre.

„Ich glaube immer noch, ich hätte sie retten können, wenn ich nur dort gewesen wäre und gewußt hätte, in welche Geistesverfassung sie geriet“.

Vielleicht hatte sie Recht …

Auf jeden Fall möchte ich jetzt unbedingt „Orlando“ lesen und diese BBC-Verfilmung „Portrait of a Marriage“ ist sicherlich auch sehenswert:

 

 

Auf den Körper geschrieben – Jeanette Winterson

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Merken wir wirklich erst wie wichtig uns etwas ist, wenn es nicht mehr länger da ist? Und dass das Maß der Liebe der Verlust ist? Das sind Fragen, mit denen Jeannette Winterson sich und uns beschäftigt. Nicht alle Menschen denke und hoffe ich. Was aber sicherlich stimmt ist, dass es einfacher ist, über eine Beziehung oder Affäre zu schreiben, wenn sie vorbei ist.

Wer Lust hat, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen, wird hier fündig. Menschen die ohne großartigen Plot nervös werden, denen müsste ich eigentlich abraten, wobei ich selbst normalerweise auch ein Plot-Freak bin, bei Winterson allerdings mache ich da immer wieder eine Ausnahme. Winterson lesen ist für mich wie in die Oper gehen. Ich liebe ihre barocke Sprache, ihre überbordenden Bilder und ihre betrunkenen Metaphern.

Das Geschlecht des Erzählers wird uns nicht verraten, was irgendwie ein wenig nervig ist, da eigentlich nur eine Frau als Protagonistin in Frage kommt, so wie sie spricht und agiert. Sie erzählt von ihrer Affäre mit einer verheirateten Frau, Louise, die für sie ihren Mann verlässt. Kurz darauf sieht sich sich allerdings gezwungen Louise wieder freizugeben, da sie erfährt, dass diese an Knochenkrebs leidet und nur ihr Mann, ein Onkologe, sie heilen kann. Das Buch beginnt mit dem Abschiedsbrief an Louise.

„Du sagtest Ich liebe Dich. Warum ist das Unoriginellste, was wir einander sagen können, immer noch das, was wir unbedingt hören wollen? „Ich liebe Dich“ ist stets ein Zitat. Du bist nicht der erste Mensch, der es gesagt hat, ich auch nicht und dennoch: Wenn du es sagst und wenn ich es sage, sprechen wir wie Wilde, die drei Wörter entdeckt haben und sie anbeten. Ich habe sie angebetet, doch nun bin ich allein auf einem Fels, aus meinem eigenen Körper gehauen.“

Beschreibt Winterson in ihrem Buch wirklich die Liebe oder ist es nicht viel mehr Obsession? Oft hatte ich den Eindruck, die Protagonistin ist verliebt in die Idee und das Konzept von Liebe, dass diese ihr kostbarer wird, je unerreichbarer und unerfüllbar sie ist.

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„Louise, in diesem Einzelbett, zwischen diesen knallbunten Laken, werde ich eine Schatzkarte voller Verheißungen finden. Ich werde dich erforschen und in dir schürfen, und du wirst mich nach deinem Willen neu kartographieren. Wir werden jedes des anderen Grenzen überschreiten und uns zu einer Nation machen. Schöpf mich in deine Hände, denn ich bin gute Erde. Iß von mir und laß mich dir süß munden.

Ein Rezensent attestierte der Autorin eine geglückte Mischung aus Virginia Woolf und Charles Bukowski zu sein und ich fand diesen Vergleich sehr treffend.

Bei dem Roman mußte ich unweigerlich an Wintersons Affäre mit Pat Kavanagh, der Ehefrau von Julian Barnes denken, Anfang der 90er Jahre, wobei es sich hier wohl eher nicht um einen Schlüsselroman handelt. Winterson hat in einem Interview bestätigt, ihre Beziehung in ihrem Roman „The Passion“ verarbeitet zu haben. So, genug in der Gerüchteküche gerührt. Ich kann den Roman empfehlen, mich hat er bewegt und die Sprache verzaubert und ich wünsche ihm jede Menge Leser.

„Betrug ist leicht. Man braucht sich nichts einzubilden auf Untreue. Am Anfang kostet es nichts, eine Anleihe zu nehmen, auf das Vertrauen, das jemand in dich gesetzt hat. Du kommst damit davon, du nimmst dir ein bißchen mehr und noch ein bißchen mehr, bis es nichts mehr zu nehmen gibt. Das Seltsame ist, daß deine Hände voll sein müßten von all dem Genommenen, aber wenn du sie öffnest, ist nichts da.“

Hier ein kurzes inspirierendes 5-minütiges Interview, in dem Jeannette Winterson gegrillt wird und in dem ich erfahren habe, dass sie tatsächlich auch eine Opernliebhaberin ist, wie passend 😉

Jacob’s Room – Virginia Woolf

 

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Man beginnt Rezensionen ja am besten mit einem Knaller-Einstieg, also haltet euch fest. Virginia und ich, also wir haben schon –  zu unterschiedlichen Zeiten natürlich –  im gleichen Raum gesessen. Jaaahaaa, jetzt werdet ihr knallgrün im Gesicht vor Neid oder nicht? 😉

Tilton House in Sussex war der einstige Wohnsitz des Ökonomen John Maynard Keynes, der sich bekanntermassen im Bloomsbury Circle herumtrieb und für einen Ökonomen ein überaus spannendes Leben hatte. Sein Haus ist ganz in der Nähe von „Monks House„, in dem Virginia Woolf mit ihrem Mann Leonard lebte und nur wenige Kilometer entfernt von Charleston House, dem Haus ihrer Schwester Vanessa Bell.  Es herrschte ein munteres Hin- und Her zwischen den Häusern, man besuchte sich untentwegt und ging sehr viel spazieren, um die vielen Briefe wegzuschicken, die man sich damals ständig schrieb und die nach Firle zum Post Office gebracht werden mußten. Nur wenige Kilometer entfernt liegt auch das kleine Flüsschen Ouse, in dem sich Virgina Woolfe 1941 ertränkte.

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Tilton House

Ich war zum Reading Weekend dort, einem der wunderbarsten Wochenenden überhaupt. Ich werde demnächst einmal ausführlicher davon berichten. Als Einschlafgeschichte des Gastgebers, Damian Barr, gab es neben einem Schlummertrunk ein paar spannende Ausschnitte aus „The History of Tilton House“ und am nächsten Tag ein Besuch in Monks House.

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Monks House (Foto Caroline Arber)
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Virginia Woolfs Schlafzimmer

Nun aber zum Buch. „Jacob’s Room“ wurde 1922 geschrieben und ist einer ihrer weniger bekannten Romane, wobei er mit seinen knapp 175 Seiten wohl eher eine Novelle ist. Die Einführung von Sue Roe zu Beginn des Buches macht gefühlt fast ein Drittel des Buches aus, ist aber jede Seite wert und ausgesprochen informativ. Hier erfährt man, dass „Jacob’s Room“ ein sehr wichtiges Buch in Woolfs Entwicklung als Schriftstellerin war, da sie dort zum ersten Mal die traditionelle Erzählweise hinter sich lässt und mit dem Experimentieren beginnt. Hier entwickelt sie die Techniken, die sie später in Büchern wie „Mrs Dalloway“ und „To the Lighthouse“ perfektioniert .

Es ist sehr schwer zusammenzufassen, worum es in der Geschichte geht, denn das Buch hat nicht wirklich eine stringente Handlung, keine echte Story. Es ist eigentlich mehr die Charakterstudie eines jungen Mannes, Jacob Flanders, wobei er selbst eigentlich mehr durch seine Abwesenheit gekennzeichnet ist. Wir lernen ihn durch die Augen der anderen kennen. Einige dieser Menschen kennen ihn sehr gut, wie z.B. seine Mutter, sein Mentor, seine Freunde, das Mädchen, das ihn liebt, andere kennen ihn weniger, sind mehr oder weniger zufällige Bekanntschaften. Wir lernen ihn nicht wirklich kennen in diesen Begegnungen und Beschreibungen. Wir erfahren eigentlich nur 100% sicher, dass er Jacob heißt und das er existiert. Alles andere ist subjekiv. Welche beschriebenen Eindrücke richtig sind, welche nicht, wird nicht deutlich. Die Beschreibungen sind fast immer auf eine bestimmte Art und Weise schon richtig, aber dann auch wieder komplett falsch. Jeder einzelne gibt seine Beschreibung aus einer leicht anderen Perspektive ab.

„Melancholy were the sounds on a winter’s night. „

Jacob hinterlässt bei den Menschen einen Eindruck, so viel ist klar. Aber wo er für den einen ein potentieller Schurke ist, ist er für seine Mutter ein neugieriges Bürschlein, für seine Freunde an der Uni ein interessanter Intellektueller und für seine Freundin ein Mann, in den sie sich verliebt. Er ist ein Jedermann ohne ein bestimmtes Profil, wie eine Figur in einem Malbuch, dass die Leute mit den Farben füllen, die sie passend finden.

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Gamekeepers Tower

“It seems that a profound, impartial, and absolutely just opinion of our fellow-creatures is utterly unknown. Either we are men, or we are women. Either we are cold, or we are sentimental. Either we are young, or growing old. In any case life is but a procession of shadows, and God knows why it is that we embrace them so eagerly, and see them depart with such anguish, being shadows. And why, if this — and much more than this is true — why are we yet surprised in the window corner by a sudden vision that the young man in the chair is of all things in the world the most real, the most solid, the best known to us–why indeed? For the moment after we know nothing about him. Such is the manner of our seeing. Such the conditions of our love.”

Das Buch zu lesen war für mich wie die letzten Sommertage erhaschen. Leicht und filigran ist es, Farben spielen eine große Rolle. Ich habe mir bei der Lektüre vorgestellt, mit Barclay, dem wunderbaren Weimaraner aus Tilton House, im Garten zu sitzen und den Bloomsbury Circle beim Picknick zu beobachten oder so. Habe die wechselnden Farben des Meeres gesehen, das sie beschrieben hat, das Grün der Kleider,  den Sonnenuntergang und das wechselnde Licht vor den Londoner Geschäften.

“Every face, every shop, bedroom window, public-house, and dark square is a picture feverishly turned–in search of what? It is the same with books. What do we seek through millions of pages?”

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Ein Buch ist kein Gemälde, aber dieses hier kommt einem Bild schon relativ nahe. Ich muß in der Stimmung sein für „stream of consciousness“-Literatur. Das geht nicht immer. Hier und zu diesem Zeitpunkt hat es wunderbar funktioniert für mich. Es ist leicht und wunderschön, nicht praktisch, hat keine Botschaft. It just is. Wir lernen über Jacob eigentlich am meisten durch die Gegenstände in den Zimmern, die er bewohnt, durch die Bücher die er liebt, seine Möbel, jedoch nicht so sehr durch die Beschreibungen anderer über ihn. Es sind ja in der Tat die Gegenstände und Räume die bleiben, wenn der Mensch selbst längt fort ist.

Der Roman war zu seiner Zeit hoch experimentell, eine absolute Sensation. Virginia Woolf hat sich sehr für Zeit und Raum interessiert, wie wir uns in diesen Dimensionen bewegen. Das Zeit sich immer bewegt, aber eben nicht nur linear, sondern um die Menschen herum. Das wir nie komplett erfasst werden können, dass man immer nur Ausschnitte eines Menschen kennenlernt.

„It is no use trying to sum people up.“ “Nobody sees any one as he is, let alone an elderly lady sitting opposite a strange young man in a railway carriage. They see a whole–they see all sorts of things–they see themselves…” “I am what I am, and intend to be it,‘ for which there will be no form in the world unless Jacob makes one for himself.”

Woolf beschreibt eine melancholische poetische Landschaft, die man am besten in Gummistiefeln durchquert, während man die Briefe zur Post bringt oder die Sonntagszeitungen kauft. Ein kleiner Zwischenstopp im Ram Inn für einen klitzekleinen Whisky ist sehr zu empfehlen.

Das Titelfoto ist natürlich ein ziemlicher Bruch. Die feinsinnige Virginia auf der Wiesn – es gibt wohl kaum einen Ort an dem man sie sich schlechter vorstellen kann. Aber Humor hatte sie, dessen bin ich mir sicher und wer weiß, vielleicht hätte sie ja alles Feinsinnige für einen Nachmittag mal abgeworfen und mit Conchita (die eine Tischgruppe weiter saß) auf den Bänken getanzt. OK – in einem Paralleluniversum in einer anderen Zeit-Dimension vielleicht.

Eine sehr interessante Dokumentation über Virginia Woolf findet ihr hier:

https://www.youtube.com/watch?v=2Hnlsh8WyPE

Das Buch erschien auf deutsch unter dem Titel „Jacobs Zimmer“ im Fischer Verlag.

Alles was ich bin – Anna Funder

 

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Eine Ungarin, eine Deutsche und eine Tasmanierin sitzen in einer Bar in Luang Prabang morgens um 1, trinken Liquid Cocaine und unterhalten sich über …. ja genau, Ernst Toller ! Und die Deutsche muss hier gesagt werden, hatte leider die wenigste Ahnung von allen, da sie noch nie etwas von ihm gelesen, zumindest aber schon von ihm gehört hatte.

Das Buch handelt von einer Gruppe deutscher Dissidenten rund um Ernst Toller und ihren Aktivitäten in den Anfangsjahren von Hitlers Machtübernahme. Ihre Aktivitäten führen dazu, dass sie schließlich aus Deutschland flüchten müssen und sich größtenteils in London niederlassen, wo sie ihre Widerstandsaktivitäten im Untergrund weiterführen. Funder hat über diese Gruppe Freunde und deren Aktivitäten hauptsächlich durch Ruth Blatt erfahren, der einzigen Überlebenden aus der Gruppe, die nach Australien ausgewandert war und sich in Sydney mit Anna Funder anfreundete.

Schon Toller ist jemand, mit dem ich vage einen Namen und seine Rolle im Widerstand in Verbindung brachte, die anderen Protagonisten, wie zum Beispiel die Politikerin Mathilde Wurm, Anna Blatts Ehemann, der Journalist Hans Wesemann oder die charismatische Journalisten Dora Fabian, sie noch viel tiefer ins Dunkel der Geschichte abrutscht und ich bin froh, dass dieses Buch sie zumindest ein Stückchen weit einer breiteren Öffentlichkeit bekannt macht.

„Als Hitler an die Macht kam, lag ich in der Badewanne“. (was für ein erster Satz …)

Mir hat diese persönliche Verbindung eher gefallen, auch die Vermischung von Biografie und Roman, könnte mir aber vorstellen, dass es einige Menschen gibt, denen der Sinn nach mehr Sortenreinheit steht. Ich hatte das Gefühl, dass das Persönliche schnell in den Hintergrund geraten ist und die fiktive Dramatisierung von Ruths Leben und ihren Freunden im Mittelpunkt steht.

Ruth Blatt und ihre Freundin Dora Fabian, die sie von Kindesbeinen an kennt, sind unglaublich mutig in ihren Bemühungen, sich den überall schnell aufsteigenden Nazis zu widersetzen. Ihre Gruppe besteht überwiegend aus Intellektuellen, deren berühmtestes Mitglied der Dramatiker Ernst Toller ist. Sie bekämpfen die Nazis durch Zeitungsartikel und lassen sich durch physische und psychische Gewalt nicht von ihrer Arbeit abhalten. Auch nach ihrer Flucht nach London stellen sie ihre Bemühungen nicht ein, obwohl ihnen die Abschiebung nach Deutschland droht, machen sie unermüdlich weiter. Sie leben in einer unerträglichen Atmosphäre aus Angst, Verrat, Einsamkeit und Unsicherheit, die langsam aber sicher die Feundschaften und Liebschaften der Freundesgruppe untergräbt.

Diese Sorgen und Ängste sind keineswegs unbegründet. Einige werden aufgrund ihrer Aktivitäten zurück nach Deutschland geschickt, es gibt Verräter innerhalb der Gruppe und die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Das Ruth diese Torturen und Gefahren tatsächlich überlebt hat, grenzt für mich an ein Wunder.

Dora und ihre Freundin Mathilde Wurm fand man 1935 tot in ihrer Londoner Wohnung. Ein höchstwahrscheinlich von der Gestapo inszenierter „Selbstmord“. Die britischen Untersuchungsbehörden beschäftigten sich eher oberflächlich mit den Ermittlungen und bestätigen am Ende den vermeintlichen Selbstmord.

Die Geschichte bildet sich aus zwei Erzählsträngen. Da ist einmal Ruth und die Geschichte ihrer Freundschaft mit Dora, erzählt aus heutiger Sicht und Tollers Geschichte seiner Beziehung zu Dora erzählt in New York im Jahr 1939 kurz vor seinem Selbstmord.

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Aus heutiger Sicht und mit dem Wissen was geschehen würde, kann man nur schwer nachvollziehen, dass die mutigen Menschen, die schon so früh vor Hitler warnten und die das Nazi-Regime von Anbeginn an bekämpften, international so wenig Gehör erhielten.

Ein wirklich schön geschriebener Roman, die Sprache einfach und von leiser Melancholie durchzogen. Spannend wie ein Thriller, eine Geschichte über Mut, Selbstlosigkeit, Beharrlichkeit, Verrat, Einsamkeit und Exil, die ich so schnell nicht werde vergessen können. In extremen Situationen sind manche Menschen zu Erstaunlichem fähig, bringen Mut auf, den sie sich wohl selbst so nicht zugetraut hätten. Anna Funder hat diesen heute nahezu vergessenen Menschen ein verdientes Denkmal gesetzt.

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Jetzt gibt wirklich keine Entschuldigung mehr. Ernst Tollers „Eine Jugend in Deutschland“ wird jetzt bestellt und gelesen, mit tasmanischen Teufeln ist nicht zu spaßen und ich bin auch noch neugieriger auf diesen mutigen Toller geworden, als ich es in Laos schon war.

„Am Ende unseres Lebens erinnern wir uns am lebhaftesten an jene, die wir geliebt haben, weil sie es sind, die uns geformt haben. Mit ihrer Hilfe sind wir zu dem geworden, was wir sind, wie eine Pflanze mit der Hilfe eines stützenden Pfahls wächst.“

„Toller beherrschte keinen Smalltalk, keine Kommunikationsebene für Bekannte. Er fixierte dich ein wenig zu lang mit diesen dunklen Augen. Seine einzige Umgangsart, mit jedem, war die vertrauliche. Die Frauen liebten ihn dafür. Er übersprang das ganze quälende Geplänkel, das vage Flirten, und redete, als kenne er sie und sei schon intim mit ihnen gewesen. Wer möchte sich nicht voll und ganz einem Mann hingeben, der sich jederzeit aufopfern würde, um die Welt zu retten?“

„Schmerz ist ebenso egoistisch wie Liebe. Er überwältigt Körper und Geist und nimmt Besitz von ihnen: du bist der Fleisch gewordene Schmerz – es bleibt nichts von dir übrig, das an einen anderen denken kann.“

„Behalte den Kopf oben. Lass die Schweine nicht sehen, wie fertig du bist.“

„Alles was ich bin“ ist im Fischer Verlag erschienen.

The Children’s Book – A. S. Byatt

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Die Booker-Preis Gewinnerin und „Dame Commander of the British Empire“ erzählt in diesem opulenten, mehr als ein Vierteljahrhundert umspannenden Roman, der im Jahr 1895 beginnt und kurz nach Ausbruch des 1. Weltkrieges endet, über die sozialen, politischen und künstlerischen Bewegungen die in dieser Zeit aufblühten, als die verschiedenen Utopien, Ideologien und -ismen (Fabianismus, Freudianismus, Feminismus etc.) darum wetteiferten, eine schönere und bessere Welt entstehen zu lassen.

All das endet mit dem 1. Weltkrieg, als Millionen von Menschen in einem sinnlosen Krieg getötet wurden und halb Europa in Schutt und Asche liegt.

A S Byatts Roman beginnt im South Kensington Museum (heute das Victoria and Albert), wo zwei Jungen einen anderen in seinem Versteck im Museumsuntergrund aufstöbern. Philip ist ein Arbeiterjunge, ein hungriger Oliver Twist, abgehauen aus seinem verarmten, kinderreichen Zuhause mit erbärmlichen Arbeitsbedingungen in einer Porzellanfabrik. Er wird von der erfolgreichen Kinderbuchautorin Olive Wellwood und ihrer Familie aufgenommen. Olive lädt zu einem Mittsommerfest ein, ein Shakespeare-Stück wird aufgeführt, man singt, tanzt und lacht. Für Philip ist es eine magische Welt.

Die Geschichte mehrerer Familien und deren Freunde wird erzählt. Ein Bohemienkreis von Schriftstellern, Freigeistern, Künstlern, Bänkern und Philosophen sucht ein glücklicheres und freieres Leben. Vom Süden Englands über London, Paris bis nach Schwabing gehen sie neue Wege in der Kunst, der Politik, der Erziehung und auch in der Liebe.

“You did not so much mind being -conventionally- betrayed, if you were not kept in the dark, which was humiliating, or defined only as a wife and dependent person, which was annihilating.”

“No child, it is said, has the same parents as any other”

Stets mit von der Partie sind die unglaublich vielen Kinder, die mit ihren unterschiedlichen Talenten und Charakteren versuchen, die Lebensexperimente ihrer Eltern zu verstehen und auch zu überstehen. Die Geschichte handelt von den dunklen Geheimnissen. die es auch in den liberalsten und fortschrittlichsten Familien gibt.

“She didn’t like to be talked about. Equally, she didn’t like not to be talked about, when the high-minded chatter rushed on as though she was not there. There was no pleasing her, in fact. She had the grace, even at eleven, to know there was no pleasing her. She thought a lot, analytically, about other people’s feelings, and had only just begun to realize that this was not usual, and not reciprocated.”

Ich fand die Geschichte durchaus interessant, aber die teilweise minutiös beschriebenen Szenen, die verschwenderische Beschreibung von Kunstwerken, Stoffen, Einrichtungsgegenstände war mir stellenweise zuviel. Ich hab mich in dem Buch gelegentlich etwas verlaufen.

Neben der erfolgreichen Kinderbuchautorin gibt es noch den Keramikmeister Benedict Fludd, der mit seiner eingeschüchterten Familie am Rande der Armut lebt. Er ist der Archetyp des genial-verrückten Künstlers und Philipp wird sein Lehrling. Fludd und Olive sind beide nicht in der Lage, zwischen Kunst und persönlichen Beziehungen eine Grenze zu ziehen. Für die Kunst opfern sie alles – Fludd seine Familie und Olive das Vertrauen ihres Sohnes Tom.

Alle Figuren sind  Suchende, sie leben die Ideen und Utopien der Belle Epoche. Sie sind gebildet und belesen von Austen über Emily Dickinson, Kleist bis Shakespeare. Die Zutaten für diesen Roman waren eigentlich perfekt für mich, das Gesamtergebnis hat mir dennoch nicht wirklich zugesagt. Vielleicht war mir das ganze doch zu enzyklopädisch und selbst die vielversprechensten Handlungsstränge endeten häufig im Nichts.

Ich habe vor Jahren „Besessen“ gelesen und war sehr begeistert. Auch dort musste ich am Anfang etwas kämpfen, konnte es dann aber nicht mehr aus der Hand legen. Das war ganz und gar nicht der Fall hier. Ich habe mich ziemlich gequält muss ich leider sagen.

“No man has a right to dictate another man’s inner life – the furniture inside his skull.”

Das Buch erschien auf deutsch unter dem Titel „Das Buch der Kinder“ im Fischer Verlag.

Disgrace – JM Coetzee

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Auch beim zweiten Lesen ist es kein tröstlicheres Buch. Es verstört, deprimiert, ist großartig und wie immer bei Coetzee ein intellektuelles Abenteuer,, auf das man sich bei ihm einlassen muss.

David Lurie, Professor für Kommunikationswissenschaften, aber eigentlich Spezialist für die englische Romantik in Kapstadt, rutscht aus seinem Leben raus. Die Welt, die er kannte und in der er sich eingerichtet hatte, wird ihm zunehmend fremd. Tapfer bekämpft er die drohende Midlife-Crisis anfangs noch mit regelmäßigem Sex mit einer Prostituierten, einer Sekretärin und dann trifft er auf dem Campus auf seine ehemalige Studentin Melanie. Sie ist nicht wirklich an einem Flirt mit dem fast doppelt so alten Professor interessiert, er aber lässt nicht locker, bis er sie schlussendlich doch in sein Bett bekommt.

„Not rape, not quite that, but undesired nevertheless, undesired to the core. As though she had decided to go slack, die within herself for the duration, like a rabbit when the jaws of the fox close on its neck. So that everything done to her might be done, as it were, far away.“

Die Affäre mit der Studentin Melanie wird in dieser neueren, strengeren Zeit nicht als Kavaliersdelikt oder gar als bewundernswerter, erotischer Handstreich gewertet, er wird aufgrund von „Verfolgung oder Bedrohung von Studenten durch Mitglieder des Lehrkörpers“ angezeigt und vor einen Untersuchungsauschuss zitiert. Er verweigert dort jede Aussage und räumt melancholisch resigniert das Feld.

Er fährt nach seiner Kündigung zu seiner lesbischen Tochter, die alleine auf einer Farm lebt. Aus seiner unselbständigen Tochter ist eine erwachsene Frau geworden, die die Farm gemeinsam mit einem Arbeiter namens Petrus bewirtschaftet. Neben der Landwirtschaft betreibt sie eine Hundepension.

Eines Tages dringen drei schwarze ins Farmhaus ein, schließen Lurie in der Toilette ein, wo er hilflos mit anhören muß wie die drei seine Tochter vergewaltigen. Anschließend rauben sie, was sie an Brauchbarem finden können und erschiessen die Hunde.

„It happens every day, every hour, every minute, he tells himself, in every quarter of the country. Count yourself lucky to have escaped with your life. Count yourself lucky not to be a prisoner in the car at this moment, speeding away, or at the bottem of a donga with a bullet in your head. Count Lucy lucky too. Above all Lucy.

A risk to own anything: a car, a pair of shoes, a packet of cigarettes. Not enough to go around, not enough cars, shoes, cigarettes. Too many people, too few things. What there is must go in circulation, so that everyone can have a chance to be happy for a day. That is the theory; hold on to the theory and to the comforts of the theory. Not human evil, just a vast circulatory system, to whose workings pity and terror are irrelevant.

Schlimmer als die Vergewaltigung selbst ist für Lucy der Hass, den sie währenddessen bei ihren Vergewaltigern spüren konnte. Sie trifft weitreichende, für David nur schwer zu ertragende Entscheidungen. Sie will auf der Farm bleiben, obwohl recht schnell klar wird, dass Petrus mit dem Verbrechen zu tun hatte. Sie wurde bei der Vergewaltigung geschwängert und entschließt sich, das farbige Kind auszutragen und sich unter den Schutz von Petrus‘ Familie zu stellen. Von der herrschenden Rasse und Klasse unterwirft sie sich als emanzipierte Frau den neuen Herren des Landes.

Das Buch ist hart, existentialistisch in einer einfachen, lakonischen Sprache geschrieben. Es verzichtet auf jegliche Zeitsprünge und man kann denke ich, durchaus nachvollziehen wenn man liest, dass Coetzee neben Defoe und Dostojewski auch stark von Beckett beeinflusst ist.

Coetzee wird immer mal wieder vorgeworfen, politisch nicht klar genug Stellung zu beziehen, weder in seinen Büchern noch im richtigen Leben. Seine Bücher brechen unbarmherzig mit dem, was uns normal erscheint und die fehlende moralische Klarheit machen sie zu keiner einfachen Lektüre.

Lurie ist kein übermässig symphatischer Protagonist, den ich aber auch nicht nicht mochte, er hat mir eher leid getan in seiner Hilflosigkeit. Seine Affäre mit Melanie ist ein letztes Aufbäumen, ein letztes Ausleben und Erleben einer Zeit, in die er noch gehörte. Alte Männer wie er schaffen es nicht mehr sich zu ändern und sich an neue Realitäten anzupassen. Aber nicht nur die Menschen leiden viel in diesem Roman, auch die Tiere. Am Ende arbeitet er als Helfer in einer Tierklinik, die Hunde einschläfert und ihnen einen gnadenvollen Tod gewährt. Auf viel mehr scheint auch David Lurie nicht mehr zu hoffen.

J. M. Coetzee hat für seinen Roman „Disgrace“ / „Schande“ 1999 zum zweiten Mal den renommierten Booker Preis bekommen.

That is no country for old men. The young
In one another’s arms, birds in the trees
– Those dying generations – at their song,
The salmon-falls, the mackerel-crowded seas,
Fish, flesh, or fowl, commend all summer long
Whatever is begotten, born, and dies.
Caught in that sensual music all neglect
Monuments of unageing intellect.
An aged man is but a paltry thing,
A tattered coat upon a stick, unless
Soul clap its hands and sing, and louder sing
For every tatter in its mortal dress,
Nor is there singing school but studying
Monuments of its own magnificence;
And therefore I have sailed the seas and come
To the holy city of Byzantium.

(W. B. Yeats)

Das Buch ist 2009 verfilmt worden mit John Malkovich als David Lurie und Jessica Haines als seine Tochter Lucy.

Das Buch ist auf deutsch unter dem Titel „Schande“ im Fischer Verlag erschienen.

Why be happy when you could be normal? Jeanette Winterson

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Es gibt Bücher, die gehen so nah ran, da finde ich es unglaublich schwer, eine Rezension zu schreiben. Vielleicht habe ich daher so lange gewartet, bis ich mich an Jeanette Wintersons „Why be happy when you could be normal“ herantraute. Es ist die Geschichte hinter ihrem Erfolgsroman „Oranges are not the only fruit“, der Mitte der 80er Jahre erschien und ein riesiger Erfolg war. Es ist die analytischere Fortsetzung des semi-autobiographischen „Oranges“.

„Why be happy“ ist überall mit den Worten „heartbreaking and funny“ beschrieben worden und ich habe während des Lesens in der Tat häufig an Olli Schulz‘ „Brichst Du mir das Herz, brech‘ ich Dir die Beine“ gedacht. „Why be happy“ ist kratzig, es tut weh, es macht Mut und immer wieder komme ich an die Frage, die mich beschäftigt wie wenige andere. Warum sind die einen so widerstandsfähig, überleben, kommen anscheinend sogar gestärkt aus solchen Kindheiten heraus, während andere vernarbt und verkrüppelt durchs Leben gehen und nicht drüber wegkommen.

„…upset that there are so many kids who never get looked after, and so they can’t grow up. They can get older, but they can’t grow up. That takes love. If you are lucky, the love will come later. If you are lucky you won’t hit love in the face.

Die Sprache ist knapp und gedrängt, gelegentlich in Notizform, aber das passt einfach zu der Geschichte, die davon handelt, wie sie als kleines Kind von überreligiösen Pfingstgemeindlern adoptiert wird, die hoffen, aus ihr eine Missionarin zu machen, aber stattdessen verliebt sie sich mit 16 in eine Frau. Schlimmer geht es nicht. Mrs. Winterson, die furchteinflössende harsche und total in sich gefangene liebesunfähige Frau, stellt sie vor die Wahl. Trennung von der Frau oder sie fliegt raus. Jeanette entscheidet sich für Letzteres und Mrs. Winterson fragt sie beim Gehen: „Why be happy when you could be normal?“

Ja warum? Jeanette erzählt diese Geschichte, die Suche nach Liebe, danach Dazuzugehören, nicht mehr einfach nur ein Blatt im Wind zu sein, das ziellos irgendwo hin geweht wird, nach einem Heim.

„It is a book full of stories: about a girl locked out of her home, sitting on the doorstep all night; about a tyrant in place of a mother, who has two set of false teeth and a revolver in the duster drawer, waiting for Armageddon…“

Was Jeanette in der Kindheit rettet, sind Bücher. “A book is a door,” entdeckt Winterson in der lokalen Bücherei. “You open it. You step through.” Sie liest sich in die Freiheit. Raus aus dem Kohlenkeller, in dem sie wiederholt eingesperrt war, weg von ihrer prügelnden Mutter. Das einzig gute am Kohlenkeller war, das es die Reflektionsfähigkeit fördert, erinnert sich Jeanette.

Aber Mrs. Winterson ist nicht nur eine ausgenommen strenge Gegnerin, wenn es um Geschlechtsverkehr oder jegliche Interessen außerhalb der Kirchengemeinde geht, auch Bücher gehören zu den Dingen, die auf ihrer persönlichen Bannliste stehen. Das Problem ist “that you never know what’s in it until it’s too late, it’s the same trouble that complicates parenthood.“ Sowenig wie sie bei der Adoption ahnen konnten, welches Baby sie in der Wiege erwartet, so wenig weiß man, auf welche Ideen einen ein Buch bringt.  “The Devil led us to the wrong crib.”

Jeanette versteckt Bücher heimlich unter ihrem Bett, es passen genau 72 Stück unter eine Matratze und irgendwann hat sie mehrere Schichten drunter, die Mrs. Winterson natürlich findet und sie im Garten verbrennt.

„I had no one to help me, but the T. S. Eliot helped me.
So when people say that poetry is a luxury, or an option, or for the educated middle classes, or that it shouldn’t be read at school because it is irrelevant, or any of the strange and stupid things that are said about poetry and its place in our lives, I suspect that the people saying that had things pretty easy.
A tough life needs a tough language – and that is what poetry is. That is what literature offers – a language powerful enough to say how it is.
It isn’t a hiding place. It is a finding place.“

Ohne Bücher ist es so oder so Zeit für Jeanette zu gehen. Sie übersteht den Exorzismus, den ihre Mutter versucht, um sie von der bösen gleichgeschlechtlichen Liebe zu heilen und geht. Sie verlässt das Haus mit 16 und verbringt die nächsten Jahre damit zur Schule zu gehen, in einem geliehenen Auto zu schlafen und sie verdient sich ihren Lebensunterhalt mit Teilzeitjobs. Sie schafft es, sie geht zur Uni, studiert und wird erfolgreich – nur eines schafft sie nicht, wie sie später merkt.

Sie kommt einfach nicht wirklich los von Mrs. Winterson, weder in ihren Büchern noch im wirklichen Leben. Sie wird immer und immer wieder zurückgeholt an die Wunden, die ihr Schreiben im Grunde ausgelöst haben.

“I can’t remember a time when I wasn’t setting my story against hers,”

Dieses letzte Zitat fängt das Buch für mich am besten ein und ich hätte es nie so ausdrücken können – ganz langsam lerne ich aber auch das belonging 🙂

„I have worked hard at being the hero of my own life, but every time I checked the register of displaced persons, I was still on it. I didn’t know how to belong. Longing? Yes? Belonging? No.“

Das Buch erschien auf deutsch unter dem Titel „Warum glücklich statt einfach nur normal“ im Fischer Verlag.