The Buried Giant – Kazuo Ishiguro

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Habe mich lange nicht mehr so schwer getan mit einer Rezension, wie mit dieser. Ich bin ein riesiger Ishiguro Fan. Ich mag seinen eleganten, simplen Schreibstil, die unterschiedlichen Welten die er bevölkert, man weiß bei ihm nie was als nächstes kommt und ich habe mich so sehr auf diesen neuen Roman seit Langem gefreut. Es ist eine wunderschöne Ausgabe und damit vielleicht eines der schönsten Bücher, das ich dieses Jahr gelesen habe, aber komplett warm geworden bin ich nicht mit diesem Roman.

Die Geschichte spielt in England einige Jahre nach König Arthurs Tod und einige seiner mythische Weggefährten, z.B. Sir Gaiwan, sind noch am Leben. Die Atmosphäre gerade am Anfang des Buches ist wunderbar melancholisch, man sieht förmlich den Nebel über den grün-bräunlichen Wäldern und Mooren aufsteigen in dieser spartanisch bevölkerten Welt, die an eine etwas romantischere Version von Mordor erinnert. Ein seltsamer Nebel hat sich über das Land gelegt, der bei der Bevölkerung zu einem merkwürdigen kollektiven Gedächtnisverlust führt.

“There were instead miles of desolate, uncultivated land; here and there rough-hewn paths over craggy hills or bleak moorland. Most of the roads left by the Romans would by then have become broken or overgrown, often fading into wilderness. Icy fogs hung over rivers and marshes, serving all too well the ogres that were then still native to this land. „

Axl und Beatrice sind ein älteres Pärchen, das ihren Sohn besuchen will, an den sie nur noch eine ganz schwache Erinnerung haben. Diese ersten Kapitel, bis sie in einer Gewitternacht in einem verfallenen Haus auf den Bootsmann und die Hexe treffen, fand ich einfach nur großartig. Wundervoll dunkel melancholisch, wundervolle Sprache und voller ungelöster Rätsel. Von der Atmosphäre her ähnlich wie in „Never let me Go“.

“It’s queer the way the world’s forgetting people and things form only yesterday and the day before that. Like a sickness come over us all.”

Auf ihrer Reise treffen sie desweiteren Gaiwan, den ehemaligen Weggefährten König Arthurs. Sie treffen auf Drachen, einen Krieger auf einer undurchschaubaren Mission, einen kleinen Jungen und Mönche mit ziemlich dunklen Motiven. Jeder einzelne hat irgendwie mit ihrer eigenen Reise zu tun.

„The Buried Giant“ ist ein phantastisches Märchen, eine teilweise altmodische Rittergeschichte voller Abenteuer, es wimmelt vor Andeutungen (Arthur und die Ritter der Tafelrunde, Dantes Beatrice?, die altbekannten Volksmärchen und wahrscheinlich noch jede Menge mehr, die ich gar nicht erkannt habe)

Es geht um das Vergängliche, um das Erinnern und das Vergessen um Liebe und Altwerden, um die Unmöglichkeit von Frieden der auf Kampf und Besiegen beruht und um die Frage, was uns zu einem guten Menschen macht.

“For what good’s a memory’s returning from the mist if it’s only to push away another? Will you promise me, princess? Promise to keep what you feel for me this moment always in your heart, no matter what you see once the mist’s gone.”

Was kostet uns das Erinnern, was ist der Preis für das Vergessen? Was möchten wir überhaupt bewahren und welche Erinnerungen geben wir dafür auf?

Im Laufe der Geschichte, hab ich selbst das Gefühl gehabt von dem Nebel erwischt worden zu sein. Je mehr ich gelesen habe, desto mehr hatte ich das Gefühl, irgendwie dement zu werden und der Geschichte nicht mehr wirklich folgen zu können.

Am Ende klärt sich vieles auf, aber man muss sich schon durch den Nebel kämpfen, um zum Kern der Geschichte vorzudrängen. Das erfordert Geduld und Durchsetzungsvermögen, denn er macht mürbe der Nebel. Man nennt die Zeit in der der Roman spielt (die Zeit der Völkerwanderungen etwa 450 AD) im Englischen auch Dark Ages und anfangs dachte ich, der Nebel sei womöglich eine Metapher dafür, aber das war es nicht, wäre vielleicht auch ein wenig zu platt gewesen. Allerdings mußte ich bei dem Begriff „Dark Ages“ ein wenig lachen, wenn man sich so umschaut, aktuelle Nachrichten hört überlegt man durchaus, ob nicht wir es sind, die aktuell in den „Dark Ages“ leben.

“But then again I wonder if what we feel in our hearts today isn’t like these raindrops still falling on us from the soaked leaves above, even though the sky itself long stopped raining. I’m wondering if without our memories, there’s nothing for it but for our love to fade and die.”

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thegreatgraffities.blogspot.co.nz

Ich habe es gerne gelesen, einige Sätze und Kapitel fand ich wunderschön, die Melancholie bezaubernd, die Sprache so poetisch klar, noch einmal würde ich es aber wohl nicht lesen. Die Auflösung macht soviel Sinn am Ende (mag hier jetzt nicht zuviel verraten) und ich habe Sorge, dass einige Leser gar nicht bis zum Ende kommen und die Botschaft (so es denn als eine gedacht war) verlorengeht, was schade wäre.

“Yet are you so certain, good mistress, you wish to be free of this mist? Is it not better some things remain hidden from our minds?“
„It may be for some, father, but not for us. Axl and I wish to have again the happy moments we shared together. To be robbed of them is as if a thief came in the night and took what’s most precious from us.“
„Yet the mist covers all memories, the bad as well as the good. Isn’t that so, mistress?“
„We’ll have the bad ones come back too, even if they make us weep or shake with anger. For isn’t it the life we’ve shared?”

Ein Buch für Drachenbezwinger, die dem Nebel trotzen wollen.

Dieser Soundtrack eignet sich im übrigen phantastisch zu dem Buch:

https://www.youtube.com/watch?v=pxEgGTJCl3I

Das Buch ist auf deutsch unter dem Titel „Der begrabene Riese“ im Blessing Verlag erschienen.

Faust – Johann Wolfgang von Goethe

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Wem das Bildungsbürgertum – warum auch immer – das Asyl verweigert hat, hat mit dem „Buch als Magazin“ die beste Möglichkeit, so einiges nachzuholen. Gerade „Faust“ war für mich im Grunde das Synonym für „muss man gelesen haben, zitieren und inhalieren, wenn man dazugehören will“ und hab lange einen Bogen drum gemacht, was ziemlich dämlich war, denn Faust ist richtig gut.

„Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen;
Ein Werdender wird immer dankbar sein“

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Foto: Heike Neudeck

Aber bevor es hier um den gefrusteten Wissenschaftler und seinem Bund mit dem Teufel geht, muss ich erst noch mal das unglaublich wundervolle Cover loben. Ich liebe Bilder von Planeten,  Mond (wie zB der Blutmond kürzlich) etc und daher ist das Mars-Cover perfekt für mich.

„Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube;
Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind.“

„Nun gut, wer bist Du denn?
Ein Teil von jener Kraft,
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.
Was ist mit diesem Rätselwort gemeint?
Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was ensteht,
Ist wert, dass es zugrunde geht;
Drum besser wär’s, dass nichts entstünde.
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz das Böse nennt,
Mein eigentliches Element.“

OK – Faust also. Wahrscheinlich ist es jetzt vermessen, hier überhaupt über den Inhalt zu schreiben, weil das ja jeder gelesen hat, aber ich wage mich trotzdem mal dran. Der brilliante Faust, der der Wissenschaft und Theologie irgendwie müde geworden ist, versucht es daraufhin mit Magie, aber auch das läßt ihn ziemlich unbefriedigt zurück. Frustriert will er seinem Leben ein Ende bereiten, aber im letzten Moment entscheidet er sich dagegen. Zack – Auftritt Mephistopheles (als Pudel(s) Kern), der Lust, Genuss und  Chaos mit sich bringt.

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Mephistopheles hat eine Wette laufen mit Gott, das er den guten alten Bücherwurm Faust auf die dark side ziehen kann und er bietet Faust einen Handel bzw den berühmten Teufelspakt an: Sollte es Mephistopheles gelingen, Faust mit dem Leben zu versöhnen, wird Faust dem Teufel gehören. Und damit nimmt das ganze höllische Drama aus Arroganz, unerfüllten Wünschen und Selbsttäuschung seinen Lauf.

Hallo Existentialismus !

Faust war anfangs gewöhnungsbedürftig für mich. Die Sprache, die Poesie, hat mich von der ersten Zeile an begeistert, trotzdem dauerte es einen Moment, bis ich im Flow war. Wenn man dann aber „drin“ ist, ist es ein ein wundervoll düsterer, mystischer, einfallsreicher, eloquenter und teilweise abgefahrener Höllenritt.

Faust is totally badass und ich werde auf jeden Fall auch den zweiten Teil lesen. Es war ein spannender Zufall, dass ich „Faust“ genau vor unserem Bookclub November-Buch „The Master and Margerita“ las, sehr passend, kann ich nur sagen.

Im zweiten Teil des Heftes gibt es Reportagen und Interviews, die mit dem Klassiker aus dem ersten Teil mehr oder weniger in Verbindung stehen, gerade in der Faust-Ausgabe fand ich diese Kombi sehr gelungen.

Das Buch als Magazin macht richtig Lust auf Klassiker, daher los, los, los kaufen und Faust lesen oder nochmal lesen und irgendwo auf der Welt wird bestimmt immer gerade das Stück aufgeführt. Da will ich jetzt auch hin.

Die Verzauberung der Welt – Ernst Peter Fischer

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Bevor ich überhaupt richtig lesen konnte, stand für mich fest, ich werde Wissenschaftlerin. Mein erster Berufswunsch war Astronautin, mein größter Wunsch, der sich leider nie erfüllt hat ein Teleskop, mit dem ich mit meinem Opa zusammen die Sterne vom Balkon aus angucken wollte. Meine Beziehung zu den Naturwissenschaften würde ich allerdings eher als eine „skinny love“ bezeichnen, wir sind nie so wirklich zusammengekommen. Ich war eine Weile ziemlich verknallt, die Naturwissenschaften von mir nicht recht überzeugt und die Schule hat dann sehr schnell und nachhaltig für Abkühlung gesorgt – wir sind dann eher entfernte Freunde geblieben. Schade. Ich mag nicht alles auf die Schule schieben, das ist irgendwie zu einfach, aber ein wenig konnte ich mich in Fischers Beschreibung hier schon wiederfinden:

„Kinder (nicht alle, aber viele) kommen ästhetisch neugierig in die Schule, um danach (nicht immer, aber viel zu oft) begrifflich gelangweilt nach Hause geschickt zu werden. Im Unterricht bekommen sie kaum eine Anleitung zum Staunen und Weiterfragen, dafür eine Menge Formeln und Gesetze, die sich abfragen lassen.“

„Ein Kind ist kein Gefäß, das gefüllt, sondern ein Feuer das entzündet werden muß.“ (Francois Rabelais)

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Foto: Scientific American

Ich bin vielleicht daher ein Fan von Büchern die versuchen den Naturwissenschaften ihren Zauber zurückzugeben, der die Leser staunen läßt und ihnen nicht einzig und allein Seite um Seite Formeln um den Kopf haut. Üblicherweise habe ich eine größere Affinität zu anglo-amerikanischen Autoren, die mir oft zugänglicher erscheinen, Wissen humorvoller vermitteln. Eine Besprechung bei Jarg und – ich gebe es beschämt zu – das wunderschöne Cover – haben mich auf „Die Verzauberung der Welt“ aufmerksam gemacht.

Der erste Blick täuscht uns. Worauf es ankommt, ist der zweite Blick, und der zeigt Folgendes: Wissenschaft beginnt immer noch mit rätselhaften Erscheinungen der Natur, aber sie wandelt sie nicht mehr in verständliche Antworten um, sondern in solche, die noch rätselhafter sind als das Ausgangsphänomen. Wissenschaft entwertet nichts, von dem, was sie erklärt. Vielmehr verwandelt sie die wundersamen Geheimnisse der Wirklichkeit in die noch größeren Geheimnisse ihrer Erklärung. Und mit dieser Einsicht kehren wir zur Ausgangsfrage nach der guten Antwort zurück.

Ernst Peter Fischer berichtet über wichtige Entdeckungen berühmter Forscher wie Werner Heisenberg, Max Planck, Albert Einstein oder Peter Higgs. Er versucht Verbindungen herzustellen zwischen Kunst, Literatur und Philosophie und orientiert sich dabei, einem roten Faden gleich, an Novalis:

„Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen eine geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, romantisiere ich es.“

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„Wir können alle dasselbe wissen, müssen aber nicht versuchen, dies mit denselben Symbolen zu erreichen.“

„Wenn Döblin sich beklagt, dass er den Kosmos nicht verstehen kann, weil er mit den mathematischen Begriffen nicht zurechtkommt, dann versucht er ein grundlegendes Bedürfnis durch ein unpassendes Argument zu rechtfertigen. Man muß ihm keinen Nachhilfeunterricht in Tensoranalysis geben. Man muß ihm ein Symbol oder ein Bild vorlegen, das seine Wahrnehmung anspricht, und zwar so, dass dabei das Bild des Kosmos entsteht, das Einstein versteht.“

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Foto: Scientific American

Ich habe den Zauber eines wissenschaftlich-romantischen Blicks auf die Welt ganz deutlich gespürt, auch wenn kritischere Stimmen dem Buch gelegentliche Längen vorwerfen oder wen genau das Buch erreichen soll. Mich hat es erreicht und ich kann es nur allen weiterempfehlen, die wie ich gerne die „romantischen“ Seiten der Naturwissenschaften suchen, die staunen wollen, weiterfragen, weiterlesen. Eine Zeitschrift (und der dazugehörige Blog) die ebenfalls die Verbindung von Naturwissenschaften, Kunst, Kultur und Philsopie propagiert und dabei ganz ausgezeichnetes storytelling praktiziert ist Nautilus.

„Farben sind der Ort wo unser Gehirn und unser Universum sich begegnen“ (Paul Cézanne)

„Echte Probleme haben keine Lösung, sondern eine Geschichte“ (Nicolaus Gomez Davila)

Ansonsten halte ich es mal mit Herrn Dawkins, der wegen seines militanten Atheismus nicht ganz unumstritten ist, den ich aber sehr gerne lese:

„Science is interesting, and if you don’t agree, f**k off!“

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Foto: Scientific American

„Die Verzauberung der Welt“ ist im Pantheon Verlag erschienen.

Auf den Körper geschrieben – Jeanette Winterson

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Merken wir wirklich erst wie wichtig uns etwas ist, wenn es nicht mehr länger da ist? Und dass das Maß der Liebe der Verlust ist? Das sind Fragen, mit denen Jeannette Winterson sich und uns beschäftigt. Nicht alle Menschen denke und hoffe ich. Was aber sicherlich stimmt ist, dass es einfacher ist, über eine Beziehung oder Affäre zu schreiben, wenn sie vorbei ist.

Wer Lust hat, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen, wird hier fündig. Menschen die ohne großartigen Plot nervös werden, denen müsste ich eigentlich abraten, wobei ich selbst normalerweise auch ein Plot-Freak bin, bei Winterson allerdings mache ich da immer wieder eine Ausnahme. Winterson lesen ist für mich wie in die Oper gehen. Ich liebe ihre barocke Sprache, ihre überbordenden Bilder und ihre betrunkenen Metaphern.

Das Geschlecht des Erzählers wird uns nicht verraten, was irgendwie ein wenig nervig ist, da eigentlich nur eine Frau als Protagonistin in Frage kommt, so wie sie spricht und agiert. Sie erzählt von ihrer Affäre mit einer verheirateten Frau, Louise, die für sie ihren Mann verlässt. Kurz darauf sieht sich sich allerdings gezwungen Louise wieder freizugeben, da sie erfährt, dass diese an Knochenkrebs leidet und nur ihr Mann, ein Onkologe, sie heilen kann. Das Buch beginnt mit dem Abschiedsbrief an Louise.

„Du sagtest Ich liebe Dich. Warum ist das Unoriginellste, was wir einander sagen können, immer noch das, was wir unbedingt hören wollen? „Ich liebe Dich“ ist stets ein Zitat. Du bist nicht der erste Mensch, der es gesagt hat, ich auch nicht und dennoch: Wenn du es sagst und wenn ich es sage, sprechen wir wie Wilde, die drei Wörter entdeckt haben und sie anbeten. Ich habe sie angebetet, doch nun bin ich allein auf einem Fels, aus meinem eigenen Körper gehauen.“

Beschreibt Winterson in ihrem Buch wirklich die Liebe oder ist es nicht viel mehr Obsession? Oft hatte ich den Eindruck, die Protagonistin ist verliebt in die Idee und das Konzept von Liebe, dass diese ihr kostbarer wird, je unerreichbarer und unerfüllbar sie ist.

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„Louise, in diesem Einzelbett, zwischen diesen knallbunten Laken, werde ich eine Schatzkarte voller Verheißungen finden. Ich werde dich erforschen und in dir schürfen, und du wirst mich nach deinem Willen neu kartographieren. Wir werden jedes des anderen Grenzen überschreiten und uns zu einer Nation machen. Schöpf mich in deine Hände, denn ich bin gute Erde. Iß von mir und laß mich dir süß munden.

Ein Rezensent attestierte der Autorin eine geglückte Mischung aus Virginia Woolf und Charles Bukowski zu sein und ich fand diesen Vergleich sehr treffend.

Bei dem Roman mußte ich unweigerlich an Wintersons Affäre mit Pat Kavanagh, der Ehefrau von Julian Barnes denken, Anfang der 90er Jahre, wobei es sich hier wohl eher nicht um einen Schlüsselroman handelt. Winterson hat in einem Interview bestätigt, ihre Beziehung in ihrem Roman „The Passion“ verarbeitet zu haben. So, genug in der Gerüchteküche gerührt. Ich kann den Roman empfehlen, mich hat er bewegt und die Sprache verzaubert und ich wünsche ihm jede Menge Leser.

„Betrug ist leicht. Man braucht sich nichts einzubilden auf Untreue. Am Anfang kostet es nichts, eine Anleihe zu nehmen, auf das Vertrauen, das jemand in dich gesetzt hat. Du kommst damit davon, du nimmst dir ein bißchen mehr und noch ein bißchen mehr, bis es nichts mehr zu nehmen gibt. Das Seltsame ist, daß deine Hände voll sein müßten von all dem Genommenen, aber wenn du sie öffnest, ist nichts da.“

Hier ein kurzes inspirierendes 5-minütiges Interview, in dem Jeannette Winterson gegrillt wird und in dem ich erfahren habe, dass sie tatsächlich auch eine Opernliebhaberin ist, wie passend 😉

Meine Woche

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Gesehen: “The Killing of a Chinese Bookie“ von John Cassavetes aus dem Jahr 1977. Ein verschuldeter Nachtclub-Besitzer muß einen chinesischen Buchmacher umbringen, um seine Schulden abzuzahlen. Stellenweise etwas lang, aber grundsätzlich empfehlenswert.

Gehört:  „#1 Crush“ – Garbage, „Vasquez“ – Julia Holter, „Silencio“ – Arvo Pärt, „Milk“ – Garbage

Gelesen: diesen Artikel zum bedingungslosen Grundeinkommen, diesen Artikel über Wohnen und Freundschaften, diesen Artikel über die Schweiz und diesen Artikel über außerirdisches Leben

Getan: einen schönen Abend im Literaturhaus verbracht, ein ganz tolles  Step Up Camp durchgeführt, brav Krankengymnastik gemacht und in Köln ein phantastisches Garbage-Konzert erlebt mit guten Freunden

Gegessen: dieses Kichererbsen-Curry mit Paneer

Getrunken: Kölsch

Gefreut: über eine tolle Anker-Kette die ich geschenkt bekommen hab von einer sehr lieben Freundin

Geärgert: das das Hotel unsere Zimmerbuchung verbasselt hat

Gelacht: A clean house is a sign of a wasted life

Geplant: Arzttermine, ein paar wichtige Meetings, und die Launchparty von „Das Buch als Magazin“ besuchen

Gewünscht: dieses tiny-House

Gekauft: nix

Geklickt: auf diese Fotos von William Reagh

Gewundert: wie oft man OITNB gucken kann, ohne einen Hauch Langeweile zu spüren 😉

Meine Woche

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Gesehen: „Predestination“ mit Ethan Hawke nach einer Kurzgeschichte von Robert A. Heinlein – grandios. Einer der besten Zeitreise-Filme die ich je gesehen habe, den gucke ich sicherlich nochmal.

The Shining“ von Stanley Kubrick. Auch wenn Stephen King selbst wohl nicht so zufrieden gewesen sein soll mit der Verfilmung, ich fand ihn klasse. Dachte aber, ich würde mich mehr gruseln.

Gehört:  „Fight Song“ – Rachel Platten,  „I’m waiting here“ – David Lynch & Lykke Li, „Strange Entity“ – Oscar and the Wolf, „Night – A Landscape with Factory“ – David Lynch & Marek Zebrowski, „Führe mich“ – Rammstein, „Every time the Sun comes up“ – Sharon Van Etten

Gelesen: diesen grandiosen Artikel von Frank Strauss – selten hat ein Text mir derart aus der Seele gesprochen, diesen Artikel im Economist und die Frage was Shakespeare zur Flüchtlingsfrage gesagt hätte, diesen Reiseführer für die 4. Dimension, diesen Artikel über den Pianisten James Rhodes,

Getan: Meetings in Dortmund, Zug gefahren,den eingeklemmten Nerv mit Krankengymnastik bearbeitet, meine Bücher (mal wieder) komplett umsortiert und einen wunderschönen Abend mit tollen Freunden verbracht

Gegessen: Gin-Nudeln mit Tomatensauce und eine sehr leckere Kichererbsensuppe

Getrunken: Basil Smash

Gefreut: nach der Reiserei wieder zu Hause zu sein

Geärgert: fällt mir nix ein

Gelacht: They say I act like I don’t give a fuck – tell them I’m not acting

Geplant: das Step Up Camp erfolgreich durchführen, den Herbstmix im Literaturhaus besuchen und Garbage in Köln sehen

Gewünscht: diesen Schrank

Gekauft: diesen Rucksack und Bettwäsche von Muji

Geklickt: auf diese Rede von Chimamanda Ngozi Adichie

Gewundert: wie warm es nochmal geworden ist

Lesen als Medizin – Andrea Gerk

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Lesen ohne Risiko und Nebenwirkungen ist nur was für Anfänger, im Zweifelsfall jedoch ist Beistand, Beratung und Betreuung durch Bibliotherapeuten eures Vertrauens niemals weit, das lernt man mal minimum bei der Lektüre von Andrea Gerks „Lesen als Medizin“. Diese buchgewordene Liebeserklärung an das Lesen, die Literatur, die Bücherfresser, die Buchhändler, Autoren, die Bibliophilen und Bibliomanen und sonstigen Buchfanatiker, müsste es auf Rezept geben.

Wunderschön gestaltet, anregend und spannend zu lesen – ich habe das Bett einfach gar nicht mehr verlassen, als ich es kürzlich an einem Wochenende am Wickel hatte. Nicht nur die handgeschriebenen Listen bekannter Autoren mit ihren Lebens- und Lieblingsbüchern füllen den eigenen Bücherwunschzettel, überall in den Texten finden sich neue Literaturanregungen und wer nach dieser Lektüre nicht schnurstracks zum Buchhändler rennt, weil er dringend mindestens eines seiner Neuentdeckungen braucht, dem ist nicht mehr zu helfen.

Das Buch gliedert sich in drei größere Abschnitte. Im ersten geht es um Krise, Krankheit, Krieg – Lesen hilft! Es geht weiter mit Gehirn, Geist, Gesundheit – Lesen belebt und endet dann mit Kriminellen, Klosterschwestern, Künstlern – Lesen befreit. Besonders spannend fand ich den Teil zur Bibliotherapie, da ich das Glück hatte, die im Buch erwähnte Bibliotherapeutin Ella Berthoud gleich zweimal bei Reading Weekends in England zu treffen und mit ihr jeweils eine Bibliotherapie-Stunde zu machen. Das war phantastisch, spannend und so dermaßen stimulierend, ich kann eine Bibliotherapie bei der School of Life in London nur empfehlen.

„Richtiges Lesen rettet vor allem, einschließlich vor einem selbst“ (Daniel Pennac)

Schon im 1. Weltkrieg erkannte man die heilende Wirkung von Literatur und Verwundete wurden in Großbritannien und den USA mit Büchern und Zeitungen versorgt. In Großbritannien ist es tatsächlich momentan möglich, sich Bücher verschreiben zu lassen gegen Depressionen, nennt sich „Reading Well – Books on Prescription“ und scheint ein durchaus vielversprechender Weg zu sein, die Heilung zu unterstützen.

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Dieses Buch ist ein Must-Read für alle Bingereader da draußen, ich verteile großzügig Rezepte dafür 😉 Freut euch auf die nächste Erkältung, die die passende Entschuldigung liefert, sich mit dem Buch im Bett zu verkriechen und schon nach den ersten paar Kapiteln fühlt man sich ein bisschen besser.

Als Begleitlektüre empfehle ich „The Novel Cure“ (Die Romantherapie) von Ella Berthoud und Susan Elderkin – auf die danach folgenden Bücherkaufrausch-Nebenwirkungen muss man sich allerdings einstellen.

Das Buch ist im Kein und Aber Verlag erschienen.

Meine Woche

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Artist: L.E.T.

Gesehen: “The Host“ südkoreanischer Film von Bong Joon-ho. Der Film eine abgedrehte Mischung aus Monsterfilm, Familiendrama, Komödie und Gesellschaftssatire. Macht Spaß. Schon Anfang August gesehen, aber ganz vergessen zu erwähnen.

Smoke“ von Wayne Wang nach dem Drehbuch von  Paul Auster Geschichten um einen kleinen Tabakladen in Brooklyn. Unbedingt sehenswert.

Das Mädchen Wadja“ saudi-arabischer Film von Haifaa Al Mansour in dem ein 10jähriges Mädchen um ein Fahrrad kämpft. Beklemmender und sehr berührener Film.

The Jane Austen Book Club“ von Robin Sciword. Ein Buchclub, Jane Austen was will man mehr 😉 Ansonsten eher Schmonzette, aber ganz nett.

The Bletchley Circle“ eine phantastische BBC-Miniserie um 4 Code-Knackerinnen die im 2. Weltkrieg in Bletchley Park arbeiteten und Ihr Talent nach dem Krieg zur Aufklärung komplexer Kriminalfälle nutzen.

Gehört:  Metric – „Too bad, so sad„, Nils Frahm „Says„, Console „Suck and Run„, Boy „We were here„, Dead Weather „I feel Love„, Chemical Brothers „Sometimes I feel so deserted„, Tom Waits „Innocent when you dream

Gelesen: diesen Artikel im New Yorker über Google Books, diesen Artikel im Guardian über Sci-Fi-Literatur rund um den Globus und diesen Artikel über Digitale Vorgesetzte in der FAZ,

Getan: mit der Kettlebell trainiert, mich mit St. Pauli über das eine Tor im Freundschaftsspiel gegen Dortmund gefreut, mich viel mit dem Intranet beschäftigt, eine Freundin verabschiedet die für 3 Jahre nach New York geht und das Streetlife Festival in Schwabing besucht und mal wieder meine Bücher neu sortiert.

Gegessen: Pizza beim Fußball und selbstgemachten Feigensenf

Getrunken: Gin & Tonic

Gefreut: das das erste Fundraising-Projekt das ich unterstützt habe geklappt hat und ich das wunderschöne archiv/e im Briefkasten hatte

Geärgert: das ich den Buchclub nächste Woche verpasse

Gelacht: The fact that Jellyfish have survived for 650 Million years despite not having brains gives hope to many people.

Geplant: Meetings in Dortmund, ein Visualisation-Training in Fulda besuchen und am ersten Wiesn-Sonntag in die Bräurosl, eh klar.

Gewünscht: dieses Outfit, dieses Poster und diese Küche

Gekauft: eine Tüte Gemüse von Etepete und ein neue iPhone-Kabel

Geklickt: auf diese Seite mit interessanten Erfindern und diesen TED-Talk von Barry Schwartz

Gewundert: über meinen abgefahrenen Dinosaurier-Traum im Museum mit Sigmar Gabriel in kurzen Hosen ????

Der Susan Effekt – Peter Hoeg

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Die perfekte dänische Familie, die vor kurzem noch das Titelbild des „Times Magazines“ zierte, steckt plötzlich bis zum Hals in Schwierigkeiten. Die Protagonistin Susan, eine Experimentalphysikerin, sitzt in einem indischen Gefängnis und wird des versuchten Todschlags an ihrem indischen Liebhaber beschuldigt, ihre 17-jährige Tochter hat einen Mönch verführt und deren Zwillingsbruder wurde beim Handel mit gefälschten Antiquitäten erwischt. Auch der Herr Papa hat Dreck am  Stecken und die Polizei auf den Fersen und so lässt Susan sich auf einen Deal mit einem dänischen Offiziellen ein, der sie im Knast besucht und ihr und ihrer Familie Straffreiheit und die Rückkehr nach Dänemark garantiert, wenn sie sich bereit erklärt, das letzte Protokoll der dänischen Zukunftskommission aufzustöbern und ihm auszuhändigen.

„In der dänischen Gesellschaft steht der Mainstream über allem. Wer ihm folgt und tut, was alle andern tun, bekommt Oberwasser und Antrieb und Rückenwind. Man muß bloß seine Ausbildung beenden, bis man dreißig ist, sich einen Mann und eine paar Kinder und eine Villa sichern, bis man vierzig ist, seinen Alkoholverbrauch einteilen, die zwischenzeitlichen Krisen überleben, Standhaftigkeit beweisen und bereit sein, wenn die Kinder aus dem Haus sind, zum letzten langen Endspurt im dänischen Wettlauf anzusetzen, der da heißt „Wer am meisten hat, wenn er stirbt, hat gewonnen.“

Die Wahl ist nicht zufällig auf Susan gefallen, denn die hat eine sehr spezielle Gabe. Sie löst bei jedem absolute Aufrichtigkeit hervor und bringt ihr Gegenüber dazu, in sofortige Geständnisbereitschaft zu verfallen. Eine sehr nützliche Eigenschaft, wenn man hinter ein Geheimnis kommen will.

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„Manche glauben an die Psychologie, das tue ich nicht. Alles ist nur auf einem Substrat von quantenelektrischen Wirkungen beruhende Biochemie.“

Peter Hoeg ist bekannt dafür, starke Frauenfiguren zu erschaffen und Susan steht Fräulein Smilla in nichts nach. Sie ist eine mutige starke hochintelligente Wissenschaftlerin (die auch noch wundervoll kochen kann), die durch nichts aufzuhalten ist und sich da, wo ihre Muskeln nicht hinkommen, auch durchaus mal mit einem eisernen Kuhfuß weiterhilft.

„Es gibt so eine Art von Hintergrundgedudel, Laban. Und nicht nur hier, sondern überall in Dänemark, ich habe das immer gehört. Es ist ein Lied, das davon handelt, dass alles in bester Ordnung ist, keine Sorge, wir haben alles, was wir brauchen. Man kümmert sich u uns, der Herrlichkeiten ist kein Ende, wir brauchenuns nur zurückzulehnen und das Leben zu genießen. Ein Sirenengesang. Er soll uns vergessen lassen, dass wir in einem Zeitfenster leben, das nur ganz kurz offen steht. Er soll uns einen tiefen Hunger vergessen lassen. Aber nicht mit mir, Laban. Verstehst du, ich hab ewig Hunger.“

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Foto: weirdamigo.blogspot.com

Die Zukunftskommission entpuppt sich als eine Gruppe junger Wissenschaftler, Künstler, Spezialisten, die im Jahr 1972 von zwei Forscherinnen, eine davon Susans Lehrerin, die Nobelpreisträgerin Andrea Fink, gegründet wurde mit dem Auftrag, zukunftsgerichtete Gedankenmodelle und -szenarien zu entwickeln, Trends aufzuspüren und Prognosen zu entwerfen.

„Die Wirklichkeit ist eine labile Mischflüssigkeit…“
„Europa ist eine Komfortzone. Wir leben in einem Kino, in dem auf allen vier Wänden Familienfilme gezeigt werden. Der Zusammenbruch gehört nicht der Zukunft an. Er hat schon angefangen.“

Die Kommission fungiert im Untergrund, wählt neue Mitglieder selbständig aus, ist niemandem unterstellt. Die jungen Leute sind dann selbst am meisten überrascht, als mehr und mehr ihrer vorhergesagten Ereignisse tatsächlich eintreffen, wie die Ölkrise, der Golfkrieg etc.  Kein Wunder, dass die Geheimdienste neugierig werden und versuchen die Kommission unter ihre Fuchtel zu bringen.

Die Familie entrinnt bei der Suche nach dem letzten Protokoll nur knapp einem Mordanschlag und wie in bester Agatha Christie Mannier (nur wesentlich brutaler) wird ein Kommissionsmitglied nach dem anderen aus dem Weg geräumt. Ich hatte ein paar Tage lang echte Probleme mit unserer Waschmaschine. Diskusscheiben sind zum Glück keine in meinem Umfeld aufgetaucht, seit ich das Buch beendet habe.

Klingt alles eher unrealistisch und ziemlich durchgeknallt? Ja, das ist es auch. Weltverschwörungstheorien treffen auf Metaphysik, die Zwillinge Thit und Harald erinnern an Salingers Franny und Zooey und Susan wirkt wie eine Mischung aus Lisbeth Salander und Catwoman und doch macht dieser Roman einfach riesigen Spaß.

„Er zeigt auf den Mond, der beinahe voll ist und um die leuchtende Scheibe herum ein opalfarbenes Regenbogenphänomen aufweist, the circle of the moon.
Susan was siehst du? – Refraktion, den supernumerischen Bogen.
Er nickt gedankenvoll. Wir haben das schon öfter gemacht, es ist ein altes Spiel zwischen uns, ein Spiel, das auf die Zeit zurückgeht, als wir uns kennenlernten. Laban weist auf ein physisches Phänomen hin, und wir beschreiben füreinander, was wir sehen.
Wir haben niemals dasselbe gesehen.“

Ein schneller, unterkühlter, sehr eleganter und intelligenter Action-Thriller mit Humor für Leser mit Geek-Gen, die Spaß an schrägen Typen haben.

Das kleine Dänemark rettet die Welt und schenkt uns neben Lisbeth Salander, Pippi Langstrumpf, Smilla Jaspersen nun noch eine weitere skandinavische Powerfrau – Susan Svendsen. Die einzige Action-Heldin, die so viele Titel hat, dass ihre Visitenkarte A5 Format hat. ’nuff said…

Eine weitere tolle Rezension findet ihr hier.

Das Buch ist im Hanser Verlag erschienen.

Tigermilch – Stefanie de Velasco

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Ich habe ohnehin eine Schwäche für Coming-of-age Romane und wenn dann auch noch zwei starke weibliche Protagonistinnen im Mittelpunkt stehen, dann bin ich hoffnungslos verloren. Mir hat die Energie und die Dynamik der Geschichte sehr gut gefallen. Nini ist die etwas melancholischere der beiden, deren Realitätsferne abgefangen wird von der beleseneren tougheren Jameelah, die schon einiges erlebt hat in ihrem jungen Leben.

„Wir müssen üben, für später, für das echte Leben, irgendwann mal müssen wir ja wissen, wie alles geht. Wir müssen wissen, wie alles geht, damit uns keiner was kann.“

Respekt, Bewunderung und Vertrauen sind einige der Qualitäten, die wir in unseren Freunden suchen, die Nini und Jamelah sich gegenseitig geben. Familie ist für sie ein Netzwerk an Menschen, die füreinander da sind. Leicht haben sie es nicht unbedingt. Ninis Vater ist schon lange weg, ihre Mutter liegt ständig katatonisch auf dem Sofa und Jameelah und ihrer Mutter droht die Abschiebung. Das wird uns ohne jegliches Selbstmitleid klar gemacht.

„Mama liegt eigentlich immer auf dem Sofa. Meistens hat sie die Augen zu, aber wenn ich nach Hause komme, dann schlägt sie sie auch manchmal auf und fragt, wo warst du. Wenn sie die Augen aufschlägt, sieht sie immer furchtbar müde aus, so als wäre sie von weit her gereist und dabei nur zufällig auf dem Sofa gelandet, hier bei uns im Wohnzimmer. Eine Antwort will sie, glaube ich, gar nicht haben. Ich hingegen wüßte schon gern, wo sie war, wo sie hinter ihren geschlossenen Augen immer hinreist, all die Stunden, die sie allein auf dem Sofa liegt. Mamas Sofa ist eine Insel, auf der sie lebt. Und obwohl diese Insel mitten in unserem Wohnzimmer steht, versperrt dicker Nebel die Sicht. An Mamas Insel kann man nicht anlegen.“

Gemeinsam durchschippern sie das Limbo zwischen Kindheit und Erwachsensein.  In der Nachbarschaft herrscht ein rauher Umgangston, Kulturen prallen aufeinander und gelegentlich prostituieren sich die beiden mehr zum Üben, als für das Geld. Stefanie de Velasco erspart einem nichts, doch ist Ninis und Jameelas schonungslose Offenheit ohne jede Sentimentalität oft einfach sehr rührend und es gibt unglaublich viele Momente voller unerwarteter Schönheit in diesem wilden, rauen Multi-Kulti Berlin, das einen manchmal eher an die Bronx oder das Tenderloin-Viertel in San Francisco erinnert.  Tigermilchtage und Tigermilchnächte.

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„In der rechten Hand hält er eine Flasche Wein, aus seiner Jackentasche schaut ein zerfleddertes Buch hervor, und das ist nur eine von den hunderttausend Millionen Sachen, die Jameelah so an ihm liebt. Ich kann das überhaupt nicht verstehen, jemand, der so viel liest, keine Ahnung, war daran so toll sein soll, finde ich irgendwie nicht normal.“

„Immer diese Taschentücher, denke ich, wie kleine Stofftiere, nur für Mütter, nur für Sorgen, traurig geknetete Tierchen aus Tränen, jedes mit seiner eigenen Geschichte.“

Niemals wieder im Leben können Fremde im Laufe eines Nachmittags zu besten Freunden werden, die dir genau die Unterstützung bieten, die Du gerade brauchst.

Ich hätte ehrlich gesagt auch gut ohne den Ehrenmord im Buch leben können, den die beiden als Augenzeugen miterleben. Ich wäre ihnen einfach auch so durch Berlin gefolgt und hätte ihnen beim Abenteuer Erwachsen werden zugeschaut.

„Ach, irgendwann, sagt Jameelah, jetzt, jetzt sind die da glücklich, aber irgendwann, irgendwann trennen die sich. Solche Leute glauben, dass das Leben wie Knetgummi ist, dass man alles draus machen kann, aber irgendwann, da wird das Leben sie auseinanderreißen, und dieser Morgen hier im Gemüsegarten, der wird eine Erinnerung sein, die so wehtut, dass sie sich wünschen werden, sie niemals erlebt zu haben. Irgendwann werden sie über das, was sie am glücklichsten gemacht hat, am meisten weinen. Diese Idioten, glauben immerzu an das Gute.“

Tigermilch ist roh, authentisch und tut streckenweise richtig weh. Die beiden Mädchen sind verletzlich und man schließt sie einfach ins Herz, mit ihrer Neugierde auf Sex und die erste Liebe, mit ihrem Glauben an die Freundschaft und die Loyalität. Wenn sie auf Disney Strandtüchern liegen, Tigermilch trinken, diesen wilden Mix aus Milch, Mariacron und Fruchtsaft, der getrunken wird aus einem ausgeleerten Schoko-Müllermilchbecher und die Fragen für Jameelahs Einbürgerungstest üben.

Erwachsen werden ist aufregend und schön, tut aber manchmal auch verdammt weh. Unbedingte Leseempfehlung. Ein wirklich tolles Buch, das wunderbar zu diesem Sommer gepasst hat. Hier gibt es übrigens noch eine weitere ganz tolle Rezension zu Tigermilch. Wirklich tolles Debüt und ich bin gespannt auf das nächste Buch von Stefanie de Velasco.

 

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