Tigermilch – Stefanie de Velasco

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Ich habe ohnehin eine Schwäche für Coming-of-age Romane und wenn dann auch noch zwei starke weibliche Protagonistinnen im Mittelpunkt stehen, dann bin ich hoffnungslos verloren. Mir hat die Energie und die Dynamik der Geschichte sehr gut gefallen. Nini ist die etwas melancholischere der beiden, deren Realitätsferne abgefangen wird von der beleseneren tougheren Jameelah, die schon einiges erlebt hat in ihrem jungen Leben.

„Wir müssen üben, für später, für das echte Leben, irgendwann mal müssen wir ja wissen, wie alles geht. Wir müssen wissen, wie alles geht, damit uns keiner was kann.“

Respekt, Bewunderung und Vertrauen sind einige der Qualitäten, die wir in unseren Freunden suchen, die Nini und Jamelah sich gegenseitig geben. Familie ist für sie ein Netzwerk an Menschen, die füreinander da sind. Leicht haben sie es nicht unbedingt. Ninis Vater ist schon lange weg, ihre Mutter liegt ständig katatonisch auf dem Sofa und Jameelah und ihrer Mutter droht die Abschiebung. Das wird uns ohne jegliches Selbstmitleid klar gemacht.

„Mama liegt eigentlich immer auf dem Sofa. Meistens hat sie die Augen zu, aber wenn ich nach Hause komme, dann schlägt sie sie auch manchmal auf und fragt, wo warst du. Wenn sie die Augen aufschlägt, sieht sie immer furchtbar müde aus, so als wäre sie von weit her gereist und dabei nur zufällig auf dem Sofa gelandet, hier bei uns im Wohnzimmer. Eine Antwort will sie, glaube ich, gar nicht haben. Ich hingegen wüßte schon gern, wo sie war, wo sie hinter ihren geschlossenen Augen immer hinreist, all die Stunden, die sie allein auf dem Sofa liegt. Mamas Sofa ist eine Insel, auf der sie lebt. Und obwohl diese Insel mitten in unserem Wohnzimmer steht, versperrt dicker Nebel die Sicht. An Mamas Insel kann man nicht anlegen.“

Gemeinsam durchschippern sie das Limbo zwischen Kindheit und Erwachsensein.  In der Nachbarschaft herrscht ein rauher Umgangston, Kulturen prallen aufeinander und gelegentlich prostituieren sich die beiden mehr zum Üben, als für das Geld. Stefanie de Velasco erspart einem nichts, doch ist Ninis und Jameelas schonungslose Offenheit ohne jede Sentimentalität oft einfach sehr rührend und es gibt unglaublich viele Momente voller unerwarteter Schönheit in diesem wilden, rauen Multi-Kulti Berlin, das einen manchmal eher an die Bronx oder das Tenderloin-Viertel in San Francisco erinnert.  Tigermilchtage und Tigermilchnächte.

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„In der rechten Hand hält er eine Flasche Wein, aus seiner Jackentasche schaut ein zerfleddertes Buch hervor, und das ist nur eine von den hunderttausend Millionen Sachen, die Jameelah so an ihm liebt. Ich kann das überhaupt nicht verstehen, jemand, der so viel liest, keine Ahnung, war daran so toll sein soll, finde ich irgendwie nicht normal.“

„Immer diese Taschentücher, denke ich, wie kleine Stofftiere, nur für Mütter, nur für Sorgen, traurig geknetete Tierchen aus Tränen, jedes mit seiner eigenen Geschichte.“

Niemals wieder im Leben können Fremde im Laufe eines Nachmittags zu besten Freunden werden, die dir genau die Unterstützung bieten, die Du gerade brauchst.

Ich hätte ehrlich gesagt auch gut ohne den Ehrenmord im Buch leben können, den die beiden als Augenzeugen miterleben. Ich wäre ihnen einfach auch so durch Berlin gefolgt und hätte ihnen beim Abenteuer Erwachsen werden zugeschaut.

„Ach, irgendwann, sagt Jameelah, jetzt, jetzt sind die da glücklich, aber irgendwann, irgendwann trennen die sich. Solche Leute glauben, dass das Leben wie Knetgummi ist, dass man alles draus machen kann, aber irgendwann, da wird das Leben sie auseinanderreißen, und dieser Morgen hier im Gemüsegarten, der wird eine Erinnerung sein, die so wehtut, dass sie sich wünschen werden, sie niemals erlebt zu haben. Irgendwann werden sie über das, was sie am glücklichsten gemacht hat, am meisten weinen. Diese Idioten, glauben immerzu an das Gute.“

Tigermilch ist roh, authentisch und tut streckenweise richtig weh. Die beiden Mädchen sind verletzlich und man schließt sie einfach ins Herz, mit ihrer Neugierde auf Sex und die erste Liebe, mit ihrem Glauben an die Freundschaft und die Loyalität. Wenn sie auf Disney Strandtüchern liegen, Tigermilch trinken, diesen wilden Mix aus Milch, Mariacron und Fruchtsaft, der getrunken wird aus einem ausgeleerten Schoko-Müllermilchbecher und die Fragen für Jameelahs Einbürgerungstest üben.

Erwachsen werden ist aufregend und schön, tut aber manchmal auch verdammt weh. Unbedingte Leseempfehlung. Ein wirklich tolles Buch, das wunderbar zu diesem Sommer gepasst hat. Hier gibt es übrigens noch eine weitere ganz tolle Rezension zu Tigermilch. Wirklich tolles Debüt und ich bin gespannt auf das nächste Buch von Stefanie de Velasco.

 

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6 Kommentare zu “Tigermilch – Stefanie de Velasco

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