Es wird mal wieder Zeit für eine Short and Sweet Session, jedes Einzelne der Bücher hätte eine ausführliche Rezension verdient, die Binge Readerin ist aber zu faul und möchte ihren Stapel wegbekommen, daher hier kurz und knackig die Kurzrezensionen der gelesenen und bisher noch nicht rezensierten Bücher der letzten Wochen.
Ich lasse dem wunderbaren Dandy Fritz J Raddatz den Vortritt, dessen Erinnerungen „Unruhestifer“ mich sehr begeistert haben. Habe ihn ehrlich gesagt erst seit kürzerer Zeit auf dem Radar, ausgelöst meine ich durch ein Interview in „druckfrisch“ vor ein paar Jahren, aber wow – was für eine spannende Persönlichkeit.
Er war meine passende Reisebegleitung nach Hamburg.
Seine Erinnerungen sind eine actionreiche, glamouröse Tour de Force durch den Kulturbetrieb der BRD. Der ehemalige Programmchef des Rowohlt-Verlages und ehemalige Feuilleton-Chef der Zeit hat als Literaturkritiker, Autoren-Entdecker und Feuilletonist überall mächtig Staub aufgewirbelt und kein Stein auf dem anderen gelassen. Für mich waren insbesondere der Anfang, seine Wurzeln, Familienhintergründe und seine späten Erinnerungen von besonderem Interesse, da ich doch mit einigen Namen aus dem früheren Kulturbetrieb nicht wirklich etwas anfangen konnte. Herr Raddatz schaut dem Feuilleton unter den Rock und wir ihm voyeuristisch dabei über die Schulter. Unbedingt kaufen und lesen.
„Unsere Beziehung, die wir – und wir beide wissen, warum – sachlich gehalten haben, weil Nähe nur aus Distanz möglich ist, weil man sich nicht duzt, wenn man sich per Sie näher ist – diese Beziehung sollte erlauben, auch spontan für den anderen da zu sein, ohne sich Intimitäten breit auszuwalzen.“
Von meiner entzückenden Buchmessen-Begleiterin Birgit von Sätze und Schätze habe ich kürzlich passenderweise Raddatz‘ „Bestarium der deutschen Literatur“ geschenkt bekommen, das bot sich natürlich gleich als Anschlusslektüre an. Die literarischen Fabeltiere der Gegenwartsliteratur sind ausgesprochen charmant und die Zeichnungen von Klaus Ensikat absolut meisterhaft.
Jane Jacobs – The Godmother of the American City ist die legendäre Autorin des einflussreichen Buches „The Death and Life of Great American Cities“ das seit seinem Erscheinen 1961 ununterbrochen wieder verlegt wurde und die maßgeblich Einfluss auf die Disziplinen Stadtplanung und städtische Architektur genommen hat.
In der „Last Interview„-Reihe umfasst ihre Interview aus den Jahren 1962, 1978, 2001 und das letzte aus dem Jahr 2005. Die Gespräche beleuchten die einzigartige Karriere der beliebten und einflussreichen Intellektuellen und Aktivistin, die sich schon in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts für eine organische nachhaltige Stadtplanung eingesetzt hat.
Jane Jacobs ist in Deutschland noch recht unbekannt, als Einstieg kann ich diesen Band absolut empfehlen. Eine brilliante Analystin, Ökonomin und politische Kommentatorin, die sich lohnt kennenzulernen.
„Jacobs has probably bludgeoned more old songs, rallied more support, fought harder, caused more trouble, and made more enemies than any other American woman … She is the terror of every politican in town“
Eine unterhaltsame Zugfahrt bereitete mir vor einer ganzen Weile schon Daniel Kehlmanns „F“ – der Roman erzählt von drei Brüdern, die – jeder auf seine Weise – Betrüger, Heuchler, Fälscher sind. Das „F“ hängt von Anfang an schicksalsschwer über ihren Köpfen in Form von Familie, Fälschung, Fehlentscheidungen und das Kapitel mit dem Hypnotiseur war einfach nur brilliant, zum Ende hin ist es etwas abgefallen, aber Kehlmann ist eigentlich immer ein Garant für Unterhaltung auf hohem Niveau.
„Keiner konnte einem helfen. Kein Buch, kein Lehrer. Alles Entscheidende musste man aus eigener Kraft lernen, und gelang es nicht, hatte man sein Leben verfehlt. Iwan fragte sich oft, wie Leute, die nichts Besonderes konnten, das Dasein eigentlich ertrugen.“
Vladimir Nabokovs „Invitation to a Beheading“ verkörpert die reichlich bizarre Vision einer komplett irrationalen und absurden Welt. In der März-Lektüre unseres Bookclubs geht es um einen jungen Mann namens Cincinnatus, der in einem nicht genannten Land im Gefängnis sitzt und auf seine Hinrichtung wartet. Seine Begegnungen dort sind komplett irrational und reichen von Henkern, die sich als Gefangene maskieren, bis hin zu phantastischen Gefängniswärtern und künstlichen Spinnen.
Im Inneren des Traumzustandes herrscht jedoch eine gewisse Logik, die der Erzählung seine Glaubwürdigkeit verleiht: Wir glauben, dass in einem totalitären Staat das Schicksal eines Cincinnatus nur allzu real ist. Das erinnert an die Megalomanie der Tyrannen, die ja leider gerade wieder Hochkonjunktur haben.
“But then I have long since grown accustomed to the thought that what we call dreams is semi-reality, the promise of reality, a foreglimpse and a whiff of it; that is they contain, in a very vague, diluted state, more genuine reality than our vaunted waking life which, in its turn, is semi-sleep, an evil drowsiness into which penetrate in grotesque disguise the sounds and sights of the real world, flowing beyond the periphery of the mind—as when you hear during sleep a dreadful insidious tale because a branch is scraping on the pane, or see yourself sinking into snow because your blanket is sliding off.”
Die Angst eines Sträflings in der Todeszelle wirkt unglaublich beklemmend und man teilt seine Unglauben über seine Umstände, seine Reue für nicht wirklich begangene Verstöße und Misserfolge und seine falsche Hoffnung auf Rettung. Wenn Cincinnatus am Ende auf dem Weg zur Hinrichtung ist, lässt er seinen Henker durch die Kraft seiner Gedanken verschwinden und mit ihm zerfällt die gesamte Welt um ihn herum. Oder nicht?
Cincinnatus hätte sich sicherlich gut mit Kafkas K oder Figuren aus Becketts Stücken verstanden, das Absurde hat nicht jedem in unserem Bookclub zugesagt, auf die wunderschöne Sprache Nabokovs konnten wir uns hingegen absolut einigen. Ich kam aus dem Unterstreichen gar nicht mehr hinaus. „Lolita“ ist nach wie vor mein absoluter Lieblingsroman von Nabokov, aber dieses kleine Büchlein hat es absolut in sich – große Empfehlung von mir.
“What are these hopes, and who is this savior?” “Imagination,” replied Cincinnatus.”
- Fritz J. Raddatz – „Unruhestifter“ ist im Ullstein Verlag erschienen
- Fritz J. Raddatz – „Bestarium der deutschen Literatur“ ist im Rowohlt Verlag erschienen
- Jane Jacobs – „The Last Interview“ ist bei Melville House erschienen
- Daniel Kehlmann – „F“ ist im Rowohlt Verlag erschienen
- Vladimir Nabokov – „Invitation to a Beheading“ ist auf deutsch unter dem Titel „Einladung zur Enthauptung“ im Rowohlt Verlag erschienen
Als „entzückend“ wurde ich damit, glaube ich, das erste Mal bezeichnet 🙂 Offenbar habe ich mich gut benommen 🙂
Es freut mich, dass Dir das Bestiarium gefiel – es ist auch reichlich bissig, so wie Raddatz wohl auch war. Den Unruhestifter muss ich mir nun mal besorgen, klingt gut!
Sehr gut benommen 😉 Wenn Du magst, schicke ich Dir den Unruhestifter. Sag einfach Bescheid …
Ups. Jetzt war ich gerade auf der langen Leitung – warum will sie mir jetzt für mein gutes Benehmen einen Unruhestifter schicken? 🙂 Sonntagnachmittagsflatulenzen 🙂 Aber danke für das nette Angebot, das nehme ich doch gerne an – auf den Raddatz wäre ich schon sehr neugierig!
Der Text von Nabokov klingt wirklich interessant, aber auch ziemlich bedrückend.
Wenn du Lust auf noch mehr Raddatz hast, empfehle ich dir seine Tagebücher von 1982 – 2001, am besten als Hörbuch. Einfach herrlich, wie er ordentlich gegen die Großen des Literaturbetriebs austeilt und ebenso offen seine eigenen Schwächen bloßstellt!
Der Nabokov ist bedrückend stimmt schon, aber mein Text unterschlägt leider etwas, dass es auch durchaus witzig und skurill zugeht. Kafka ist da deutlich düsterer.