180 Grad Meer – Sarah Kuttner

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„I was afraid to be alone
But now I’m scared that’s how I like to be
(Azure Ray)

Würde Sarah Kuttner mal ein heiteres Buch schreiben, ich würde vor Überraschung wahrscheinlich tot in den Schrank fallen. Ich liebe Kuttners tragikomische Bücher schon seit Mängelexemplar, weil es nur wenige Autoren schaffen, mir bekannte Gefühlszustände so zu beschreiben, dass man beim Lesen fürchten muss, gleich Flashbacks zu erleiden.

Mir war zwar bekannt, dass Kuttner eigentlich irgendwie eine Fernsehtante ist, habe sie da aber komplett verpasst, da ich zu der Zeit in London lebte, wo jetzt witzigerweise auch der größte Teil des Romans spielte, was wahrscheinlich für einen zusätzlichen Begeisterungsbonus bei mir sorgte. Und das Azure Ray Zitat. Das trifft bei mir 150% ins Schwarze, davor hab ich auch Angst. Eines meiner absoluten Lieblingslieder.

Als der Vater die Familie verlässt, bleibt Jule mit ihrem kleinen Bruder und einer selbstmordgefährdeten, depressiven Mutter zurück. Sie fühlt sich verantwortlich, vom Vater im Stich gelassen und trägt als Erwachsene so einiges an Ballast mit sich herum.

Für verkorkste Kindheiten mit Folgeschäden bin ich ja prädestiniert und finde es immer wieder spannend, wie sich ähnliche Ausgangssituationen in komplett unterschiedlichen Richtungen entwickeln können. Jule und ihr Bruder könnten fast nicht unterschiedlicher sein. Mein Bruder und ich auch nicht. Obwohl nature und nurture so ähnlich sind. Faszinierend.

Jule ist dauerunzufrieden. Mit sich, ihrem Job, ihren Mitmenschen mit eigentlichem allem. Vor der Nase zufallende Türen können sie genauso innerhalb von Sekunden zum Siedepunkt bringen, wie Fragen nach ihrer Befindlichkeit oder ehrgeizige Kollegen. Eigentlich bringt alles und ständig etwas ihre Aggressionen ans Tageslicht, einzig Sex, bei dem sie sich einfach benutzen lassen kann, bringt kurzfristig ein wenig Entspannung.

Genau solch ein Sex auf Krankenschein bringt dann ihre Beziehung zu ihrem Freund Tim ins Wanken. Sie beschliesst, dringend Urlaub von sich selbst zu brauchen, fliegt nach London und bleibt erst einmal auf unbestimmte Zeit bei ihrem Bruder in dessen WG.

Das Meer ist eine der wenigen anderen Dinge, die Jule richtig gut tun. Daher sucht sie ständig und dauernd Kontakt zum Meer. Bei einem Ausflug mit ihrem Bruder in Brighton eröffnet ihr dieser, dass ihr Vater nur wenige km von Brighton entfernt lebe und krebsbedingt im Sterben liege.

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Jule will sich nicht mit ihm auseinandersetzen, kämpft gegen krebsbedingte und „er ist doch dein Vater“-Erwartungshaltungen an und das hat mir am Buch besonders gefallen. Das Leben ist in der Tat kein Indie-Roadmovie, in dem die Arschloch-Eltern sich kurz vorm Ende drauf besinnen, dass sie ja Nachwuchs in die Welt gesetzt haben und man sich mit diesem ja beschäftigen, reden und eventuell sogar aussöhnen könnte. Nope. Das Leben ist nicht so und dankbarerweise tut auch das Buch nicht so.

Mehr will ich nicht verraten. Lest selbst, es ist ein tolles Buch. Nicht als Bettlektüre zu empfehlen, denn ich habe zweimal so laut gelacht, dass man neben mir nicht mehr weiterschlafen konnte. Mir ist es völlig egal, wieviel Kuttner in Jule steckt, der Hund im Buch ist auf jeden Fall der Kuttner-Hund, den seh ich immerzu vor Augen, ob sie will oder nicht.

Und ich will auch so einen (wie Bonny).

Hier noch ein link zu einer sehr schönen Rezension auf Buchrevier und jetzt bastel ich mal an der Playlist für das Buch:

Azure Ray – November
Catatonia – Londinium
Marilyn Manson – Running to the Edge of the World
Tocotronic – Ich möchte irgendwas für dich sein
Neutral Milk Hotel – In the Aeroplane over the sea

180 Grad ist im Fischer Verlag erschienen.

2015 – The Year in Books

Ja nee hat super geklappt mit meiner Wahl der 10 Lieblingsbücher. Ich kann mich partout nicht entscheiden und schicke jetzt immer zwei ins Rennen. Die Kombi ist eventuell nicht immer einleuchtend, gibt aber schönen Einblick in meine abstrusen Synapsen-Schaltungen.

Es sind die Bücher, die mich am intensivsten beschäftigt haben in diesem Jahr, nicht automatisch die, die mir am besten gefallen haben. Habe nicht viele Bücher gelesen, die mir gar nichts gesagt haben oder die ich schlichtweg schlecht fand.

Vielleicht könnt ihr mir ja helfen mit der Entscheidung. Unter allen die in den Kommentaren hier oder bei Facebook abstimmen verlose ich eines der zur Wahl stehenden Bücher hier (nach Wunsch). Am 10.1. guck ich dann mal, ob es Entscheidungen und einen Gewinner gibt.

Hier kommen die Teilnehmer:

The Goldfinch – Donna Tartt

oder

Die Kunst des Feldspiels – Chad Harbach

Fahrenheit 451 – Ray Bradbury

oder

The Bone Clocks – David Mitchell

Geliebtes Wesen…Briefe von Vita Sackville-West an Virginia Woolf

oder

Anais Nin – Die Tagebücher 1927 – 1929 und 1931 – 1934

The Master and Margarita – Mikhail Bulgakov

oder

Die unheimliche Bibliothek – Haruki Murakami

9 Stories – J. D. Salinger

oder

Meistererzählungen – Stefan Zweig

The Paying Guests – Sarah Waters

oder

Auf den Körper geschrieben – Jeanette Winterson

Cannery Row – John Steinbeck

oder

Der Susan Effekt – Peter Hoeg

Francoise Gilot Die Frau, die nein sagt – Malte Herwig

oder

Bossypants – Tina Fey

Was wirklich Spaß macht ist, sich die jeweiligen „Konkurrenten“ bei einem Treffen vorzustellen. JD Salinger und Herr Zweig beim gediegenen Whisky im Club-Sessel oder Tina Fey die der vornehmen Madame Gilot versehentlich ein Glas Rotwein über die Hose kippt…

Herbstmix im Literaturhaus München

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Die Aussicht auf spannende neue Literatur PLUS Musik UND interessante Drinks hatte meine Herzdame dann doch überzeugt, mich trotz nasskalter Oktobernacht ins Literaturhaus zu begleiten. Der Mix war dieses Mal nicht wie gewohnt im Foyer im 3. Stock, sondern in der Bibliothek des Literaturhauses. Das war in meinen Augen eher ein Gewinn, denn der Raum hat eine tolle Atmosphäre und man wirkt nicht so verloren wie im 3. Stock, auch wenn der Blick dort oben über das nächtliche München natürlich ziemlich umwerfend ist.

Besonders gespannt war ich auf Mercedes Lauenstein, über deren Debüt „Nachts“ ich schon das eine oder andere gelesen und gehört hatte. Als Eule mit Vorliebe für nächtliche Spaziergänge schien das Buch wie für mich geschrieben. Mercedes war dann auch die erste, die die schummrig beleuchtete „Bühne“ betrat und war soooo unglaublich nervös, es war irgendwie entzückend. Sie startete ihre Lesung mit Pink Floyds „Hey You“ und einem sehr leckeren Gin Fizz. Sie liest nicht gerne vor, gab sie selbst freimütig zu, dafür kann sie um so schöner erzählen. Ich war von den nächtlichen Geschichten gefangen und nur kurz besorgt, ob der zweite Gin Fizz nicht das Vorlese-Tempo eventuell noch erhöhen würde.

Es waren eine spannende und unterhaltsame Tour mit ihr durch die Vorstadt-Slums Münchens, auch wenn man über die Autorin selbst erstaunlich wenig erfahren hat. Sie ist aus Kappeln, hält Spaghetti-Eis für eine wahnsinnig wichtige Mahlzeit und schreibt in der jetzt Redaktion der Süddeutschen Zeitung und als freie Autorin für verschiedene Zeitungen und Magazine. Ihre Webseite ist ziemlich hässlich, die Texte darauf allerdings wirklich spannend. Grund genug, das Buch zu kaufen und mit einem Glas Rotwein auf die zweite Autorin zu warten.

IMG_4448 Verena Boos stellte ihr Debüt „Blutorangen“ und leitete ihre Lesung mit der Ouvertüre aus Tschaikowskys „Eugen Onegin“ ein. Das einzige, was Verena Boos und Mercedes Lauenstein zu verbinden scheint, ist der Aufbau-Verlag, mit dem beide debütiert haben. Boos schien gar nicht aufgeregt, hatte als Absolventin der Bayerischen Akademie des Schreibens auch ein Stückchen weit Heimspiel und schien durch ihre Lesungen beim „Open Mike“ auch Vorlese-Routine gewonnen zu haben.

Sie verknüpft in ihrem Roman „deutsche und spanische Geschichte über einen Zeitraum von achtzig Jahren hinweg, mit Eindringlichkeit und narrativer Vielfalt“ (Zitat Thomas Lehr). Die Lesung machte durchaus Lust auf mehr, aber momentan ist mein SUB so hoch, ich muss wirklich selektiv sein, obwohl mich ihre geniale Musikauswahl zum Ausklang mit Policas „Lay your cards out“ fast noch in letzter Sekunde umgestimmt hätten.

Nach Orangenpapier, Spanien und Rotwein ging es dann zum letzten Debütanten, Marcus Lucas, aktuell stellvertretender Chefredakteur des Lifestyle Magazins GQ (und ja, er war auch irgendwie hübsch angezogen), der das Music-Comic „Ice Ice Baby. One Hit Wonders 1955 – 2015“ zusammen mit der Illustratorin Carolin Löbbert, im avant-Verlag veröffentlicht hat.

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Er brachte neben dem interessant klingenden Jägermeister-Mate-Getränk, an das ich mich dann doch nicht mehr herangetraut habe, einen ganzen Sack voll One-Hit-Wonders mit. Von The La’s „There she goes„,  über Maurice Williams & The Zodicas „Stay“ bis hin zu Nenas „99 Red Balloons“ und noch so einige andere, an die ich mich nicht erinnern kann.

Zu jedem Künstler gab es  witzige, traurige, überraschende Geschichten und ich kann mir das Buch als tolles Geschenk unter vielen Weihnachtsbäumen vorstellen.

Ich liebe diese Mix-Veranstaltungsreihe und freue mich schon jetzt auf den Wintermix. Immer wieder neue Eindrücke, neue Autoren, neue Mischgetränke – einfach wunderbar. Für alle Münchner – unbedingt hingehen, macht wirklich riesigen Spaß,  für alle Nicht-Münchner die beste Entschuldigung, endlich mal (wieder) anzureisen.

So – jetzt ab in die Nacht mit Gin Fizz oder vielleicht auch einfach Kamillentee 😉

Literarische Wiesn

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Wiesn und Literatur – da scheint was nicht zusammen zu passen, gerade das hat mich aber neugierig gemacht und ich bin der Einladung des Literaturhauses daher gerne gefolgt und habe mich überraschen lassen. An einem verregneten Tag wie heute kann man sich noch einmal weniger vorstellen, dass noch vor ein paar Wochen so ein strahlend blauer Himmel existieren konnte.

Der Münchner an sich, der geht ja nicht auf die Wiesn. Der geht nur einmal mit den Kindern, einmal mit der Arbeit, einmal mit den Spetzln und einmal, damit er wieder weiß, warum er nicht auf die Wiesn geht – eigentlich 😉 Als Zuageroaste hab ich meine Prinzipien dann mal auf Seite geworfen und bin gleich morgens um 10 Uhr losgezogen, eine für mich doch eher ungewöhnliche Wiesn-Uhrzeit.

Georg Reichlmayr, der nach 17 Tagen Wiesn-Führung schon fast keine Stimme mehr hatte, begleitete uns auf diesem literarisch-historischen Rundgang und hat uns so unglaublich viele, mir völlig unbekannte Ecken gezeigt. Erstaunlich, bin schließlich schon x-mal da gewesen und sicherlich kein Wiesn-Frischling.

Es macht Spaß, die Leute an den Käse- und Wurschtständen kennenzulernen, durch die fast leeren Zelte zu gehen und witzige, spannende, unglaubliche Wiesn-Anekdoten zu hören. Von wegen früher war alles besser und ruhiger und gesitteter. Totaler Schmarrn. Am Maurer-Montag haben sich die Handwerker der Stadt jedes Jahr ordentlich aufs Maul gehauen, ganze Zelte mussten geräumt werden, da wäre heute sofort eine riesige Schlagzeile fällig und Security würde das Gelände doch über Tage und Wochen weiträumig absperren 😉


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Wir haben das Wiesn-Engerl gesucht und gefunden, dass jedes Jahr in einem anderen Zelt angebracht wird, sind dem Bürgermeister zufällig über die Füße gelaufen, haben den Ochsen Max in der Ochsenbraterei bestaunt und erfahren, dass so manches Fahrgeschäft auf der Wiesn älter ist, als die vorgeblich alten auf der „Oidn Wiesn“, die witzigerweise zum Teil Nachbauten der Originale dort stehen haben.

Spannend auch, dass noch bis in die 70er Jahre hinein menschliche „Kuriositäten“ ausgestellt wurden, z.B. beim Schichtl, wo sich schon Joachim Ringelnatz von der kolossal dicken Frau zu dem Gedicht „Emmy der Koloss“ inspirieren ließ:

Die Riesendame der Oktoberwiese
Die Zeltwand spaltete sich weit, 
Und eine ungeheure Glocke wuchtete Herein. 
„Emmy, das größte Wunder unsrer Zeit!“ 
Dort, wo der Hängerock am Halse buchtete, 
Dort bot sich triefenden Quartanerlüsten 
Die Lavamasse von alpinen Brüsten, 
Die majestätisch auseinanderfloß. 
„Emmy, der weibliche Koloß.“ 
Hilflose Vorderschinken hingen 
Herunter, die in Würstchen übergingen. 
Und als sie langsam wendete: – Oho! – 
Da zeigte sich der Vollbegriff Popo 
In schweren erzgegoßnen Wolkenmassen. 
„Nicht anfassen!“ 
Und flüchtig unter hochgerafften Segeln 
Sah man der Oberschenkel Säulenpracht. 
Da war es aus. Da wurde gell gelacht. 
Ich wußte jeden Witz zu überflegeln, 
Und jeder Beifall stärkte meinen Schwung. 
Die Dicke schwieg. Ich gab die Vorstellung. 

Besonders lachten selbst recht runde Leute. 
Ich wartete, bis sich das Volk zerstreute. 

Aus irgendeinem Grund hab ich eine Menge Oskar Maria Graf, Karl Valentin, Gerhard Polt oder Ludwig Thoma erwartet und ja auch bekommen, Leute wie Erika und Thomas Mann, Bert Brecht, Mark Twain oder Thomas Wolfe habe ich mir da nicht so recht vorstellen können.

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Foto: lora924.de

„Die Festwiese, die größte, glaub ich, der Welt, ist herrlich anzuschauen, alle Münchner sind lustig, diese Stadt is wie gemacht für Feste! Feiert sie, zeigt sie ihr wahres Gesicht.“ (Erika Mann)

“ «München hat mich beinahe umgebracht», stöhnte Thomas Wolfe nach einer Wiesnschlägerei. Doch trotz gebrochener Nase und etlicher Platzwunden hielt er seiner Schicksalsstadt zeitlebens die Treue. Kein Ort auf der Welt bezauberte den großen amerikanischen Schriftsteller mehr, kein Ort bescherte ihm – im Guten wie im Bösen – so überwältigende Gefühle.“ Er berichtet über seine Wiesn-Erlebnisse in seinem Roman „Geweb und Fels“

„Kasimir und Karoline“ von Ödön von Horwath war natürlich ebenso vertreten, wie der erste Film der über die Wiesn inszeniert wurde. Das war 1923 und der Produzent und Hauptdarsteller war kein Anderer, als der Münchner Komiker Karl Valentin. „Mit Karl Valentin und Liesl Karlstadt auf dem Oktoberfest“ heißt die Valentinade, ein Kurzfilm. Konnte leider keinen Clip dazu finden. Sonst hätte ich den gerne hier verlinkt.

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Bert Brecht, Karl Valentin und Liesl Karlstadt mit ihrer Schaubude auf der Wiesn, wo sie das Kabarett-Programm „Oktoberfestschau“ aufführten.

Interessant auch, wer verantwortlich war für die Elektrifizierung des Oktoberfests – kein anderer nämlich als der Vater von Albert Einstein, der in München eine eigene Fabrik für elektrische Geräte gegründet hatte (Elektrotechnische Fabrik J. Einstein & Cie). 

Again what learned 😉 Wir hatten nach gut 2 Stunden und etwa 6 km Fußmarsch Hunger und Durst und ließen uns eine sehr leckere, kühle Augustiner-Mass schmecken.

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Wer nächstes Jahr die Wiesn auch mal von einer anderen Seite kennenlernen möchte, dem kann ich eine Stadtführung mit Georg Reichlmayr nur empfehlen. Buchen kann man so eine Tour über http://www.muenchen-stadtführung.de (Literarisch-historischer Rundgang über das Oktoberfest). Herr Reichlmayr hat übrigens auch ein sehr spannendes Buch geschrieben: „Die Geschichte der Stadt München“. Erschienen ist es hier.

Und zum Schluss lassen wir den für mich unerwartetsten Wiesn-Besucher zu Wort kommen, Thomas Mann:

München mit seinen Bauernbällen im Fasching, seiner Märzenbier-Dicktrunkenheit der wochenlangen Monstre-Kirmes seiner Oktoberwiese wo eine trotzig-fidele Volkhaftigkeit, korrumpiert ja doch längst von modernem Massenbetrieb, ihre Saturnalien feierte

Gut, ob er diese Beobachtungen aus eigener Hand hatte wissen wir nicht, aber mir gefällt einfach das Bild eines krachledernen Thomas Mann schunkelnd im Paulaner Zelt oder auf der Schiffschaukel.

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Lesen als Medizin – Andrea Gerk

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Lesen ohne Risiko und Nebenwirkungen ist nur was für Anfänger, im Zweifelsfall jedoch ist Beistand, Beratung und Betreuung durch Bibliotherapeuten eures Vertrauens niemals weit, das lernt man mal minimum bei der Lektüre von Andrea Gerks „Lesen als Medizin“. Diese buchgewordene Liebeserklärung an das Lesen, die Literatur, die Bücherfresser, die Buchhändler, Autoren, die Bibliophilen und Bibliomanen und sonstigen Buchfanatiker, müsste es auf Rezept geben.

Wunderschön gestaltet, anregend und spannend zu lesen – ich habe das Bett einfach gar nicht mehr verlassen, als ich es kürzlich an einem Wochenende am Wickel hatte. Nicht nur die handgeschriebenen Listen bekannter Autoren mit ihren Lebens- und Lieblingsbüchern füllen den eigenen Bücherwunschzettel, überall in den Texten finden sich neue Literaturanregungen und wer nach dieser Lektüre nicht schnurstracks zum Buchhändler rennt, weil er dringend mindestens eines seiner Neuentdeckungen braucht, dem ist nicht mehr zu helfen.

Das Buch gliedert sich in drei größere Abschnitte. Im ersten geht es um Krise, Krankheit, Krieg – Lesen hilft! Es geht weiter mit Gehirn, Geist, Gesundheit – Lesen belebt und endet dann mit Kriminellen, Klosterschwestern, Künstlern – Lesen befreit. Besonders spannend fand ich den Teil zur Bibliotherapie, da ich das Glück hatte, die im Buch erwähnte Bibliotherapeutin Ella Berthoud gleich zweimal bei Reading Weekends in England zu treffen und mit ihr jeweils eine Bibliotherapie-Stunde zu machen. Das war phantastisch, spannend und so dermaßen stimulierend, ich kann eine Bibliotherapie bei der School of Life in London nur empfehlen.

„Richtiges Lesen rettet vor allem, einschließlich vor einem selbst“ (Daniel Pennac)

Schon im 1. Weltkrieg erkannte man die heilende Wirkung von Literatur und Verwundete wurden in Großbritannien und den USA mit Büchern und Zeitungen versorgt. In Großbritannien ist es tatsächlich momentan möglich, sich Bücher verschreiben zu lassen gegen Depressionen, nennt sich „Reading Well – Books on Prescription“ und scheint ein durchaus vielversprechender Weg zu sein, die Heilung zu unterstützen.

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Dieses Buch ist ein Must-Read für alle Bingereader da draußen, ich verteile großzügig Rezepte dafür 😉 Freut euch auf die nächste Erkältung, die die passende Entschuldigung liefert, sich mit dem Buch im Bett zu verkriechen und schon nach den ersten paar Kapiteln fühlt man sich ein bisschen besser.

Als Begleitlektüre empfehle ich „The Novel Cure“ (Die Romantherapie) von Ella Berthoud und Susan Elderkin – auf die danach folgenden Bücherkaufrausch-Nebenwirkungen muss man sich allerdings einstellen.

Das Buch ist im Kein und Aber Verlag erschienen.

Frühlingsmix im Literaturhaus München

1Die ganze Woche Regen, aber pünktlich zum Frühlingsmix zeigte sich München von seiner frühlingshaftesten Seite. Hatte ich am Tag zuvor, ob der Sturzbäche, noch überlegt, den Mix ausfallen zu lassen, da ich wenig Lust hatte, nass wie eine Ratte durch die Gegend zu radeln, hat mich der Frühlingsüberfall am nächsten Morgen leicht überzeugen können, meiner Lieblingsveranstaltung im Literaturhaus nicht untreu zu werden. Texte, Töne und Drinks – was will man mehr?

Dieses Mal waren neben den obligatorischen drei Roman Autoren noch zusätzlich ein Graphic Novel Künstler dabei, es versprach also ein abwechslungsreicher, bunt gemischter Abend zu werden.

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Die erste die sich ans Mikrofon begab und bei einem Gin&Tonic ausfragen ließ, war die Münchnerin Lilian Loke (sehr cooler Name allein schon) zu ihrem Debüt „Gold in den Straßen„, erschienen bei Hoffmann & Campe. Ihr Roman zeichnet das Psychogramm eines Maklers für Luxusimmobilien, der süchtig ist nach Kontrolle und Manipulation. Aus kleinen Verhältnissen stammend hat er den Aufstieg geschafft und versucht jetzt den ganz großen Coup, der vielleicht aber auch sein größter Fehler werden könnte.

https://www.youtube.com/watch?v=m8HQxKhUubc
(Owen Palett – On a path“)

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Sarah Elisa Bischoff wurde als ehemalige Praktikantin des Literaturhauses dann bei einem Gläschen „Inge“ vom Chef selbst in die Mangel genommen und immer wieder fiel er auf ihre bewusst aufgestellte Falle herein, die Hauptfigur ihres Buches „Panthertage – Mein Leben mit Epilepsie“ (Eden Books) mit der Autorin zu verwechseln. Sie gibt viel über Epilepsie preis, nicht aber über sich, die Romanhandlung drum herum ist frei erfunden. Panthertage sind die Tage, an denen ihre epileptischen Anfälle kommen, die sich anfühlen wie Raubtiere, und die Tage danach auch.

Panthertage hat eine halb-schwedische Protagonistin, die Autorin hat Zeit dort verbracht und so erklärt sich wohl auch der Song den sie mitgebracht hat:

https://www.youtube.com/watch?v=Upx_t4YR3X8&list=PLOuo3LsUG_yazWPT_8YhgRexcMWXEeqZN
(Hakan Hellström – Det kommer adrig va över för mig)


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Das Gespräch zwischen Kristine Bilkau und Marion Bösker war dann mein persönliches Highlight. Das hat einfach Spaß gemacht. Bei einem Martini Bianco erfuhren wir zunächst jede Menge über ihren Roman „Die Glücklichen“ aus dem Luchterhand Verlag, in dem das Bild einer verunsicherten Generation gezeichnet wird, die unbedingt immer alles richtig machen wollen. Alle Möglichkeiten zu haben überfordert fast noch mehr, als keine zu haben, insbesondere dann, wenn man sich keine Fehler erlauben will oder glaubt machen zu dürfen.

https://www.youtube.com/watch?v=uERETvmoqNw
(Belle & Sebastian – Waiting for the Moon to rise)

Frau Bösker hatte mächtig recherchiert und viel Wissenswertes zu vermitteln – von den Kosten eines Auftragskillern (ab 242,- €), der emphatielosen Empfehlung des Romans „Die Glücklichen“ von der Zeitschrift Brigitte, bei der gerade ein eiskaltes Lüftchen durch die Arbeitsverträge weht und nahezu alle mit Freiberuflern ersetzt werden sollen,  bis hin zum Sex und was man da wann so denkt.

Ich hätte den beiden noch ewig zuhören können, aber da gab es noch eine Graphic Novel, die man nicht verpassen sollte. Aber weil es so schön war, gibt es ausnahmsweise beide mitgebrachten Songs zu hören:

https://www.youtube.com/watch?v=nBFGzoBkdzI
(David Bowie – Absolute Beginners)

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Jan Soeken stellte dann bei einem „Kümmel Sour“ (ich glaube es klingt nur so schrecklich, es soll laut Frau Wentlandt tatsächlich gut schmecken) seine Grahic Novel „Friends“ (erschienen im Avant Verlag) vor. Das hat riesigen Spaß gemacht. Der Hamburger hat eine Live Comic Show hingelegt, die einen frohlocken ließ. Knurrende Hunde, staubtrockene Dialoge zwischen den beiden Polizisten Thomas und Hermann, die auf dem Weg zu einem Gruppentreffen des baden-württembergischen Ku-Klux-Klan sind und die Wegbeschreibung ist echt kacke.

„Wie du dich wieder aufführst, solltest dich mal sehen! Erst willst du was ändern, willst zum Klan. Dann kommt irgendein Köter und die Mütze ist zu heiß. Du hast den Biss wieder nicht. Weißt nicht, was du willst“

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Als Soeken erzählte, dass das ganze einen sehr realen Hintergrund hat, blieb mal kurz das Lachen im Hals stecken. Unglaublich. Es gab tatsächlich zwei Polizisten aus Baden-Württemberg, die, nach eigener Aussage nur dem Ku-Klux-Klan beitreten wollten, um Frauen kennenzulernen. Äh klar. Oh und die beiden sind wohl noch immer im Dienst. Noch unglaublicher. Und wieso überhaupt ist der Ku-Klux-Klan in Deutschland nicht verboten?

Ich hätte am liebsten alle vorgestellten Titel des Abends gekauft, mich aber erst einmal mit Kristine Bilkau’s „Die Glücklichen“ begnügt – das werde ich hier dann demnächst ausführlicher vorstellen.

Zum Abschluß hören wir Jan Soeken’s mitgebrachten Song „Der Mond“ von Rocko Schamoni:

https://www.youtube.com/watch?v=nLZBK3807iE

Und an alle Münchner – der nächste Mix im Literaturhaus kommt bestimmt: Hingehen, es lohnt sich!

Meistererzählungen – Stefan Zweig

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Pünktlich zur Eröffnung der fabelhaften Zweig Ausstellung im Literaturhaus in München, wollte ich endlich die „Meistererzählungen“ von Stefan Zweig in Angriff nehmen, die schon seit ein paar Jahren in meinem Bücherregal stehen, ich aber aus irgendeinem Grund bislang noch nicht gelesen habe. Auch in der Schule bin ich ihm leider nicht begegnet und um es gleich vorweg zu nehmen, da ist mir in wirklich eine Menge durch die Lappen gegangen. Ich habe mich sofort in Stefan Zweigs Sprache verliebt. Die Geschichten haben mich wirklich vollkommen aus den Schuhen gehauen. Jetzt möchte ich alles von ihm lesen und erfreulicherweise habe ich zumindest seinen einzigen zu Lebzeiten veröffentlichten Roman „Ungeduld des Herzens“ noch hier stehen, bevor ich wieder die Buchhändler beglücke.

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Die Schachnovelle hat mich am tiefsten beeindruckt. Zweig’s finales Werk –  beendet im Brasilianischen Exil, nur Tage vor seinem Selbstmord an seinen Verleger verschickt ist ein beklemmendes beeindruckendes Werk. Es ist die einzige Geschichte in der sich Zweig mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzt.

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Die Geschichte handelt von einem Reisenden auf einem Schiff das auf dem Weg ist von New York nach Buenos Aires. An Bord befindet sich auch der amtierende Schachweltmeister ein dumpfer, unfreundlicher arroganter Typ. Unser Reisender lässt sich zusammen mit einem anderen Passagier auf eine Schachpartie mit dem Weltmeister ein, die dieser sich recht teuer zahlen lässt. Natürlich werden sie umgehend und unprätentiös besiegt, entschliessen sich aber, sich auf eine weitere Partie einzulassen. Es sieht wieder nicht gut für sie aus als ein mysteriöser Passagier ihnen Ratschläge gibt die dazu führen, dass sie den Weltmeister tatsächlich besiegen können.

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Wie der unbekannte geheimnisvolle Fremde zu seinem unglaublichen Schachwissen gekommen ist, ist das Herzstück der Schachnovelle. Ob das Schachspiel den Machtkampf zwischen Hitler und dem Rest der Welt darstellen soll, ich weiß es nicht genau. Zweig hat den ungewissen Ausgang des Schachspiels auf jeden Fall nicht ausgehalten. Er hat sich der Verzweiflung hingegeben, sich in seiner „Zelle“ Brasilien aufgegeben. Hätte er doch nur durchgehalten. Ein paar Jahre später war Hitler schachmatt.

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Besonders beeindruckt hat mich neben der Schachnovelle auch der „Amokläufer“. Wieder eine Geschichte die auf einem Ozeandampfer spielt, wieder ein Mensch der unbedingt eine Beichte ablegen möchte. Überhaupt spielen Geständnisse in Zweig’s als psychologische Studien angelegte Geschichten eine große Rolle. Auch in „Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau“ und „Brief einer Unbekannten“ zum Beispiel – immer die große Lebensbeichte und diese immer wieder in einer Sprache die einen fast dazu bringt, nie wieder etwas schreiben zu wollen, denn nichts wird jemals so gelungen klingen wie ein Satz von Zweig. Mich beschäftigt insbesondere die Frage warum ein weltberühmter, reicher Mann wie Stefan Zweig in den USA kein Visum bekommen konnte. Er war einer der ersten die 1933 ins Exil gingen, zunächst nach London wo er sich eine Wohnung gekauft hatte. Als sechs Jahre später Krieg erklärt wird zwischen Deutschland und England, flüchtet er weiter nach New York. Er wäre gerne dort geblieben, konnte allerdings kein Visum bekommen. Seltsam wenn man bedenkt, dass er zu dieser Zeit der wohl berühmteste und am meisten übersetzte deutschsprachige Autor war.

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Glücklicherweise konnte er ein Visum für Brasilien bekommen und er hat sich dort auch sehr wohl gefühlt. Ihm war wichtig, dass sein Selbstmord nichts damit zu tun hat, dass er sich in Brasilien nicht wohl gefühlt hat. Ich glaube er war einfach müde, depressiv, hat seine Sprache und seine Heimat vermisst und nur wenige Tage vor seinem Selbstmord war ein brasilianisches Schiff von den Deutschen torpediert worden, vielleicht hatte er das Gefühl einfach nie mehr in Sicherheit zu sein, Angst die Nazis könnten auch nach Brasilien kommen. Ich bin auf jeden Fall froh, Stefan Zweig für mich entdeckt zu haben und kann nur jedem die Ausstellung des Münchner Literaturhauses ans Herz legen und lest Stefan Zweig! IMG_1105

WIR BRAUCHEN EINEN ANDEREN MUT !

Wir haben Raketen geangelt – Karen Köhler

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Jaaa das Buch ist in aller Munde und es gibt einen ziemlichen Hype darum, ist mir aber alles ganz und gar egal, denn es ist richtig richtig gut und eines meiner absoluten Lieblinge 2014. Ich hätte das nicht geglaubt, Kurzgeschichten haben es ohnehin immer schwieriger bei mir und wenn unisono alle jubeln, dann bin ich ja von vornherein schon mal ganz besonders kritisch, aber diese 9 Kurzgeschichten haben mich ehrlich umgehauen.

Von der ersten Seite an heißt es anschnallen, festhalten, los gehts, die Achterbahn fährt heute ohne Sicherheitskontrolle direkt los. Diese Frau hat keine Angst vor Gefühlen – die Erzählungen handeln meist vom Verlust, von Krankheit, vom Tod, von der Vergangenheit. In wunderbar poetischer Sprache, viel Humor trotz heftiger Themen und sehr viel Charme  gerät man vom ersten Satz an in einen Sog, dem man sich überhaupt nicht mehr entziehen kann. Das sind wunderschön warme Geschichten für eisig-kalte Wintertage. Ich möchte gar nicht einzeln auf die Geschichten eingehen, es sind jede für sich einzigartige ganz verschiedene kleine Juwelen.

“Ich weiß, ich schulde dir alles. Eine Erklärung. Eine Antwort. Ein Leben vielleicht.”

Bei der Lesung im Literaturhaus vor ein paar Wochen hatte ich dann Gelegenheit, mich ein Weilchen mit ihr zu unterhalten – wir kamen da sehr salopp vom Binge drinking aufs Binge Reading und wieder zurück. Sie ist jemand, die innerhalb kürzester Zeit Nähe aufbauen kann und nach Minuten schon hat man das Gefühl, man kenne sich schon seit Ewigkeiten und habe sich einfach eine Weile nicht gesehen.

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Von den Windpocken hat sie erzählt, die ihr zwar den Auftritt beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb verdarben, aber die ihr auch ein bisserl geholfen haben, Aufmerksamkeit zu bekommen. Und die Aufmerksamkeit verdient sie, denn das sind wirklich richtig gute Erzählungen. Ich würde es ohne Bedenken allen möglichen Leuten zu Weihnachten schenken, man kann damit gar nix falsch machen.

„Komm her. Und bring den Ring mit.“

Köhler ist gelernte Schauspielerin, schreibt Theaterstücke, macht Illustrationen und hat sich auch gleich am eigenen Buch ausgetobt. Ob es das beste Buch für mich ist 2014, darauf mag ich mich noch nicht so richtig festlegen, eines der besten ja, aber auf jeden Fall das mit Abstand schönste.

raketen3 “Ich möchte etwas sagen, irgendetwas, aber ich bin leer, mir fällt nichts ein, nichts, was nicht belanglos wäre. Die Zeit wird dick und ich unter ihrem Gewicht ganz krumm. Mit jedem Augenblick, der verstreicht, wird das Schweigen zwischen uns größer, und die Möglichkeit, es zu überwinden, schrumpft zu einem sehr überschaubaren Häufchen.”

Raketen geangelt, große Gefühle gefangen und ich bin mir auch ziemlich sicher, dass vor Köhlers Auftritt im Literaturhaus München noch nie Metallica durch die heiligen Literaturhallen hallten. Das passende Getränk zum Buch ist im Übrigen natürlich die polnische Rakete, die wir an dem Abend auch noch kennenlernen durften. Rezept gefällig ? Ganz einfach:

4cl Wodka
1cl Himbeersirup
10 Tropfen roten Tabsco

und los fliegt die Rakete!

Sehr schöne Rezensionen zu „Wir haben Raketen geangelt“ – findet ihr hier und hier.

Ein Stern ist aufgegangen

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Bingereader war ausgesprochen artig dieses Jahr und hat sich und der Leseecke deshalb selbst zu Weihnachten diesen prachtvollen, wunderbaren, einzigartig schönen und wundervoll kalligrafierten Stern geschenkt. Da kamen vor kurzem einfach zwei Sachen zusammen. Bei Birgit von Sätze & Schätze eines der schönsten und passendsten Gedichte überhaupt entdeckt, sich umgehend einen Rilke-Gedichtband zugelegt und dann bei Queen Sandra of Kalligrafie  „Art of Confusion“ diese tollen Sterne entdeckt.

Also zack Text rübergebeamt und Sandra die Feder spitzen lassen und schon ein paar Tage später halte ich das Prachtstück in den Händen und gleich installiert.

Hammer unglaublich schön, oder ? Meine Leseecke war vorher schon muggelig – aber jetzt, jetzt will ich hier gar nicht mehr raus.

Das Gedicht hat nicht ganz auf den Stern gepasst und es ist auf dem Foto auch etwas schwierig zu lesen, daher hier noch einmal das gute Rilke Stück in ganzer Länge.

Geduld

Und ich möchte dich,
so gut ich kann bitten,
Geduld zu haben gegen alles Ungelöste
in deinem Herzen,
und zu verstehen.
Die Fragen selbst liebzuhaben
wie verschlossene Stuben
und wie Bücher, die in einer fremden Sprache
geschrieben sind.
Forsche jetzt nicht nach Antworten,
die dir nicht gegeben werden können,
weil du sie nicht leben könntest.
Und es handelt sich darum,
alles zu leben.
Vielleicht lebst du dann
allmählich – ohne es zu merken –
eines fernen Tages in die Antwort hinein.
(Rainer Maria Rilke)

Herbstmix im Literaturhaus München

Madeleine Prahs

Das ist meine absolute Lieblingsveranstaltung im Literaturhaus – der Mix. Drei Autoren lesen aus ihren – häufig Debüt – Romanen, bringen ihr Lieblingsgetränk und zwei Lieblingssongs mit. Perfekt.

Als erstes ging Madeleine Prahs an den Start, die mit ihren knapp 25 Jahren einen witzigen und klugen Wende-Roman geschrieben hat. Die Stelle, als der zauselige Rentner Fritsche unversehens von seiner Altenpflegerin zum Babysitter mißbraucht wird, war irre komisch. Ich kann das Buch nur empfehlen und hätte es doch kaufen sollen, hab es nur aus Vernunftsgründen nicht gemacht. Aber ich denke, das muß noch her.

Prah aufgrund des Bahnstreiks mit dem knallgelben Postbus aus Leipzig angereist, ist München nicht fremd. Sie hat in München und Leningrad studiert, dort hat sie auch die gleichnamige Band kennengelernt. Geboren in der ehemaligen Karl-Marx-Stadt und aufgewachsen am Ammersee, hat es sie nach Leipzig verschlagen, wo sie nun eigentlich auch gerne bleiben möchte.

Auch an ihr mitgebrachtes Getränk die „Polnische Rakete“ hab ich mich nicht dran getraut, auch das werde ich nachholen – versprochen.

Martin Lechner

Martin Lechner, Autor von „Kleine Kassa“

Die „Kleine Kassa“ war nicht ganz so meins. Irgendwie wirr, hab beim Vorlesen recht schnell den Faden verloren und mich hat das etwas bemüht kafkaeske Lüneburger Heiden-Roadmovie nicht wirklich in seinen Bann ziehen können. Getrunken wurde Whisky Sour, auch den hab ich an diesem Abend nicht haben wollen. Herr Lechner mag ein wirklich wunderbarer Mensch sein, aber ich wollte ihm sehr sehr dringend eine neue Frisur verpassen. Die hat mich glaube ich doch sehr von seinem Buch abgelenkt.

Der 1974 in der Lüneburger Heide geborene Lechner ist mit seinem Debüt-Roman mal direkt auf der Longlist des Deutschen Buchpreises gelandet. Respekt. Von daher liegt es sicherlich eher an meinem individuellen Geschmack, als an der literarischen Güte des Romans. Wenn gleich am Lesungsabend die Damen verkaufstechnisch deutlich die Nase vorn hatten.

Zum Schluß dann eine echte Premiere! Karen Köhler tat etwas, was bislang noch niemand im Münchner Literaturhaus gewagt hatte. Sie hatte sich „Enter Sandman“ von Metallica gewünscht und das ehrwürdige Haus fuhr erschrocken zusammen, schüttelte sich kurz – ist dann aber durchaus mitgegangen.

Köhler hat ihr Buch im September veröffentlicht und es wurde mit rasendem Beifall aufgenommen. Es hat mich neugierig gemacht, dieses hübsche Buch, das sie selbst illustriert hat. Überhaupt ist Frau Köhler ein ziemliches Multitalent. Von Schreinerlehre über Schauspielausbildung, neben ihrer Autoren-Tätigkeit ist sie auch noch Theaterautorin und ihre Windpocken bedingte Absage an Klagenfurt ist mittlerweile legendär.

Karen Köhler1

Auf sie hatte ich mich am meisten gefreut, denn „Wir haben Raketen geangelt“ war schon ganz lange auf meiner Wunschliste. Also rein, Buch gekauft und es mir damit schön bequem gemacht am kleinen Tisch und bis es losging hatte ich die erste Geschichte schon durch. Puh – die war heftig. Hat mir sehr gefallen, aber die war hart. Auch wenn ich mit den Erzählungen noch nicht fertig bin, ist das Buch auf jeden Fall eines der schönsten Bücher 2014 für mich.

Vorgelesen hat sie dann aus der zweiten Kurzgeschichte „Cowboy und Indianer“. Mir gefällt ihr Erzählstil und auch unser kleiner Plausch war ungemein unterhaltsam. Gut, das sie jetzt den Unterschied zwischen „binge drinking“ und „binge reading“ kennt.

Ihr Getränk „Gin Basil Smash“ war auch voll auf meiner Wellenlänge, schmeckt sehr vorzüglich.

Ich freue mich schon auf den Wintermix und bis dahin habe ich dann auch die Raketen geangelt und hier rezensiert.