
Vermutlich bin ich nicht die erste, die eine Weile lang dachte, es handle sich bei dem Blog Vorspeisenplatte.de um einen Kochblog. Er wurde mir wiederholt als „Lieblingsblog“ genannt, wenn ich mich entsprechend erkundigte. Tatsächlich handelt es sich vermutlich um einen der ersten Tagebuchblogs.
So mancher Blog-Empfehlung folge ich schon lange nicht mehr, der Kaltmamsell bin ich jedoch treu geblieben, denn sie versorgt mich regelmäßig mit spannenden Artikeln, Links und Twitterlieblingen. Ihr beeindruckendes Sportprogramm ist eine Art Master Yoda für meinen inneren Schweinehund.
Zudem habe ich gelernt, dass „mein“ Buchclub nicht der einzige in München ist. Gut zu wissen…
Ich freue mich sehr, dass sie die #WomeninSciFi Reihe heute mit Ursula LeGuins „The Left Hand of Darkness“, der Grande Dame der Science Fiction Literatur, eröffnet:
Eine unersättliche Leserin war ich von Kindesbeinen an, doch an Science Fiction geriet ich nicht von selbst. Zwar ließ ich mir als Erwachsene gezielt die Klassiker des Genres reichen, mochte vor allem die alternativen Gesellschaftsentwürfe. Doch erst in den letzten Jahren trafen sich eine wachsende Abneigung gegen alles „based on a true story“ (Erinnerungen sind schließlich auch Konstruktionen und Fiktionen – doch diese Literatur trägt angebliche Wahrhaftigkeit vor sich her) und genauso wachsende Freude an sehr Ausgedachtem bis hin zu speculative fiction.
Es war dann ein Essay von Laurie Penny, der mir zu einer konkreten Leseliste verhalft: „Fear of a Feminist Future“. Darin listet Penny Science-Fiction-Autorinnen auf, die Alternativen zu einer patriarchalen Gesellschaft entwarfen. Und so geriet ich an die Ikone Ursula K. Le Guin. Der Roman der US-amerikanischen Autorin The Left Hand of Darkness von 1969 stand in einer schönen Neuauflage von 1980 im Regal des Science-Fiction-Experten an meiner Seite.
Sie enthält Le Guins „Introduction“ von 1976 – für mich ein Teil des Werks. Darin legt sie klug dar, warum Erfundenes einen tieferen Blick auf die Wirklichkeit ermöglichen kann – und genau das tut sie mit ihrem Roman The Left Hand of Darkness. Der erste Satz des Romans lautet dann auch: „I’ll make my report as if I told a story, for I was taught as a child on my homeworld that Truth is a matter of the imagination.“
Wir werden von Anfang an in eine völlig fremde Welt geworfen; das erste Kapitel heißt „A Parade in Erhenrang“, und vor dem ersten oben zitierten Satz der Handlung steht die vierzeilige Archivkennzeichnung des folgenden Berichts. Die Ortsnamen sind fremd, die Zeitangaben haben nichts mit unseren zu tun, die geografischen Gegebenheiten und Gesellschaftsstrukturen sind unerwartet. Manches davon wird erklärt, denn, so stellt sich heraus, wir lesen den Bericht eines Besuchers oder einer Besucherin namens Genly Ai auf dieser Welt, dem Planeten Gethen, selbst von ganz woanders kommend – allerdings aus einer Welt, die uns Leserinnen genauso fremd ist.
Diese große Fremdheit zeichnet den gesamten Roman aus, viele Wörter und Konzepte bleiben bis zum Schluss unerklärt. Zwischenkapitel („hearth tales“) wechseln komplett die Perspektive und geben Gethens Mythologie wieder, ohne offensichtlichen Zusammenhang. Das Lesen erfordert Offenheit und Aufgeben von Erwartungen – genau das braucht Le Guin für den alternativen Gesellschaftsentwurf, den sie hier vorlegt.
Denn es stellt sich heraus, dass der größte Unterschied zu unserer gewohnten Erdenwelt des 20. Jahrhunderts nicht das Klima, die Technik oder die politischen Prozesse sind, sondern der Umstand, dass die Bewohner Gethens nicht einem von zwei Geschlechtern angehören. Zwar wird unsere Leseerwartung zunächst in die Irre geführt, weil alle das Personalpronomen „he“ tragen. Doch es stellt sich heraus, dass das nur eine Hilfskonstruktion des Berichtenden Genly Ai ist. Die Erzählfigur wurde als Botschafter des Ekumen geschickt, eines losen Zusammenschlusses von Planeten, und soll die Staaten des Planeten Gethen dazu bringen, dem Ekumen beizutreten. Dazu muss die Erzählfigur aber damit zurecht kommen, dass die Bewohner von Gethen im Normalzustand kein fixes Geschlecht haben; sie sind nur einmal im Mondzyklus fruchtbar, und erst wenn es an die Fortpflanzung geht, vereinbart ein Paar, wer welchen Part übernimmt.
Das ist allerdings nicht das einzige Detail auf Gethen, das die Erzählfigur überfordert: Sie wird unbemerkt zum Spielball politischer Ränke, und das mehrfach auf verschiedene Weise, gerät in Gefangenschaft, wird dort durch Medikation unbeabsichtigt fast umgebracht. Ich bezeichne sie hier absichtlich als „Erzählfigur“: Le Guin schaffte es sehr lange unklar zu lassen, welchem menschlichen Geschlecht diese Ezählstimme eigentlich zugehört, unter anderem durch die Erzählung in Ich-Form. Und als dieses Detail klar wird, ist es schon lange unwichtig.
Gleichzeitig ist The Left Hand of Darkness die Geschichte einer großen Freundschaft und einer großen Liebe (ohne Geschlechtlichkeit auf Gethen deckungsgleich), der zwischen Genly Ai und Estraven. Estraven ist zu Anfang der Handlung eine wichtige politische Figur auf Gethen – und gibt alles auf, um der Erzählfigur beizustehen. Es braucht den Großteil der Geschichte, bis Genly Ai das überhaupt bemerkt, denn Verhaltenscodes und Kommunikation sind auf Gethen so völlig anders – werden auch uns Leserinnen nicht erklärt.
Ich kenne keine Utopie, die so vielschichtig ist wie The Left Hand of Darkness. Le Guin erfindet nicht nur zwei Universen und lässt aus ihrem Zusammentreffen Erkenntnis erwachsen, sie erfindet auch eine neue Sprache, neue Gefühle, neue Kommunikationstechnik, stellt eine Vielzahl von gewohnten Konzepten in Biologie und Gesellschaft in Frage. Ihre sprachlichen Mittel dafür sind dicht und schnörkellos, sie wechselt kapitelweise die Klangfarbe, je nach dem ob die Berichtsfigur spricht, ob Estraven sein/ihr Tagebuch schreibt oder ob der heimische Mythos wiedergegeben wird. Und so erleben wir die Gesellschaft ohne Geschlechterzuschreibung subtil durchgespielt mehr als Hintergrund denn als propagandistischen Vordergrund.
The Left Hand of Darkness gilt als einer der ersten feministischen Science-Ficition-Romane. Er gehört zu Le Guins Hainish Cycle, in dem noch zwei weitere ihrer Romane und einige Kurzgeschichten spielen. Ihr umfassendes Werk aus Romanen und Kurzgeschichten in Fantasy und Science Ficiton, aus Gedichten und Essays beeinflusste Generationen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern.
Weiterführende Lektüre:
Ligaya Mishan, „First Contact: A Talk with Ursula K. Le Guin“ – Ein Interview von 2009 über The Left Hand of Darkness. „In the spirit of the novel, our questions are a collaboration between a male and a female; we leave it up to our readers to determine who wrote which“. Darin die schöne Aussage Le Guins: „What is the metaphorical significance? I don’t know. The theme was just there. A given. Writing a story, I generally take what’s given and run with it. Then the critics can tell me what it Means.“
Maria Popova, „Ursula K. Le Guin on Being a Man“ – erklärt die konsequente Verwendung von „he“ für alle Personen des Romans.
Justine Jordan, „Winter reads: The Left Hand of Darkness by Ursula K Le Guin“ – über die lange Sequenz des Romans, die die dreimonatige Reise der Protagonisten durch eisige Landschaft beschreibt.
Sarah LeFanu, „The king is pregnant“ – über die Rolle von Angst und Vertrauen in dem Roman.
„The Left Hand of Darkness“ erschien auf deutsch unter dem Titel „Die linke Hand der Dunkelheit“ im Heyne Verlag.
Wow! Das ist ja ein toller Auftakt für Deine Serie – und beeindruckend ebenso wie einschüchternd, insbesondere wenn man die Fußnoten anschaut! Die Links speicher ich mir ab – da gibt es tatsächlich viel mehr, als ich geahnt habe, an weiblicher Sci-Fi-Literatur…
Puh! Ein Auftakt nach Maß einer wunderbaren Idee. LeGuin ist ein großer Name. Ich bin gespannt auf die kommenden Beiträge und freue mich sehr dabei zu sein. Viele Grüße
Auch ich kann nur sagen – ich bin gespannt. Bin ja keine große Sci-Fi Leserin … ich sehe mir sowas gerne filmisch umgesetzt an … aber nun ja, jetzt muss ich mich wohl mal umstellen. Tolles Projekt! LG, Bri
Was für ein toller Einstiegsartikel in die Welt der Damen in der SciFi! Den Namen Ursula K. LeGuins als Autorin kenne ich, ich glaube aber, noch nichts von ihr gelesen zu haben. Und so habe ich nun einen ganz wunderbaren Einblick in einen ihrer Romane gewinnen können. Ansonsten schließe ich mich Bri an: Lesen mag ich Science-Fiction-Romane nicht so gerne, im Fernsehsessel anschauen tue ich sie mir umso lieber. Ich bin gesapnnt auf die weiteren Beiträge!
Viele Grüße, Claudia
Ein toller Auftakt! Ich habe kaum Erfahrung mit Sci-Fi-Literatur, Film und Fernsehen schon, und den leisen Verdacht, dass sich das bald ändern könnte – je mehr ich darüber lernen werde 😉
Liebe Grüße,
Miriam
Das würde mich sehr freuen 🙂