Hirngymnastik: Alexander von Humboldt Marathon

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Es gibt wohl kaum einen Wissenschaftler, der unser Verständnis der Natur als universales zusammenhängendes Netz mehr geprägt hat, als der große preußische Naturforscher, Forschungsreisender und Universalgelehrte Alexander von Humboldt, der mit diesem Verständnis auch als Urvater der Naturschutzbewegung und Ökologie gelten kann.

In ihrer preisgekrönten großartigen Biografie stellt uns die Historikerin Andrea Wulf den Menschen Alexander von Humboldt als überraschend modernen Forscher vor, dessen Ideen bis heute wirken, insbesondere wenn es um Klimawandel oder Nachhaltigkeit, Konzepte und Ideen geht, mit denen er gut ein Jahrhundert seiner Zeit voraus war.

Sein Vermächtnis ist nicht so sehr eine einzelne Entdeckung, obwohl er als Entdecker des magnetischen Äquators, der Klimazonen und der Isothermen gilt – es ist tatsächlich mehr seine Haltung, seine Sicht auf die Welt und die Fähigkeit, Muster und Verbindungen zu sehen und diese zusammenzufügen – „Alles ist Wechselwirkung“.

Zu Humboldts Freundes- und Bekanntenkreis zählten schon früh die führenden Intellektuelle seiner Zeit wie Goethe, Schiller, Johann David Schlegel und andere. Seine Entdeckungsreisen begannen 1790 mit seiner Reise in Begleitung Georg Forsters an den Niedrhein, nach England und in das revolutionsbewegte Frankreich.

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Humboldt war neben all seinen wissenschaftlichen Entdeckungen auch sowas wie der Urvater des Networking. Er hatte die wunderbare Eigenschaft, mit jedem reden zu können und pflegte intensive Freundschaften. Er finanzierte und unterstützte junge Forscher durch Empfehlungsschreiben an Menschen aus seinem reichhaltigen Netzwerk und sein Einfluß auf die Literatur und Wissenschaft seiner Zeit war immens.

So weckten die Werke Alexander von Humboldts in Darwin die Reiselust nach Südamerika und Humboldts „Reise nach den Tropenländern“ war seine stetige Lektüre auf der Beagle.

Thoreau, Emerson, der amerikanische Präsident Thomas Jefferson oder auch der südamerikanische Revolutionär Simon Bolivar waren große Verehrer von Humboldt und auch die Astronomin Maria Mitchell, die ihn kurz vor seinem Tod traf, zeigte sich beeindruckt von seinem wissenschaftlichen Enthusiasmus und seiner Präsenz.

Humboldt beeinflusste nicht nur die hellsten Köpfe seiner Zeit, er war einer der ersten, der sich für ein fruchtbares Miteinander von Geistes- und Naturwissenschaften einsetzte. Sein integratives Herangehen an die Wissenschaft bedeutete für ihn immer auch Elemente aus der Philosophie, der Geschichte, der Literatur und Kunst mit aufzunehmen.

Er versuchte, das Silodenken in der Wissenschaft zu überbrücken, regte zum interdisziplinären Denken an und  veranstalte einen der ersten Kongresse, auf denen Wissenschaftler und Künstler nicht nur Vorträge hielten, sondern explizit aufgefordert waren, miteinander zu sprechen.

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Nach seiner fünfjährigen Forschungsreise durch Südamerika lebte der nur selten lange an einem Ort verweilende Herr überwiegend in der damaligen geistigen Hochburg Paris, sehr zum Missfallen des preußischen Königs, der ihn lange Zeit dennoch finanziell unterstützte. Humboldts Schaffensdrang war immens. Er veröffentlichte Hunderte von Büchern, wissenschaftlichen Texten, führte eine immense Korrespondenz und allein seine Tagebücher umfassten über 4500 Seiten. Seine Reisen und die hohen Druckkosten verschlangen einen Großteil seines Vermögens und etwa 20 Jahre nach seiner Rückkehr aus Südamerika riss dem preußischen König der Geduldsfaden und er orderte ihn 1829 als „Wirklich Geheimer Rat“ nach Berlin zurück. Immerhin handelte er einen jährlichen viermonatigen Paris-Aufenthalt heraus, denn Berlin war für Humboldt nie Heimat und sollte es auch nicht mehr wirklich werden.

„Das Land, in das Humboldt zurückkehrte, war entschieden anti-liberal. Die politischen Rechte waren sehr eingeschränkt, und liberale Ideen wurden generell unterdrückt. Preußens Mittelschicht hatte sich deshalb aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen und widmete sich ihren Privatinteressen. Musik, Literatur und Kunst drückten Gefühle aus anstelle revolutionärer Ansichten. Den Geist von 1789, wie Humboldt ihn nannte, gab es nicht mehr.“

1830 unternahm Humboldt seine letzte Forschungsreise nach Russland, wo er gemeinsam mit seinen Begleitern innerhalb eines knappen halben Jahres 15.000 km zurücklegte, gezogen von sage und schreibe 12.000 Pferden.

Die immense Popularität zu seinen Lebzeiten erlangte Humboldt insbesondere durch seine Gesamtschau der wissenschaftlichen Welterforschung, dem KOSMOS, dem er sich in seinen letzten zweieinhalb Jahrzehnten widmete und das zwischen 1845 – 1862 in fünf Titeln veröffentlicht wurde.

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Im Winter 1827/28 hielt er in der Berliner Singakademie 16 öffentliche Vorlesungen, die keinen Eintritt kosteten, die zu den Sternstunden der populären Wissenschaftsvermittlung gelten können. Er begründete damit das Genre der Populärwissenschaft und das soziale Spektrum seiner Hörer reichte vom Maurermeister, Krankenschwestern über wissenschaftliche Kollegen bis hin zu König Friedrich Wilhelm III – eine soziale Mischung, die in dieser Breite zuvor kein anderer deutscher Gelehrter erreicht hatte und die sehr dem Wesen Humboldts entsprachen.

Auch wenn es unzählige Orte, Pflanzenarten etc. gibt, die nach ihm benannt sind, ist Humboldt heute zu Unrecht deutlich weniger präsent als beispielsweise Darwin. Andrea Wulf rückt Humboldt in ihrem weltweit sehr erfolgreichen Buch wieder mehr ins verdiente Rampenlicht.

„Die Erfindung der Natur“ ist absolut fesselnde Lektüre und bringt uns einen Menschen näher, der nicht nur zum Begründer des Naturschutzes wurde, sondern der sich für alle Menschen unabhängig ihrer Herkunft einsetzte.

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Ein ganz besonderes Schmankerl ist die wunderschöne Ausgabe „Das Buch der Begegnungen – Menschen / Kulturen / Geschichten aus den amerikanischen Reisetagebüchern“ von Alexander von Humboldt aus dem Manesse Verlag, dem ich an dieser Stelle sehr für dieses umwerfende Rezensionsexemplar danke.

„Man glaubt einen alten Freund zu sehen beim Anblick des Meeres: Das Herz öffnet sich, die Einbildungskraft füllt sich mit tausenderlei Gedanken an Verbindungen, an Möglichkeiten, an Hoffnungen, Freunde ankommen zu sehen, zu den Seinen zurückzukehren …“

Es macht riesigen Spaß in diesem wunderschön aufgemachten Buch mit edlem Leineneinband, Lesebändchen und feiner Typografie zu blättern. Ein Buch, in dem man versinken kann und das gewollt nicht unbedingt chronologisch gelesen werden muss, sondern man blättert, liest, bleibt hängen.

Es gibt ein chronologisches Inhaltsverzeichnis aber auch einen sogenannten „Leseparcours“ der eine Sortierung nach individuellen Themen bietet, der dem vernetzten Denken Humboldts huldigt und uns an seiner Themenfülle, dem breiten Spektrum seines Denkens teilhaben läßt.

Man kann wunderbar seine immer stärkere, kritische Haltung zum Kolonialismus und insbesondere zur Sklavenhaltung verfolgen. Wissen war für ihn nicht einfach intellektuelles Können – es war die Fähigkeit eines integrativen, holistischen Erfassens des Lebens in all seinen Dimensionen.

„Die Sklaverei ist auf Unmoral gegründet; die Regierung soll Menschen ihrer heiligsten Rechte berauben, deren Haut von einer anderen Farbe ist, mit der Erlaubnis, das, was man in Havanna, auf Jamaica, in Sainte-Croix (und vor 1789 auf Saint-Domingue) tat, zu verüben: einer Mutter ihr Kind zu rauben und in 400 Meilen Entfernung zu verschleppen. Eine Regierung besitzt keinerlei Recht, die Unmoral zu sanktionieren.“

Humboldt war bis ins hohe Alter begeisterter Bergsteiger, Vulkanologe und Wanderer und hat wieder und wieder seine wissenschaftlichen Thesen an seinem eigenen Körper getestet. Für ihn waren Körper, Geist und Seele Instrumente, mit denen er die Welt vermessen und ergründet hat. Er war ein Fürsprecher von Rationalität und Emotionalität in einer Welt, die beides gerne sauber von einander getrennt halten wollte.

Durch seine Sensibilität für die Tatsache, dass alles miteinander verbunden ist, war er auch einer der ersten der erkannte, welche katastrophalen Folgen der durch die Menschen verursachte Klimawandel mit sich bringt. Das war ihm gerade deshalb möglich, weil er es vermied, klare Trennlinien zu ziehen zwischen Wissenschaft, Kunst und Literatur.

„Betrachtet man Natur nun als Netz, wird offensichtlich, welchen Gefahren sie ausgesetzt ist. Alles hängt mit allem zusammen. Wenn ein Faden gezogen wird, kann sich das ganze Gewebe auflösen.“

Mein Humboldt Marathon hat riesigen Spaß gemacht und ich kann folgende Bücher aus ganzen Herzen empfehlen:

  • Alexander von Humboldt: Das Buch der Begegnungen erschienen im Manesse Verlag
  • Andrea Wulf: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur erschienen in der Büchergilde Gutenberg
  • Alexander von Humboldt: Die Kosmos-Vorträge erschienen im Insel Verlag.