Dystopische D(r)amen

Wer glaubt eine Pandemie würde mich von meiner dystopischen Leidenschaft heilen, irrt gewaltig. Diese drei Bücher waren die perfekte Begleitlektüre durch die Covid-19 bedingten Ausgangsbeschränkungen.

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Die Wand ist eine Chronik des Lebens des letzten überlebenden Menschen auf der Erde, einer gewöhnlichen Frau mittleren Alters, die eines Morgens aufwacht und feststellt, dass alle anderen verschwunden sind. In der Annahme, ihre Isolation sei das Ergebnis eines schiefgelaufenen militärischen Experiments, beginnt sie die mit der Arbeit des Überlebens und ihrer eigenen Selbsterneuerung. Dieser Roman ist gleichzeitig eine einfache und bewegende Geschichte und eine verstörende Meditation über die Menschheit.

Wenn ich heute an meine Kinder denke, sehe ich sie immer als Fünfjährige, und es ist mir, als wären sie schon damals aus meinem Leben gegangen. Wahrscheinlich fangen alle Kinder in diesem Alter an, aus dem Leben ihrer Eltern zu gehen; sie verwandeln sich ganz langsam in fremde Kostgänger. All dies vollzieht sich aber so unmerklich, daß man es fast nicht spürt. Es gab zwar Momente, in denen mir diese ungeheuerliche Möglichkeit dämmerte, aber wie jede andere Mutter verdrängte ich diesen Eindruck sehr rasch. Ich mußte ja leben, und welche Mutter könnte leben, wenn sie diesen Vorgang zur Kenntnis nähme?“

Das Buch ist der Bericht, den die Heldin einige Jahre später auf der Grundlage des skizzenhaften Tagebuchs schreibt, das sie geführt hat. Es vermischt Erinnerungen, Rekonstruktion vergangener Episoden, die verblasst sind, und Reflexionen aus der Gegenwart. Doch meistens handelt er von den Einzelheiten des täglichen Überlebenskampfes: wie sie mit ihrem kargen Kartoffelvorrat ein Kartoffelacker anlegt (hat mich sehr an den Martian von Andrew Weir erinnert), wie sie Heu mäht, um ihre Kuh zu füttern, wie sie Holz hackt, um sich in den bitteren Wintern warm zu halten und wie sie manchmal einen Hirsch schießt, um Fleisch zu bekommen.

Sie ist völlig kompromisslos: Die Erzählerin schreibt nur für sich selbst, es gibt sonst niemanden auf der Welt, und sie vermisst auch niemanden so richtig. Sie will die Dinge einfach nur erzählen wie sie sich zugetragen haben. Es ist erstaunlich, wie real ihre Welt wird und wie selten man einen dystopischen Roman ließt, in dem soviel Fürsorge zutage tritt.

Das Buch widersetzt sich einer einfachen Interpretation. Vielleicht ist das nicht einmal die eigentlich spannende Frage. Es ist ein grandioses Bild, das einem im Gedächtnis bleibt, die einsame Frau, die in ihrer unsichtbaren Blase gefangen ist, die fast alles verloren hat, sich aber immer weigert aufzugeben. Eine Frau, die all ihre Entschlossenheit, ihren Einfallsreichtum und ihr Können einsetzt, um noch ein weiteres Jahr zu überstehen, weil ihre kleine Tierfamilie sie braucht. Manchmal denkt sie an die Menschen, die diese unbegreifliche Waffe geschaffen haben, die alle außerhalb der Wand in Stein verwandelt hat, und sie fragt sich, wie sie das geschafft haben konnten. Diese Menschen müssen sich in einer Weise von ihr unterscheiden, die sie nicht in keinem Fall verstehen kann.

Wer weiß, was die Gefangenschaft aus diesem unauffälligen Mann gemacht hätte. Auf jeden Fall war er körperlich stärker als ich, und ich wäre von ihm abhängig gewesen. Vielleicht würde er heute faul in der Hütte umherliegen und mich arbeiten schicken. Die Möglichkeit, Arbeit von sich abzuwälzen, muß für jeden Mann eine große Versuchung sein. Und warum sollte ein Mann, der keine Kritik zu befürchten hat, überhaupt noch arbeiten.“

„Die Wand“ ist der berühmteste Roman der 1920 im österreichischen Frauenstein geborenen Marlen Haushofer. Er wurde 2012 mit Martina Gedeck in der Hauptrolle verfilmt. „Die Wand“ wurde in den achtziger Jahren von der Frauen- und der Friedensbewegung wiederentdeckt, und die Geschichte lässt sich vielfältig interpretieren.

Als perfekten Soundtrack empfehle ich Chelsea Wolfes „Pain is Beauty

Empfehlen kann ich auch die Verfilmung mit Martina Gedeck in der Hauptrolle:

Warum hört man eigentlich so gar nichts vom Haushofer Jahr, wo uns doch an jeder Ecke Hölderlin, Beethoven und Paul Celan Gedenktage und Veröffentlichungen begegnen? Sehr schade.

Daher feiere ich dieses Jahr Marlen Haushofer, Annette Kolb und Clarice Lispector 🙂

Und ihr so?

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Winters Garten ist der Name der idyllischen Siedlung, in der alles üppig wächst und gedeiht und der Sehnsuchtsort von Anton der in der Stadt lebt und Vögel züchtet und der dort eine sehr glückliche Kindheit erlebte. Er wuchs mit anderen Kindern und den alten Menschen in einem riesigen Haus mit Winters Garten auf. Er erlebte die Welt und den Tod aus nächster Nähe, streifte durch Wiesen und Wälder, spielt verstecken genießt die Wärme und Liebe seiner geliebten Großmutter.

Als Erwachsener lebt er als Vogelzüchter in der Stadt. Schlaflos steht er nachts am Fenster und blickt auf die verwahrlosten Straßen. Alles ändert sich, nichts ist mehr wie es war. Häuser und Straßenzüge verfallen, die wilden Tiere dringen in die Vorgärten und Hinterhöfe ein, der Schlaf der Menschen ist schwer von Träumen und viele gehen hinunter ans Meer, um ihrem Leben ein Ende zu bereiten.

Inmitten dieser Hoffnungslosigkeit trifft Anton eine Frau, in die er sich auf den ersten Blick verliebt. Wortlos nimmt sie ihn bei der Hand, folgt ihm nach Hause und bleibt. Sie starren sich an oder lieben sich.

 

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Anton hilft ihr in der Klinik, in der sie arbeitet, die in eine Entbindungsstation umgewandelt wurde. Friederike freundet sich mit der hochschwangeren Marta an. Nach der Geburt des Kindes, stellt sich heraus, dass der Vater Antons Bruder ist. Nach vielen Jahren kehrt Anton mit Friederike, seinem Bruder, dessen Frau und dem Baby in die Gartenkolonie zurück, um vor dem nahenden Ende der Welt zu fliehen. Sie verbringen die Tage damit, sich zu erinnern und auf das zu warten, was kommen mag.

Ich habe so vieles vergessen, aber nicht, wie man von der Zukunft spricht. Es ist niemand da, der fragt, ob man leben will, und niemand, der fragt, ob man sterben will. Genauso wenig, wie man sich aussuchen kann, von wem man geliebt wird. Und selbst wenn man seine Tritte sorgfältig rückwärts in die eigenen Fußspuren setzt, heißt das nicht, dass man dort ankommt, wo man aufgebrochen ist. Wenn mich die Menschen fragen, ob ich die Welt gesehen habe, sage ich ihnen, dass sie nie still genug hält, um gesehen zu werden

Was genau in der Welt passiert, wird nicht näher erläutert, aber das nahende Ende ist in deutlich spürbar. Es ist die Sprache, die eine dunkle Anziehungskraft entwickelt und die einen vom ersten Satz an in die wohlig-dunkle Atmosphäre des Romans hineinzieht.

Das ist kein Roman für Menschen, die einen rasanten Plot lieben mit vielen Wendungen. Denn es passiert nicht viel. Am Anfang und am Ende steht die Gartenkolonie, die voller Erinnerungen ist und den Menschen Heimat bietet in einer Welt die keine Zukunft mehr hat.

Zu lieben ist die einzig angemessene Art zu existieren. Wenn man beginnt, einander zu lieben, weiß man nichts darüber, nichts über die Angst, den Mut, die Trauer, die Bedingungslosigkeit, oder man weiß alles und versteht die Liebe doch nicht, weil sie noch unbelastet ist von den Erfahrungen, die ihr folgen.“

Wortgewaltig, sinnlich, düster, tolle Atmosphäre.

Als passenden Soundtrack zum Buch habe ich Soap & Skin „Lovetune for Vacuum“ gehört.

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The Memory Police von Yoko Ogawa ist ein hypnotischer, ruhiger Roman, der als Dystopie eines Überwachungsstaates beginnt und als etwas Existenzielleres endet: eine surreale und eindringliche Meditation über unser Selbstverständnis.

Dieser Roman, der vor 25 Jahren erstmals in Japan veröffentlicht wurde und jetzt in englischer Übersetzung vorliegt, ist gänzlich zeitlos. Die Bewohner einer namenlosen Insel, die unter einem repressiven Regime leben, erleben eine Form von kollektiver, allmählicher Amnesie. Beim Erwachen beginnt ein scheinbar zufälliger Gegenstand – Rosen, Vögel, Boote – aus ihren Köpfen zu verschwinden. Sie müssen die vollständige Auslöschung des Gegenstandes sicherstellen, indem sie alle Beweise für seine Existenz aus der Welt tilgen. Die Gedächtnispolizei ist dazu da, selbst den schwächsten Widerstand zu brechen, aber die meisten Menschen treiben in passiver Selbstgefälligkeit durch den Tag und Widerstand ist kaum spürbar. Welchen Sinn hat es, sich an etwas zu klammern, an das man sich nicht erinnern kann?

“It’s a shame that the people who live here haven’t been able to hold such marvelous things in their hearts and minds, but that’s just the way it is on this island. Things go on disappearing, one by one. It won’t be long now,” she added. “You’ll see for yourself. Something will disappear from your life.”

Eine kleine Zahl von Menschen ist gegen dieses Phänomen immun. Sie sind verflucht durch ihre vollständige Erinnerung an alles, was verloren gegangen ist, und stellen eine Bedrohung für das Regime dar. Daher müssen sie ihre Andersartigkeit um jeden Preis verbergen.

Memories are a lot tougher than you might think. Just like the hearts that hold them.”

Im Roman geht es um eine junge Frau, die um ihre Karriere als Schriftstellerin kämpft, und die entdeckt, dass ihr Verleger durch die Gedächtnispolizei in Gefahr ist, schmiedet sie einen Plan, ihn in einem eigens dafür errichteten Anbau unter ihren Dielen zu verstecken, in einer Weise, die mich immens an  „Das Tagebuch der Anne Frank“ erinnerte. Es handelt sich um eine geheime Kammer, die nur über eine Falltür in der Decke zugänglich ist. Unterdessen beschleunigt sich das „Vergessen“ und wird immer extremer.

Dies ist eine stille, melancholische Apokalypse, bei der die Widerstandsversuche gering sind und die in der völligen Zerstörung des Selbst gipfelt.

“I don’t know. Maybe there’s a place out there where people whose hearts aren’t empty can go on living.”

Der perfekte Soundtrack für diesen Roman ist „Nowhere Now Here“ von Mono.

Wie ist das bei euch? War euch in der letzten Zeit eher nach Kontrastprogramm oder habt ihr auch ganz bewusst nach eher dunklen, dystopischen Stoffen gegriffen?

5 Kommentare zu “Dystopische D(r)amen

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