10. Türchen: Piranesi – Susanna Clarke

Es ist unmöglich, die Handlung zu beschreiben, ohne sie zu verraten, und der Spaß an diesem Buch ist die Klarheit, die man als Leser langsam, nach und nach erlangt, immer nur ein paar Schritte vor dem optimistischen und naiven Erzähler Piranesi, der eine schöne, aber einsame Welt bewohnt.

Diese Welt ist ein Haus aus endlosen Räumen mit Statuen und Gezeiten, die durch leere Hallen brausen. Die Räume des Hauses sind unendlich, seine Korridore endlos, die Wände sind mit Tausenden und Abertausenden von Statuen gesäumt, eine jede anders als die andere. Im Labyrinth der Säle ist ein Ozean gefangen, Wellen donnern die Treppen hinauf, Räume werden im Nu überflutet. Aber Piranesi hat keine Angst, denn er versteht die Gezeiten, so wie er das Muster des Labyrinths selbst zu lesen versteht. Er lebt, um das Haus zu erforschen.

I was in a house with many rooms. The sea sweeps through the house. Sometimes it swept over me, but always I was saved.

Er ist ihr einziger Bewohner, neben der geheimnisvollen Figur namens The Other, ein älterer Mann, der auf der Suche nach einer großen Macht durch die Hallen streift. Die beiden Männer treffen sich zweimal in der Woche, um zu besprechen, was sie entdeckt haben, obwohl The Other vielleicht nicht ganz das ist, was er vorzugeben scheint.

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Piranesi kann sich nicht an ein Leben vor dem Haus erinnern, führt aber ein detailliertes Tagebuch über seine Zeit dort und kommt zu dem Schluss, dass er Mitte dreißig sein muss und mehrere Jahre dort draußen in der Welt gelebt hat. The Other hat ihn Piranesi genannt, nach Giovanni Piranesi, einem italienischen klassischen Archäologen, Architekten und Künstler, der für Zeichnungen von fantastischen Labyrinthen und Gefängnissen bekannt ist.

“The Beauty of the House is immeasurable; its Kindness infinite.”

Piranesi kennt das Haus in- und auswendig und katalogisiert alles, was er über es weiß. Er liebt das Haus und fühlt, dass es auch ihn liebt. Die Welt fühlt sich vollständig und ganz an, und „ich, ihr Kind, füge mich nahtlos in sie ein“, schreibt er. Er schaut auf die Statuen als Wegweiser und findet in ihnen Botschaften der Hoffnung und Stärke. Das Haus gibt ihm Nahrung, gibt ihm Wetter, gibt ihm einen Sinn, auch wenn es nur der ist, als Bewohner des Hauses zu dienen. Er hat sich dem Rhythmus des Hauses angepasst und sogar seinen eigenen Kalender, um die Ereignisse des Hauses herum erstellt – der Roman spielt im Jahr, in dem der Albatros in die südwestlichen Hallen kam.

“Perhaps even people you like and admire immensely can make you see the World in ways you would rather not.

Piranesi ist eine wilde, verrückte und surreale Fahrt,. Der erste Teil hätte für mich gern um 100 Seiten erweitert werden können, auf denen er einfach nur die Hallen erkundet. Ich habe es sehr genossen, in den Bildern in meinem Kopf zu leben – die Atmosphäre dieses Romans ist fantastisch und bringt einen so an atemberaubende Orte.

Wer ist Piranesi, was ist diese Welt, und wie kam er dorthin? Nichts in diesem Buch ist vorhersehbar, und Piranesis Suche nach Antworten macht die Lektüre zu einem fesselnden Erlebnis.

“In my mind are all the tides, their seasons, their ebbs and their flows. In my mind are all the halls, the endless procession of them, the intricate pathways. When this world becomes too much for me, when I grow tired of the noise and the dirt and the people, I close my eyes and I name a particular vestibule to myself; then I name a hall

Piranesi war mein Lesehighlight 2020 und immer noch denke ich daran zurück und drehe im Kopf meinen eigenen Film dazu mit passendem Soundtrack. Ich mochte „Jonathan Strange & Mr Norrell„, aber Piranesi ist nochmal eine große Schippe wunderbarer.

Ich beneide alle, die diese Lektüre noch vor sich haben. 1000 Dank an die wunderbare Anna vom Blog Buchpost, von der ich das Buch geschenkt bekam. Es ist und wird immer ein ganz besonderes Buch für mich bleiben und ich möchte mich noch bei Dir revanchieren 🙂

Auf Deutsch erschien das Buch unter dem gleichen Titel im Blessing Verlag.

The Buried Giant – Kazuo Ishiguro

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Habe mich lange nicht mehr so schwer getan mit einer Rezension, wie mit dieser. Ich bin ein riesiger Ishiguro Fan. Ich mag seinen eleganten, simplen Schreibstil, die unterschiedlichen Welten die er bevölkert, man weiß bei ihm nie was als nächstes kommt und ich habe mich so sehr auf diesen neuen Roman seit Langem gefreut. Es ist eine wunderschöne Ausgabe und damit vielleicht eines der schönsten Bücher, das ich dieses Jahr gelesen habe, aber komplett warm geworden bin ich nicht mit diesem Roman.

Die Geschichte spielt in England einige Jahre nach König Arthurs Tod und einige seiner mythische Weggefährten, z.B. Sir Gaiwan, sind noch am Leben. Die Atmosphäre gerade am Anfang des Buches ist wunderbar melancholisch, man sieht förmlich den Nebel über den grün-bräunlichen Wäldern und Mooren aufsteigen in dieser spartanisch bevölkerten Welt, die an eine etwas romantischere Version von Mordor erinnert. Ein seltsamer Nebel hat sich über das Land gelegt, der bei der Bevölkerung zu einem merkwürdigen kollektiven Gedächtnisverlust führt.

“There were instead miles of desolate, uncultivated land; here and there rough-hewn paths over craggy hills or bleak moorland. Most of the roads left by the Romans would by then have become broken or overgrown, often fading into wilderness. Icy fogs hung over rivers and marshes, serving all too well the ogres that were then still native to this land. „

Axl und Beatrice sind ein älteres Pärchen, das ihren Sohn besuchen will, an den sie nur noch eine ganz schwache Erinnerung haben. Diese ersten Kapitel, bis sie in einer Gewitternacht in einem verfallenen Haus auf den Bootsmann und die Hexe treffen, fand ich einfach nur großartig. Wundervoll dunkel melancholisch, wundervolle Sprache und voller ungelöster Rätsel. Von der Atmosphäre her ähnlich wie in „Never let me Go“.

“It’s queer the way the world’s forgetting people and things form only yesterday and the day before that. Like a sickness come over us all.”

Auf ihrer Reise treffen sie desweiteren Gaiwan, den ehemaligen Weggefährten König Arthurs. Sie treffen auf Drachen, einen Krieger auf einer undurchschaubaren Mission, einen kleinen Jungen und Mönche mit ziemlich dunklen Motiven. Jeder einzelne hat irgendwie mit ihrer eigenen Reise zu tun.

„The Buried Giant“ ist ein phantastisches Märchen, eine teilweise altmodische Rittergeschichte voller Abenteuer, es wimmelt vor Andeutungen (Arthur und die Ritter der Tafelrunde, Dantes Beatrice?, die altbekannten Volksmärchen und wahrscheinlich noch jede Menge mehr, die ich gar nicht erkannt habe)

Es geht um das Vergängliche, um das Erinnern und das Vergessen um Liebe und Altwerden, um die Unmöglichkeit von Frieden der auf Kampf und Besiegen beruht und um die Frage, was uns zu einem guten Menschen macht.

“For what good’s a memory’s returning from the mist if it’s only to push away another? Will you promise me, princess? Promise to keep what you feel for me this moment always in your heart, no matter what you see once the mist’s gone.”

Was kostet uns das Erinnern, was ist der Preis für das Vergessen? Was möchten wir überhaupt bewahren und welche Erinnerungen geben wir dafür auf?

Im Laufe der Geschichte, hab ich selbst das Gefühl gehabt von dem Nebel erwischt worden zu sein. Je mehr ich gelesen habe, desto mehr hatte ich das Gefühl, irgendwie dement zu werden und der Geschichte nicht mehr wirklich folgen zu können.

Am Ende klärt sich vieles auf, aber man muss sich schon durch den Nebel kämpfen, um zum Kern der Geschichte vorzudrängen. Das erfordert Geduld und Durchsetzungsvermögen, denn er macht mürbe der Nebel. Man nennt die Zeit in der der Roman spielt (die Zeit der Völkerwanderungen etwa 450 AD) im Englischen auch Dark Ages und anfangs dachte ich, der Nebel sei womöglich eine Metapher dafür, aber das war es nicht, wäre vielleicht auch ein wenig zu platt gewesen. Allerdings mußte ich bei dem Begriff „Dark Ages“ ein wenig lachen, wenn man sich so umschaut, aktuelle Nachrichten hört überlegt man durchaus, ob nicht wir es sind, die aktuell in den „Dark Ages“ leben.

“But then again I wonder if what we feel in our hearts today isn’t like these raindrops still falling on us from the soaked leaves above, even though the sky itself long stopped raining. I’m wondering if without our memories, there’s nothing for it but for our love to fade and die.”

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thegreatgraffities.blogspot.co.nz

Ich habe es gerne gelesen, einige Sätze und Kapitel fand ich wunderschön, die Melancholie bezaubernd, die Sprache so poetisch klar, noch einmal würde ich es aber wohl nicht lesen. Die Auflösung macht soviel Sinn am Ende (mag hier jetzt nicht zuviel verraten) und ich habe Sorge, dass einige Leser gar nicht bis zum Ende kommen und die Botschaft (so es denn als eine gedacht war) verlorengeht, was schade wäre.

“Yet are you so certain, good mistress, you wish to be free of this mist? Is it not better some things remain hidden from our minds?“
„It may be for some, father, but not for us. Axl and I wish to have again the happy moments we shared together. To be robbed of them is as if a thief came in the night and took what’s most precious from us.“
„Yet the mist covers all memories, the bad as well as the good. Isn’t that so, mistress?“
„We’ll have the bad ones come back too, even if they make us weep or shake with anger. For isn’t it the life we’ve shared?”

Ein Buch für Drachenbezwinger, die dem Nebel trotzen wollen.

Dieser Soundtrack eignet sich im übrigen phantastisch zu dem Buch:

Das Buch ist auf deutsch unter dem Titel „Der begrabene Riese“ im Blessing Verlag erschienen.

Das rote Haus – Mark Haddon

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Wer Mark Haddons „Das Rote Haus“ aus großer Begeisterung für „The curious incident of the dog at night-time/Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone“ in die Hand nimmt, der sei ein wenig gewarnt. Dieses Buch ist deutlich anders.

Mir kam Mark Haddon hier vor wie einer, der üblicherweise mit Kapuzenpulli und Chucks durch die Gegend läuft und der sich nun unbedingt erwachsen geben will und sich mit einem nicht recht sitzenden Smoking verkleidet. Momentan ist es ja – insbesondere wie mir scheint – bei männlichen „mittelalten“ Autoren recht en vogue im „stream of consciousness“ zu schreiben, oft gefühlt, als würden sie damit ihre Seriosität erhöhen wollen. Auch Haddon übt sich im „Roten Haus“ darin und lässt den Leser oft ratlos zwischen Gedankenströmen, Listen, Buchauszügen und fragmentierten Sätzen herumwandern.

Im zweiten Teil des Buches wird das erfreulicherweise etwas weniger und man kann den Geschichten der verschiedenen Familienmitgliedern wesentlich besser folgen.

Denn abgesehen von den abstrusen Fragmenten und Gedankenfetzen ist es ein wirklich gutes Buch mit komplexen und vielschichtigen Charakteren, die einem teilweise auch sehr ans Herz wachsen.  Die Story selbst ist schnell erzählt. Die Woche Ferien in Wales im roten Haus vereint das sich voneinander entfernte Geschwisterpaar Angela und Richard, die in den den letzten 15 Jahren kaum mehr als einen Nachmittag miteinander verbracht haben. Der Tod der Mutter ist der Anlass für diesen Ausflug beider Familien in ein altes, rotes Backsteinhaus.

Jedes Familienmitglied kommt mit einer Menge emotionalem Gepäck: Geheimnisse, Verletzungen, Missverständnise, Ängste. Wie Tolstoi eben „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“. Dabei geht es gar nicht so sehr um großes Unglück, mehr so das normale, alltägliche mehr oder wenig große Unglücklichsein.

Richard bringt seine neue Ehefrau und deren 15-jährige Tochter Melissa mit. Melissa gibt das frühreife Miststück, permanent am Flirten und mit recht scharfer Zunge ausgestattet.

Angelas Ehemann ist ein ziemlicher Schlaffi, als vielversprechender, aber niemals erfolgreicher Musiker empfindet er dem erfolgreichen Richard gegenüber Minderwertigkeitskomplexe, lebt nur noch neben Angela her und tröstet sich mit einer anhänglichen Geliebten über seinen grauen Alltag hinweg. Ihre Kinder, die Teenager Daisy und Alex, haben ihre eigenen Schwierigkeiten, sich in der Welt zurecht zu finden. Daisy ist in die Religiosität geflüchtet, um sich von ihrer etwaigen Homosexualität ablenken zu können, Alex wirft sich auf den Sport und versucht durch klare Regeln und Disziplin sein Leben in Ordnung zu halten. Benyi, der kleine 8-jährige Sohn von Angela und Dominic, ist wohl der Unbelastetste von allen.

Im Buch lauern stets und ständig Konflikte und Missverständnisse. Komische und ernste, kleine und große. Das größte trägt Angela mit sich herum und im Laufe dieser Woche bricht dieses endlich auf. Ich liebe Haddons Charaktere, die Empathie, die seine Figuren ausstrahlen (insbesondere meiner Meinung nach die der Jugendlichen).

Dadurch das es keinen zentralen Erzähler im Buch gibt, schwenken die Ansichten rapide hin und her zwischen den 4 Erwachsenen, den 3 Teenagern und dem kleinen Jungen. Ja, das ist ab und an etwas anstrengend, aber diese Mühe lohnt sich. Die sollte man sich unbedingt geben, dafür denke ich, kann man sich ab und zu erlauben, über die anstrengenden ollen Listen, Buchauszügen, Aufzählungen von Inhalten in irgendwelchen Geschäften etc. drüber weg zu lesen.

Es ist nicht allzu schwierig, den verschiedenen Stimmen zu folgen, wenn man ein wenig aufpasst, das Buch ist allerdings eine ziemliche emotionale Achterbahn.

Also meine Damen und Herren, nehmen sie Platz in Haddons Achterbahn, aber schnallen sie sich an für eine anstrengende, aber durchaus lohnende Fahrt.

„Du hasst Richard, weil er dreihundert Meilen entfernt in Edinburgh in seinem großzügigen, georgianischen Apartment am Moray Place umherschlendert, während du auf diesem abgenutzten olivgrünen Stuhl sitzt und Mum dabei zuhörst, wie sie durch den Käfig ihres gebrochenen Geistes tobt.“

„Man konnte darum bitten, in den Arm genommen zu werden, wenn man traurig war oder sich weggetan hatte, doch wenn es einfach so spontan passierte, fühlte man sich innen drin so warm.“

„Kämpfen oder die Flucht ergreifen, dieser treue Wachhund, der seit Millionen von Jahren nicht von unserer Seite weicht und uns vor jedem Anzeichen von Gefahr warnt. Doch wie konnte man vor einem Hirngespinst flüchten? Wie konnte man den Bildern in seinem Kopf entkommen? Wie hatte es Hecht noch in seinem Artikel für Nature ausgedrückt, wir hatten die Welt da draußen gezähmt, aber nicht die Waffen, die wir besaßen, um in ihr zu überleben.“

„Doch als er dies tat, sagte Richard, bloß, Wunderbar, ohne Anzeichen von Überraschung oder Erleichterung, sodass Dominic sich kurzzeitig fragte, ob es möglich war, die Zukunft schon dadurch zu beeinflussen, dass man sie mit großem Selbstbewußtsein vorhersagte.“

Das Buch erschien im Blessing Verlag.