Gemischte Tüte

Kein Grund zur Sorge, bei Kalmann kann man sich sicher sein, es wendet sich alles zum Guten. Kalmann ist der selbsternannte Sheriff von Raufarhöfn und er muss einen Mord aufklären. Das wäre im besten Fall schon keine einfache Sache, aber in Kalmanns Kopf geraten die Dinge schnell durcheinander, die Fäden verwirren sich und manchmal laufen die Räder in seinem Kopf auch rückwärts.

„Als ich noch ein Kind war, hatte meine Mutter nie Zeit für mich, arbeitete fast rund um die Uhr. Ihr Problem war, dass sie keinen Mann hatte. Aber es gab schon Versuche. Einmal stellte sie mich sogar einem vor. Ein geschiedener Elektriker. Seine Haare waren schön gescheitelt, und weil er auch schön angezogen war, sah er überhaupt nicht aus wie ein Elektriker. Sie hoffte wohl, einen Vaterersatz für mich gefunden zu haben, aber so was wie einen Vater kann man nicht einfach ersetzen. Man hat dasselbe Blut in den Adern wie sein Vater. Es gibt also nur einen. Das spürt man. Genau darum ist es für mich ganz normal, einen Cowboyhut und einen Sheriffstern zu tragen, das ist in mir programmiert, da kann meine Mutter noch so laut meckern.“

So sehr mir dieser charmante Island-Roman auch gefallen hat, ich kann ihn nicht ohne Warnung empfehlen. Ihr müsst wissen, worauf ihr euch mit diesem Buch einlasst: Ihr werdet ganz sicher eine Reise nach Island buchen wollen, so bald das Virus uns nicht mehr Griff hat. Dieses Buch macht extrem Lust, dorthin zu reisen und ich habe die Route schon geplant, hoffe sehr ich treffe Kalmann vor Ort oder zumindest den mindestens genau so symphatischen Autor Joachim B. Schmidt, um gemeinsam einen Brennivin zu trinken und Polarfüchse zu beobachten. Die Reiselektüre ist dann auf jeden Fall schon mal klar.

Kalmann von Joachim B. Schmidt erschien im Diogenes Verlag.

What was is and what is was.

Die Erzählerin des Romans ist S.H., eine Schriftstellerin, die aus Minnesota stammt und nach New York zieht, um ihre schriftstellerische Karriere voranzutreiben.

Zum Zeitpunkt des Romans ist S.H. 61 Jahre alt und eine etablierte Autorin, die bereits mehrere Romane geschrieben hat. Als wir sie treffen, durchstöbert sie die Besitztümer ihrer Mutter und stößt dabei auf ein Tagebuch, das sie im Alter von 23 Jahren führte, als sie zum ersten Mal in New York ankam.

Auf diese Weise wird eines der Hauptthemen des Buches vorgestellt: Wie wirken Erinnerung und Vorstellungskraft zusammen. In zwei Strängen des Buches schreibt S.H. aus der Gegenwart des Romans über ihre Erinnerungen an diese Zeit (und die Zeiten davor und danach) und parallel dazu gibt sie Einträge aus dem Tagebuch wieder und denkt darüber nach.

The more I focus on remembering, the more details I am likely to provide, but those particulars may well be invented.

We are all wishful creatures, and we wish backward, too, not only forward, and thereby rebuild the curious, crumbling architecture of memory into structures that are more habitable.

Let us not forget that each time we evoke a memory, it is subject to change, but let us also not forget that those changes may bring truths in their wake.

Wie immer steckt Hustvedt voller interessanter Ideen und Beobachtungen. Der Roman ist nicht ganz einfach, aber er ist immer fesselnd und faszinierend.

Auf Deutsch erschien der Roman unter dem Titel „Damals“ im Rowohlt Verlag.

Wo gehören wir hin? Was ist unser Zuhause in einer Zeit, in der sich immer weniger Menschen sinnstiftend dem Ort verbunden fühlen, an dem sie geboren wurden?

„Traumata sind Teil der eigenen Biografie. Man kann sie nicht im Nachhinein veändern, und sie hören nicht auf, ihre Schatten auf das Leben zu werfen, das man führt.“

In seinem persönlichen Essay beschreibt Daniel Schreiber den Umschwung eines kollektiven Gefühls: Zuhause ist nichts Gegebenes mehr, sondern ein Ort, nach dem wir uns sehnen, zu dem wir suchend aufbrechen. Schreiber blickt auf Philosophie, Soziologie und Psychoanalyse, und zugleich erzählt er seine eigene Geschichte: von Vorfahren, die ihr Leben auf der Flucht verbrachten. Von der Kindheit eines schwulen Jungen in einem mecklenburgischen Dorf. Von der Suche nach dem Platz, an dem wir bleiben können.

Ein Buch, das einen definitiv auf eigene Spurensuche schickt.

„Die amerikanische Lyrikerin Maya Angelou: „Die schmerzhafte Sehnsucht nach einem Zuhause lebt in jedem von uns. Es ist die Sehnsucht nach dem Ort (…), an dem wir nicht in Frage gestellt werden.“

Zuhause von Daniel Schreiber erschien im Hanser Verlag.

Mit Mitte zwanzig, auf dem Höhepunkt des Tech-Boom ist Anna Wiener – wie fast jeder Millennial – auf der Suche nach dem Sinn in ihrer Arbeit. Der Job im Buchverlagswesen erfüllt sie nicht richtig und reich wird man mit diesem Job natürlich auch nicht. Die Tech Branche ist hungrig nach frischen Talenten, man lockt sie und es fällt ihr nicht wirklich schwer, den Verlockungen nachzugeben.

Sie zieht von New York nach San Francisco, wo sie bei einem großen Daten-Startup im Herzen der des Silicon Valley landet: eine Welt surrealer Extravaganz, zweifelhaften Erfolgs und ambitionierter Unternehmer, die wild entschlossen sind, die Welt zu dominieren.

Doch inmitten von Skiurlauben mit ihrem Unternehmen und den ständigen Saufgelagen im Büro mit den Bros entsteht ein neues Silicon Valley: eines das weit über seine Mittel lebt, eines, das sich auf Kosten der idyllischen Zukunft bereichert, die es angeblich für alle Menschen erarbeiten möchte.

Anna Wieners Memoiren sind das Porträt einer bereits schon wieder vergangenen Ära. Sie geben seltenen Einblick in eine Überflieger- und rücksichtslose Gründerkultur, in der ungebremster Ehrgeiz auf unkontrollierte Überwachung trifft.

“The platforms designed to accommodate and harvest infinite data inspired infinite scroll…people were saying nothing and saying it all the time.”

Mit Witz, Offenheit und Herz zeichnet Anna geschickt den Wandel der Technologieindustrie vom selbsternannten Weltretter zum demokratiegefährdenden Moloch nach, eingebettet in ihre eigene persönliche Erfahrung, die voller Ambivalenzen und Desillusionierungen steckt.

Uncanny Valley eine prägnante, schonungslose und warnende Biografie, die uns auf die mit Konsequenzen aufmerksam macht, die auf die ahnungslosen User zukommt und die wir erst jetzt langsam zu verstehen beginnen.

Being the only woman on a nontechnical team, providing customer support to software developers, was like immersion therapy for internalized misogyny. I liked men—I had a brother. I had a boyfriend. But men were everywhere: the customers, my teammates, my boss, his boss. I was always fixing things for them, tiptoeing around their vanities, cheering them up. Affirming, dodging, confiding, collaborating. Advocating for their career advancement; ordering them pizza. My job had placed me, a self-identified feminist, in a position of ceaseless, professionalized deference to the male ego.”

Auf Deutsch erschien das Buch unter dem Titel „Code kaputt“ im Droemer Knaur Verlag.

Play It As It Lays – Joan Dideon

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Niemand quält sich schöner beim Reflektieren als Joan Dideon. Dieses dünne Büchlein ist eine erbarmungslose Sezierung der Protagonistin, Maria Wyeth, und der kalifornischen Gesellschaft der späten 60er Jahre. Joan Dideon geht sparsam mit ihren Worten um. Sie schreibt, was geschrieben werden muss und erwartet, dass der Leser mithilft, mitarbeitet. Der Leser muss die Verbindungen erkennen und seine eigenen Schlüsse ziehen. Wie mit einem Skalpell entfernt sie eine Schicht nach der nächsten, bis Marias Psyche, ihre Emotionen und ihr Leben komplett offenliegen.

“One thing in my defense, not that it matters: I know something Carter never knew, or Helene, or maybe you. I know what „nothing“ means, and keep on playing.”

Mir tat sie zutiefst leid, es war kaum auszuhalten, wie ihr die Kraft zum Leben und Kämpfen langsam aber sicher abhanden kam, sie immer müder wurde, einfach keine Kraft mehr hatte. Die Geschichte springt immer wieder zwischen Gegenwart und Vergangenheit, die Kapitel fügen sich nach und nach wie Puzzle-Teile zusammen. Maria war selten in ihrem Leben glücklich. Ein schlimmes Erlebnis jagt das nächste, aber grundsätzlich fehlt ihr auch ein wenig das Talent zum Glücklich sein.

Muss man Glück haben um glücklich sein zu können und ist Glück immer das Privileg der Stärkeren?

“Tell me what matters,“ BZ said.
Nothing,“ Maria said.”

Maria ist häufig auf der Flucht und meistens vor sich selbst. Sie ist 31, Schauspielerin und ihr Ruhm verblasst bereits. Die Scheidung vom Vater ihrer Tochter scheint unabwendbar und ihre Tochter befindet sich in einer Einrichtung für entwicklungsgestörte Kinder. Niemand kämmt dort ihre Haare und bei jedem Besuch versucht Maria, die traurig verknoteten Strähnen zu entwirren, die bezeichnend sind für das eigene Chaos und die Leere in ihrem Leben.

Dideon zeichnet erbarmungslos das Bild einer depressiven Frau in einer Gesellschaft, in der es gilt, den Schein zu wahren, keine unbequemen Fragen zu stellen und schon gar nicht unglücklich oder langweilig zu sein. Eine Welt, die der ach so wilden pseudo-liberalen Sex, Drug and Rock’n’Roll Ära den Spiegel vorhält.

Dieses Chaos ist eine Lähmung. Das Leben lähmt sie durch die Bedeutungslosigkeit ihrer Karriere, die leeren Beziehungen, die Unehrlichkeit und Kälte um sie herum. Freunde und Liebhaber werden aus Langeweile gewechselt wie getragene Unterwäsche, nichts bedeutet wirklich etwas. Sie wird schwanger, ist nicht ganz sicher von wem und lässt sich überzeugen, das eigentlich gewünschte Kind abzutreiben.

“By the end of the week she was thinking constantly about where her body stopped and the air began, about the exact point in space and time that was the difference between Maria and other.”

Was ihr Halt gibt sind die einsamen Spritztouren auf den Autobahnen rund um Los Angeles. Nur wenn sie Asphalt unter den Reifen spürt, hat sie das Gefühl, ihr Leben ein wenig unter Kontrolle zu haben.

Ich finde es schwer nachvollziehbar, dass viele Leute das Buch für steril und Maria kalt und unnahbar empfinden. Ich fand es vielschichtig, ehrlich und verdammt herzzerreissend. Je mehr ich von Ms Dideon lese, desto besser gefällt sie mir. Da muss wohl Nachschub her 😉

Das Buch wurde 1972 von Frank Perry verfilmt mit Anthony Perkins und Tuesday Weld in den Hauptrollen. Möchte mir den unbedingt noch anschauen, bis dahin hier mal ein Ausschnitt:

Das Buch erschien auf deutsch unter dem Titel „Spiel dein Leben“ im Droemer Knaur Verlag.