The Ninth House – Leigh Bardugo

Mors irrumat omnia. Death fucks us all

Der Roman handelt von der 20-jährigen Galaxy „Alex“ Stern, einer Schulabbrecherin und einzige Überlebende eines Mordes, die Geister, sehen kann. Nach ihrem Trauma wird Alex auf mysteriöse Weise ein volles Stipendium für Yale angeboten, obwohl sie nicht über die nötigen Qualifikationen verfügt. Sie versucht, sich in ihrem neuen Leben an der Ivy League zurechtzufinden, während sie von ihrem Wohltäter beauftragt wird, die acht Häuser/Geheimgesellschaften, die dunkle Magie nutzen…

Jedes Mal wenn ich beim Lesen dachte, ok das ist jetzt aber sehr seltsam/fantastisch, dann waren das Sachen die tatsächlich in Yale so sind. Diese ganzen Geheimgesellschaften die den priviligierten Kids mit den ohnehin grandiosen Startbedingungen das Leben künftig noch ein bisschen angenehmer machen und für hilfreiche Alumni-Bündnisse sorgen, sind mir mehr als suspekt. Bardugo beschäftigt sich mit diesen Privilegien und bezieht sich im Roman auf tatsächlich stattgefundene sexuelle Übergriffe von Mitgliedern dieser Gesellschaften die im großen Stil gedeckt bzw kaum geahndet wurden. Sie zeigt die Privilegien und Machtdynamiken auf die weiße, reiche, privilegierte Jungs dazu bringt sich zu allem berechtigt zu fühlen, und denen sogar Gefühl vermittelt wird für ihre Taten auch noch Applaus zu bekommen. Missbrauch und Anspruchsdenken sind vermutlich auch erblich und hinterlassen unzählige Opfer, deren ganzes Leben dadurch beeinträchtigt wird.

“There were always excuses for why girls died”

Ninth House ist auch ein Buch über Trauma und zumindest teilweise Heilung. Ein Buch voller Dunkelheit, dass und nicht nach jedermanns Geschmack sein dürfte, denn es ist stellenweise sehr brutal. Es hat aber auch helle Seiten und zeigt was ein Mensch bewegen kann, um seine Stimme zurückzubekommen.

“Maybe all rich people asked the wrong questions. For people like Alex, it would never be what do you want. It was always just how much can you get?”

Alex Stern ist auf jeden Falle eine interessante Protagonistin, die überhaupt nicht in die Yvy League Umgebung reinpasst und die sich in keinster Weise verbiegt um in Yale reinzupassen. Rotzig, street smart und klug versucht sie dennoch aus der Chance die sich ihr bietet das Beste zu machen.

Jodie Foster ist im Übrigen Mitglied der Geheimgesellschaft „Manuscript“ in Yale – werde ich mir auf jeden Fall mal merken, gutes Small Talk Topic falls wir uns mal treffen…

Könnt ihr mit Dark Fantasy was anfangen? Habt ihr Empfehlungen?

#WomeninSciFi: New York Ghost – Ling Ma

Dieses Buch hat mich von der ersten Seite an in seinen Bann gezogen. Ling Ma erzählt in „New York Ghost“ die Geschichte von Candace Chen, einer Millennial-Frau, die viel zu viel arbeitet und einen Großteil ihres Lebens in einem Büroturm in Manhattan verbringt. Da beide Eltern kürzlich verstorben sind und sie keine andere Familie oder enge Freunde hat, hat sie kaum etwas anderes zu tun, als zur Arbeit zu gehen und mit ihrem Freund in einem Keller in Greenpoint Filme zu schauen. Candace empfindet daher wenig Emotionen, als das Shen-Fieber ausbricht, eine Seuche, die Menschen in gewaltlose Zombie-Versionen ihrer selbst verwandelt, die dazu verdammt sind, dieselben Routineaufgaben immer und immer wieder zu wiederholen, bis sie irgendwann bewusstlos werden und sterben. Die Routinen der ewigen Wiederkehr. Die Geschichte wechselt zwischen Candace‘ Leben vor dem Shen-Fieber und danach, als sie mit einer Gruppe von Überlebenden durch das apokalyptische Amerika reist, die vom machthungrigen, autoritären Bob angeführt wird.

„Ich habe immer in dem Mythos New York gelebt, mehr als in seiner Realität“

„New York Ghost“ ist unglaublich atmosphärisch. Während des Lesens fühlte ich mich klaustrophobisch, gefangen und gleichzeitig gefesselt von der Geschichte – ähnlich wie sich vermutlich viele Millennials im Neoliberalismus/Spätkapitalismus unserer Zeit fühlen. Die Rück- und Vorblenden haben hier gut funktioniert, da sie dazu dienten, Candace‘ Charakter und Hintergrundgeschichte zu vertiefen und gleichzeitig die Erzählung voranzutreiben. Innerhalb dieser dichten, fesselnden Handlung fügt Ma Kommentare über die tödlichen, verheerenden Auswirkungen des Kapitalismus ein, die für eine gute Balance zwischen dem pandemischen und dem gesellschaftspolitischen Teil des Buches sorgen. Alle Elemente dieser Geschichte – die Zombie-Apokalypse, Candaces Erwachsenwerden, das Eintauchen in das Firmenleben – kommen auf eine düstere, fesselnde und unaufhaltsame Weise zusammen.

Ma hat einen dystopischen Zombie-Roman geschrieben, der sich mit der Frage beschäftigt, warum man sich vor der Zombie-Apokalypse fürchten sollte, wenn wir alle doch bereits irgendwie Zombies sind? Ma zielt auf unsere extrem schnelllebige, materialgetriebene, im Internet existierende Gesellschaft ab, sie nimmt traditionelle Rollen genauso ins Visier wie Nostalgie und die Schönfärberei der „Vergangenheit“. Kapitalismuskritik trifft auf Zombies und Pandemie.

Eine clevere, spannende, gelegentlich zynische und gleichzeitig wichtige Lektüre, die mich dazu gebracht hat, viel darüber nachzudenken, was in meinem Leben am Wichtigsten ist. Eine Autorin, die ich definitiv im Auge behalten möchte und auf deren nächstes Buch ich schon sehr gespannt bin.

Dystopische D(r)amen

Wer glaubt eine Pandemie würde mich von meiner dystopischen Leidenschaft heilen, irrt gewaltig. Diese drei Bücher waren die perfekte Begleitlektüre durch die Covid-19 bedingten Ausgangsbeschränkungen.

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Die Wand ist eine Chronik des Lebens des letzten überlebenden Menschen auf der Erde, einer gewöhnlichen Frau mittleren Alters, die eines Morgens aufwacht und feststellt, dass alle anderen verschwunden sind. In der Annahme, ihre Isolation sei das Ergebnis eines schiefgelaufenen militärischen Experiments, beginnt sie die mit der Arbeit des Überlebens und ihrer eigenen Selbsterneuerung. Dieser Roman ist gleichzeitig eine einfache und bewegende Geschichte und eine verstörende Meditation über die Menschheit.

Wenn ich heute an meine Kinder denke, sehe ich sie immer als Fünfjährige, und es ist mir, als wären sie schon damals aus meinem Leben gegangen. Wahrscheinlich fangen alle Kinder in diesem Alter an, aus dem Leben ihrer Eltern zu gehen; sie verwandeln sich ganz langsam in fremde Kostgänger. All dies vollzieht sich aber so unmerklich, daß man es fast nicht spürt. Es gab zwar Momente, in denen mir diese ungeheuerliche Möglichkeit dämmerte, aber wie jede andere Mutter verdrängte ich diesen Eindruck sehr rasch. Ich mußte ja leben, und welche Mutter könnte leben, wenn sie diesen Vorgang zur Kenntnis nähme?“

Das Buch ist der Bericht, den die Heldin einige Jahre später auf der Grundlage des skizzenhaften Tagebuchs schreibt, das sie geführt hat. Es vermischt Erinnerungen, Rekonstruktion vergangener Episoden, die verblasst sind, und Reflexionen aus der Gegenwart. Doch meistens handelt er von den Einzelheiten des täglichen Überlebenskampfes: wie sie mit ihrem kargen Kartoffelvorrat ein Kartoffelacker anlegt (hat mich sehr an den Martian von Andrew Weir erinnert), wie sie Heu mäht, um ihre Kuh zu füttern, wie sie Holz hackt, um sich in den bitteren Wintern warm zu halten und wie sie manchmal einen Hirsch schießt, um Fleisch zu bekommen.

Sie ist völlig kompromisslos: Die Erzählerin schreibt nur für sich selbst, es gibt sonst niemanden auf der Welt, und sie vermisst auch niemanden so richtig. Sie will die Dinge einfach nur erzählen wie sie sich zugetragen haben. Es ist erstaunlich, wie real ihre Welt wird und wie selten man einen dystopischen Roman ließt, in dem soviel Fürsorge zutage tritt.

Das Buch widersetzt sich einer einfachen Interpretation. Vielleicht ist das nicht einmal die eigentlich spannende Frage. Es ist ein grandioses Bild, das einem im Gedächtnis bleibt, die einsame Frau, die in ihrer unsichtbaren Blase gefangen ist, die fast alles verloren hat, sich aber immer weigert aufzugeben. Eine Frau, die all ihre Entschlossenheit, ihren Einfallsreichtum und ihr Können einsetzt, um noch ein weiteres Jahr zu überstehen, weil ihre kleine Tierfamilie sie braucht. Manchmal denkt sie an die Menschen, die diese unbegreifliche Waffe geschaffen haben, die alle außerhalb der Wand in Stein verwandelt hat, und sie fragt sich, wie sie das geschafft haben konnten. Diese Menschen müssen sich in einer Weise von ihr unterscheiden, die sie nicht in keinem Fall verstehen kann.

Wer weiß, was die Gefangenschaft aus diesem unauffälligen Mann gemacht hätte. Auf jeden Fall war er körperlich stärker als ich, und ich wäre von ihm abhängig gewesen. Vielleicht würde er heute faul in der Hütte umherliegen und mich arbeiten schicken. Die Möglichkeit, Arbeit von sich abzuwälzen, muß für jeden Mann eine große Versuchung sein. Und warum sollte ein Mann, der keine Kritik zu befürchten hat, überhaupt noch arbeiten.“

„Die Wand“ ist der berühmteste Roman der 1920 im österreichischen Frauenstein geborenen Marlen Haushofer. Er wurde 2012 mit Martina Gedeck in der Hauptrolle verfilmt. „Die Wand“ wurde in den achtziger Jahren von der Frauen- und der Friedensbewegung wiederentdeckt, und die Geschichte lässt sich vielfältig interpretieren.

Als perfekten Soundtrack empfehle ich Chelsea Wolfes „Pain is Beauty

Empfehlen kann ich auch die Verfilmung mit Martina Gedeck in der Hauptrolle:

Warum hört man eigentlich so gar nichts vom Haushofer Jahr, wo uns doch an jeder Ecke Hölderlin, Beethoven und Paul Celan Gedenktage und Veröffentlichungen begegnen? Sehr schade.

Daher feiere ich dieses Jahr Marlen Haushofer, Annette Kolb und Clarice Lispector 🙂

Und ihr so?

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Winters Garten ist der Name der idyllischen Siedlung, in der alles üppig wächst und gedeiht und der Sehnsuchtsort von Anton der in der Stadt lebt und Vögel züchtet und der dort eine sehr glückliche Kindheit erlebte. Er wuchs mit anderen Kindern und den alten Menschen in einem riesigen Haus mit Winters Garten auf. Er erlebte die Welt und den Tod aus nächster Nähe, streifte durch Wiesen und Wälder, spielt verstecken genießt die Wärme und Liebe seiner geliebten Großmutter.

Als Erwachsener lebt er als Vogelzüchter in der Stadt. Schlaflos steht er nachts am Fenster und blickt auf die verwahrlosten Straßen. Alles ändert sich, nichts ist mehr wie es war. Häuser und Straßenzüge verfallen, die wilden Tiere dringen in die Vorgärten und Hinterhöfe ein, der Schlaf der Menschen ist schwer von Träumen und viele gehen hinunter ans Meer, um ihrem Leben ein Ende zu bereiten.

Inmitten dieser Hoffnungslosigkeit trifft Anton eine Frau, in die er sich auf den ersten Blick verliebt. Wortlos nimmt sie ihn bei der Hand, folgt ihm nach Hause und bleibt. Sie starren sich an oder lieben sich.

 

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Anton hilft ihr in der Klinik, in der sie arbeitet, die in eine Entbindungsstation umgewandelt wurde. Friederike freundet sich mit der hochschwangeren Marta an. Nach der Geburt des Kindes, stellt sich heraus, dass der Vater Antons Bruder ist. Nach vielen Jahren kehrt Anton mit Friederike, seinem Bruder, dessen Frau und dem Baby in die Gartenkolonie zurück, um vor dem nahenden Ende der Welt zu fliehen. Sie verbringen die Tage damit, sich zu erinnern und auf das zu warten, was kommen mag.

Ich habe so vieles vergessen, aber nicht, wie man von der Zukunft spricht. Es ist niemand da, der fragt, ob man leben will, und niemand, der fragt, ob man sterben will. Genauso wenig, wie man sich aussuchen kann, von wem man geliebt wird. Und selbst wenn man seine Tritte sorgfältig rückwärts in die eigenen Fußspuren setzt, heißt das nicht, dass man dort ankommt, wo man aufgebrochen ist. Wenn mich die Menschen fragen, ob ich die Welt gesehen habe, sage ich ihnen, dass sie nie still genug hält, um gesehen zu werden

Was genau in der Welt passiert, wird nicht näher erläutert, aber das nahende Ende ist in deutlich spürbar. Es ist die Sprache, die eine dunkle Anziehungskraft entwickelt und die einen vom ersten Satz an in die wohlig-dunkle Atmosphäre des Romans hineinzieht.

Das ist kein Roman für Menschen, die einen rasanten Plot lieben mit vielen Wendungen. Denn es passiert nicht viel. Am Anfang und am Ende steht die Gartenkolonie, die voller Erinnerungen ist und den Menschen Heimat bietet in einer Welt die keine Zukunft mehr hat.

Zu lieben ist die einzig angemessene Art zu existieren. Wenn man beginnt, einander zu lieben, weiß man nichts darüber, nichts über die Angst, den Mut, die Trauer, die Bedingungslosigkeit, oder man weiß alles und versteht die Liebe doch nicht, weil sie noch unbelastet ist von den Erfahrungen, die ihr folgen.“

Wortgewaltig, sinnlich, düster, tolle Atmosphäre.

Als passenden Soundtrack zum Buch habe ich Soap & Skin „Lovetune for Vacuum“ gehört.

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The Memory Police von Yoko Ogawa ist ein hypnotischer, ruhiger Roman, der als Dystopie eines Überwachungsstaates beginnt und als etwas Existenzielleres endet: eine surreale und eindringliche Meditation über unser Selbstverständnis.

Dieser Roman, der vor 25 Jahren erstmals in Japan veröffentlicht wurde und jetzt in englischer Übersetzung vorliegt, ist gänzlich zeitlos. Die Bewohner einer namenlosen Insel, die unter einem repressiven Regime leben, erleben eine Form von kollektiver, allmählicher Amnesie. Beim Erwachen beginnt ein scheinbar zufälliger Gegenstand – Rosen, Vögel, Boote – aus ihren Köpfen zu verschwinden. Sie müssen die vollständige Auslöschung des Gegenstandes sicherstellen, indem sie alle Beweise für seine Existenz aus der Welt tilgen. Die Gedächtnispolizei ist dazu da, selbst den schwächsten Widerstand zu brechen, aber die meisten Menschen treiben in passiver Selbstgefälligkeit durch den Tag und Widerstand ist kaum spürbar. Welchen Sinn hat es, sich an etwas zu klammern, an das man sich nicht erinnern kann?

“It’s a shame that the people who live here haven’t been able to hold such marvelous things in their hearts and minds, but that’s just the way it is on this island. Things go on disappearing, one by one. It won’t be long now,” she added. “You’ll see for yourself. Something will disappear from your life.”

Eine kleine Zahl von Menschen ist gegen dieses Phänomen immun. Sie sind verflucht durch ihre vollständige Erinnerung an alles, was verloren gegangen ist, und stellen eine Bedrohung für das Regime dar. Daher müssen sie ihre Andersartigkeit um jeden Preis verbergen.

Memories are a lot tougher than you might think. Just like the hearts that hold them.”

Im Roman geht es um eine junge Frau, die um ihre Karriere als Schriftstellerin kämpft, und die entdeckt, dass ihr Verleger durch die Gedächtnispolizei in Gefahr ist, schmiedet sie einen Plan, ihn in einem eigens dafür errichteten Anbau unter ihren Dielen zu verstecken, in einer Weise, die mich immens an  „Das Tagebuch der Anne Frank“ erinnerte. Es handelt sich um eine geheime Kammer, die nur über eine Falltür in der Decke zugänglich ist. Unterdessen beschleunigt sich das „Vergessen“ und wird immer extremer.

Dies ist eine stille, melancholische Apokalypse, bei der die Widerstandsversuche gering sind und die in der völligen Zerstörung des Selbst gipfelt.

“I don’t know. Maybe there’s a place out there where people whose hearts aren’t empty can go on living.”

Der perfekte Soundtrack für diesen Roman ist „Nowhere Now Here“ von Mono.

Wie ist das bei euch? War euch in der letzten Zeit eher nach Kontrastprogramm oder habt ihr auch ganz bewusst nach eher dunklen, dystopischen Stoffen gegriffen?

#Women in SciFi (54) Die Sternenkrone – James Tiptree Jr.

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Diese Kurzgeschichtensammlung enthält die letzten Werke von Alice Sheldon alias James Tiptree Jr, kurz bevor sie 1987 ihrem eigenen und dem Leben ihres Ehemannes ein Ende setzte. Die Schwierigkeiten, die sie durch die Erkrankung ihres Mannes sowie ihrer eigenen Depression hatte, haben in diesem Band die wohl düstersten ihrer Geschichten hervorgebracht.

Aber trotz aller Düsternis und Depression, Sheldon/Tiptree war stets in der Lage, ihre spekulativen Ideen mit den größtmöglichen Hypothesen zu verbinden. So treffen wir auf den Teufe, auf blaue Oktopus-Aliens, konzernbetriebenen Kannibalismus sowie Zeitreisende und tödliche Langeweile.

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Sheldon wagt sich mit ihren Ideen weit vor und kommt zu bewegenden und schockierenden Ergebnissen, wohin es die Menschheit so treiben könnte. Sheldon ist eine Autorin, die dem Leser viel zumutet, die ihn zwingt, alles aus komplett anderer Perspektive zu betrachten.

Die Sternenkrone, die selbst nie im Text vorkommt, gebührt ganz eindeutig Alice Sheldon, der Königin unter den Science Fiction Kurgeschichten-Autoren.

Besonders gefielen mir die Geschichten „Non Angli Sed Angli“ eine melancholische Geschichte, in der die Menschheit Kontakt zu blauen Oktopus-Aliens aufnimmt, die sich als Ersatz für die alten, leeren Götter der Erde sehen sowie die Geschichte „Fleisch“, die in einer nahen dystopischen Zukunft angesiedelt ist, in der ähnlich wie in Atwoods „The Handmaid’s Tale“ konservative Gruppen die Abtreibungsrechte abschaffen, der Großteil der Menschheit in bitterer Armut lebt und die vom Staat betriebenen Babyklappen wie Tierheime aufgezogen sind.

Der Band enthält folgende Kurzgeschichten:

01. „Non Angli Sed Angeli“ („Second Going“) 9/10
02. „Der residierende Teufel“ („Our Resident Djinn“) 7/10
03. „Fleisch“ („Morality Meat“) 10/10
04. „All dies und den Himmel dazu“ („All This and Heaven Too“) 7/10
05. „Yanqui Doodle“ („Yanqui Doodle“) 8/10
06. „Komm, leb mit mir“ („Come Live with Me“) 6/10
07. „Diese Nacht und alle Nächte“ („Last Night and Every Night“) 5/10
08. „Zurück! Dreh’s Zurück!“ („Backward, Turn Backward“) 10/10
09. „Schlangengleich erneuert die Erde sich“ („The Earth Doth Like a Snake Renew“) 7/10
10. „Mitten im Leben“ („In Midst of Life“) 6/10

Ich bin übrigens jetzt so angefixt von Sheldon/Tiptree, daß ich andere von ihr lesen möchte und auf jeden Fall auch die Biografie dieser sehr faszinierenden Frau. Die nächsten Bände werde ich mir im Septime Verlag kaufen, die eine wunderschöne Gesamtausgabe herausgegeben haben.

Constanze, vom Blog Zeichen & Zeiten hat für die Reihe „Women in SciFi“ ein spannendes Interview mit dem Verleger Jürgen Schütz geführt, das man hier nachlesen kann.

Habt ihr schon etwas von Alice Sheldon/James Tiptree Jr gelesen bzw. welches ist eure Lieblingsgeschichte von ihr?

#Women in SciFi (53) Unser Leben in den Wäldern – Marie Darrieussecq

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Ich lese und schaue sehr gerne Dystopien und kürzlich fiel mir auf, dass mich eher Plots interessieren, in denen die Gesellschaft zerbricht oder sich die Welt von einem Schreckensscenario erholen muss, als solche, in denen sich eine totalitäre Gesellschaft ausbildet (z.B. The Handmaid’s Tale). Vielleicht sind mir letztere etwas zu nah an der Wirklichkeit. Marie Darrieussecq hat auf ein paar Seiten eine komplexe, intelligente Geschichte geschaffen, die mich in Teilen an Ishiguros „Never let me go“ erinnerte.

Dieses kleine Büchlein wurde mir vom Verlag unaufgefordert zugeschickt und ich hätte nie gedacht, dass es mich so derart packen würde. Die Protagonistin der Geschichte ist eine Psychotherapeutin mit stark schwächelnder Gesundheit. Sie erzählt in Form eines Tagebuchs, wie es dazu kam, dass sie sich in den Wäldern versteckt, es ist im Grunde ein langer Monolog mit kurzen aktuellen Einschüben:

„Gut. Womit fang ich an. Ich glaube, die elementaren Vorsichtsmaßnahmen , an die wir uns halten, muss ich nicht erläutern, die liegen auf der Hand: das Verwischen unserer Datenspuren, unserer Identitäten usw. Das Organisieren unseres Verschwindens. Wenn jemand verschwindet, und zwar, ohne dass die es entschieden haben, das stört sie am meisten. Wir sind alle verschwunden. Wobei sie schon wissen, wir sind da, in einer Art verkehrten Welt.“

Die Geschichte spielt im frühen 22. Jarhundert. Die Erzählerin erklärt den kulturellen Kontext für die, die eventuell einmal ihre Aufzeichnungen finden sollten. Die meisten Menschen haben sich freiwillig Implantate setzen lassen, mit denen sie jederzeit überwacht werden können. Es gibt Terrorangriffe unbekannter Herkunft und es herrscht insgesamt eine bedrückende Atmosphäre. Die Wohnungen sind in der Regel sehr klein und haben teilweise nicht einmal mehr Fenster. Da die meisten Jobs von Robotern und AI übernommen werden, leben die meisten Menschen in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen. Einer der wenigen einfachen Jobs die übrig sind, ist das emotionale Training und assoziertes Denken von AI für 2$ die Stunde. Psychische und physische Gesundheit wird groß geschrieben, allerdings sind die Menschen aufgrund von Umwelteinflüssen deutlich kränker.

Die Erzählerin ist Teil DER GENERATION, einer kleinen experimentellen Kohorte an Mittelklasse-Menschen (die jetzt erwachsen und um die 40 Jahre alt sind), für die ein Zwilling geklont wurde, die sogenannten Hälften, deren einzige Aufgabe es ist, als Körperersatzteillager für die Mitglieder DER GENERATION zu fungieren.

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Die Hälften leben sediert in einer krankenhausähnlichen Einrichtung und sind dort in einen künstlichen Schlaf versetzte. Die ärmeren Leute aus den einfacheren Schichten haben nur sogenannte „Krüge“, in denen sie künstlich erzeugte Ersatz-Herzen, Lungen etc. aufgewahren.

Ich will nicht zuviel verraten, aber die Protagonistin wird Teil einer Widerstandsbewegung, die sich mit ihren befreiten Hälften in die Wälder zurückzieht und die gängigen Praktiken in der Gesellschaft in Frage stellt. Die Hälften, die ihr Leben lang sediert vor sich hinvegetiert haben, sind kaum alleine lebensfähig und müssen selbst die fundamentalsten Dinge wie gehen, sprechen etc. beigebracht bekommen.

Ein kurzer, spannender, intensiver Roman der einen noch lange beschäftigt und den man am Ende direkt noch einmal von vorne lesen möchte.

Marie Darrieussecq hat seit 1996 16 Bücher veröffentlicht. Sie arbeitete bis 2017 auch als Psychoanalytikerin und lebt mit ihrer Familie in Paris.

Unser Leben in den Wäldern wird momentan unter der Regie von Magali Magistry verfilmt und ich bin schon sehr gespannt darauf.

Ich danke dem Secession-Verlag für das Rezensionsexemplar.

Women in Science (25) Digitale Ethik – Sarah Spiekermann

Digitale Ethik

Ich freue mich sehr die Women in Science Reihe mit einem so großartigen Beitrag, von Wiederholungstäterin Claudia vom wunderbaren Blog „Das graue Sofa„, fortführen zu dürfen. Mir liegt die Reihe sehr am Herzen, wer also ebenfalls Lust hat mit einem Gastbeitrag in dieser Reihe weitere interessante Frauen aus der Wissenschaft vorzustellen, meldet euch gerne. Jetzt aber geht es hier mit einem Thema weiter, mit ich mich bislang noch viel zu wenig beschäftigt habe:

Sarah Spiekermann: Digitale Ethik. Ein Wertsystem für das 21. Jahrhundert

In ihren Seminaren zum Thema Innovationsmanagement an der Wirtschaftsuniversität Wien stellt Sarah Spiekermann ihre Studierenden vor die Aufgabe, eine Produkt-Roadmap für den fiktiven Lieferdienst FoodIS, dessen Geschäftsmodell an denen von Foodora und Deliveroo angelehnt ist, zu erstellen. Hier setzen die Studierenden um, was sie gelernt haben, wenn sie die technischen Raffinessen eines selbstlernenden, eines intelligenten Systems mit Blick auf die verschiedenen Nutzer – die Kunden, die Restaurants und Fahrradkuriere, den Betreiber der App – erarbeiten und darlegen. Sie denken daran, dass die Handy-App den Kurieren immer den schnellsten Weg weist, über ihre Ortung aber auch erkannt werden kann, wie lange sie Pausen machen. Sie wollen eine App entwickeln, die Aufträge mit einer nach einem Menschen klingenden Stimme weitergibt und sie so bearbeitet und bündelt, dass eine hohe Effizienz entsteht. Und weil sie im Seminar von Sarah Spiekermann sitzen, denken die Studenten auch daran, Werte wie Datensicherheit und Privatheit mit einzubinden.

Aber, so erklärt die Autorin, die Studierenden überlegen nicht eine Sekunde, ob solch eine App überhaupt nötig ist. Ob Digitalisierung wirklich immer sofort eine bessere Lösung erzielt, „weil technische Entwicklungen schlichtweg die Zukunft sind“. Und sie denken überhaupt gar nicht – und das haben eigene Erfahrungen mit einer ähnlichen Aufgabenstellung gezeigt – darüber nach, welche Folgen diese digitalen Leistungen haben, wiederum für die Kunden, die Fahrradkuriere, die Mitarbeiter der App, wenn sie nämlich zu Services ohne Wert, ja, ohne Herz werden.

Mit ihrem Fallbeispiel zielt Sarah Spiekermann ins Herz einer Debatte, die sie in ihrem Buch vor allem mit Blick auf die technische Entwicklung führt  – die aber ebenso für unser Wirtschaftsgeschehen insgesamt geführt werden sollte. Indem sie mit ihren Studenten zu einem gedanklichen Ausflug in die Welt der Philosophie startet, indem sie mit ihnen die Frage vom „guten Handeln“ auslotet und Einblicke in die Diskussion um Werte gewährt, ermöglicht sie ihren Studenten einen anderen Blick auf die ursprüngliche Aufgabenstellung. Die dann, in einem zweiten Durchgang, sehr viel mehr kreatives Potenzial und entsprechend auch mehr Lösungsvorschläge für die Konzeption einer Liefer-App einbringen: „Was jedoch eine solche kurze Einführung in die Ethik zu kreativen und menschenfreundlichen Ideen für den Innovationsprozess bewirken kann, hat selbst mich überrascht.“

So ist es Sarah Spiekermanns erklärtes Ziel, den digitalen Entwicklungsprozess, der ja unausweichlich sein wird, durch eine werteorientiertes Debatte zu begleiten. Nicht, wie sie schreibt, um den Unternehmen ein „ethisches Feigenblatt“ zu gewähren, nicht, um ihnen zu zeigen, wie sie „noch mehr Geld mit der Digitalisierung machen können“, sondern um „besser und weiser“ diese Entwicklungen zu steuern: „Meine Zielfunktion ist also nicht das Geld. Meine Zielfunktion ist ein gutes Leben, die Eudaimonia, bei der das Geld nur eine Randbedingung ist.“

Dass sich mit dieser Haltung, nämlich werthaltige (digitale) Produkte zu erstellen und anzubieten, durchaus auch Geld verdienen lässt, hat schon Michael Porter 1980 mit seinem Modell zur Wettbewerbsstrategie und der Strategie der Qualitätsführerschaft, herausgestellt.

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Sarah Spiekermann hat das „digitale Fieber“ 1996 gepackt, als sie – mehr aus Zufall – einen Praktikumsplatz bei 3com im Silicon-Valley antrat. 3com galt damals als Marktführer von Netzwerktechnologien, war mit seinen Produkten einer der Pioniere beim Aufbau der ersten Datenautobahnen. Sie verstand erst nicht, was die blinken Plastikplatten ermöglichten, doch dann holte sie nach, was die Welt der IT ausmacht. Und blieb auch nach dem Studium voller Begeisterung und Enthusiasmus in der IT-Welt, promovierte in diesem Bereich auch. Doch dann kam der 11.9.2001, den sie als Wendepunkt in ihrem Blick auf die Entwicklung des Internets betrachtet. Ihr schwirrten Ideen durch den Kopf, wie Künstliche Intelligenz geschaffen werden könnte, wie KI die Menschen tagtäglich unterstützen, wie die Kommunikation und der Umgang mit ihr gestaltet werden könnte. Ihr Stipendium für ein Forschungsjahr in Berkeley wurde nicht genehmigt, weil ihre Forschungsfrage plötzlich obsolet war. Sie wollte darüber forschen, wie der Wert der digitalen Privatheit zu erreichen sei, wenn KI zu unseren alltäglichen Begleiter wird. Tatsächlich aber zeigte sich nach den Anschlägen in New York, dass das Internet genutzt wurde, um die Täter zu identifizieren. Die amerikanische Regierung gründete das Department of Homeland Security und brachte fast über Nacht den Patriot Act durch das Parlament. Nun konnten die Behörden ihren Bürgern auch ohne richterlichen Beschluss auf ihren digitalen Spuren im Internet folgen: „Der Wert der Privatheit schien durch die Ereignisse des 11. September erloschen.“

Seit dieser Zeit wohl treibt Sarah Spiekermann die Frage nach einem Konzept von digitaler Ethik um. Um die gesellschaftlichen Folgen der einen oder anderen Fehlentwicklung im Umgang mit Daten analysieren und auch die Konzeption von Programmen kritisch auszuloten arbeitet und forscht Sarah Spiekermann derzeit am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik und Gesellschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien. Ihre fachlichen Kenntnisse der Informatik kann sie nun ergänzen durch ihre Suche nach philosophischen Fragestellungen und Denkansätzen, die zu einem anderen Verständnis des Einsatzes der Technik führen können.

Diesem zweifachen Ansatz folgt sie auch in ihrem Buch zur digitalen Ethik. Indem sie nämlich zunächst einmal die verschiedenen Besonderheiten der digitalen Güter beschreibt und analysiert. Hier spricht sie von der „Big-Data-Illusion“, weil die komplexe reale Welt eben auch durch die beste Datenanalyse nicht abgebildet werden könne. Hier weist sie auf die „Fehleranfälligkeit des Digitalen“ hin, weil der Code Fehler hat und für Fehleranalysen oft keine Zeit bleibt, weil der Code nicht über genügend Daten verfügt – oder sich schlicht ein Hacker seiner bemächtigt hat. Hier setzt sie sich damit auseinander, wie schnell wir uns in die digitalen Welten „verstricken“ lassen und durch die Aufmerksamkeit, die wir eher unseren digitalen Geräten und den darauf eingehenden Push-Nachrichten schenken zu „seichten“ Persönlichkeiten werden können. Mit der Forderung nach einer besonders ausgeprägten Bildung im Umgang mit der Technik versucht sie, Fehlentwicklungen einzuhegen.

Forscht sie einmal den Charakteristika des Digitalen im Detail nach, so weitet sie im nächsten Kapitel den Blick und betrachtet die Geschichte des Fortschrittsdenkens über die letzten 900 Jahre. Lange galt das „klassische“ Streben nach dem „persönlichen Fortschritt“ als Ideal der menschlichen Entwicklung, die Suche nach einem kultivierten Leben, die Suche nach dem Glück, die „Sorge um sich“. Erst im Hochmittelalter änderte sich diese Sicht langsam, festzumachen am Begriff des „Fortschreitens“, den Albertus Magnus (1200 – 1280) erstmals nutzte, als er davon sprach, dass wir nach Weisheit streben und uns dabei von dem, was bereits bekannt oder erfunden ist „fortschreiten“.

Dass das Neue gerne als das Bessere angesehen wird, das weist Spiekermann nach in den Schriften der Philosophen, Erfinder und Wissenschaftler der kommenden Jahrhunderte, in der immer deutlicher werdenden wissenschaftlichen Entwicklung weg von der Philosophie hin zu Mathematik und Naturwissenschaften und damit zu einem Denken in Modellen. Ja, bis hin zu der Vorstellung, dass sich die Zukunft prognostizieren lasse, wenn man nur die Vergangenheit kenne (Condorcet, 1793). Damit sind wir bei den heute gängigen Prognose- und Wachstumsmodellen, die sich durch die Vielzahl der jetzt vorliegenden Daten und Algorithmen noch viel schneller, einfacher und vermeintlich besser berechnen lassen. Dass das eben nicht klappt, dass sich daraus geradezu erschreckende Fehlentscheidungen ergeben können, das weist Spiekermann an der seit sieben Jahren plötzlich, unerwartet und überhaupt nicht prognostizierten Steigerung der Geburtenzahlen nach – und den daraus folgenden fehlenden Kita-Plätzen und Schulangeboten. Trotzdem: Die Idee, dass das Neue immer besser ist als das Alte und dass die neue Technik so viel zu leisten vermag als der Mensch, das ist in unserem Denken fest verankert. Und führt, zumindest bei denjenigen, die dieser Idee anhängen, den Transhumanisten, dazu, den Menschen als durch Maschinen zu optimierendes Wesen anzusehen.

Dem stellt Spiekermann ihren Ansatz der digitalen Ethik entgegen und fordert alle Beteiligten dazu auf, Werte zu leben. Die „Kunst des Weglassens“ könnte zum Beispiel eingesetzt werden, um den Wert der Gesundheit zu stärken. Dann nämlich, wenn gesammelte Gesundheitsdaten nicht weiter verkauft werden, sondern alleine der wissenschaftlichen Forschung dienen. In dieser Form setzt sich die Autorin mit weiteren Werten auseinander, mit den Werten des Wissens und der Freiheit. Gerade bei diesen Argumentationen in den abschließenden Kapiteln macht Sarah Spiekermann deutlich, welche Chancen in der Digitalisierung liegen, wenn ihre Nutzung werteorientiert ist und der Mensch zum Zielpunkt ihres Einsatzes wird.

Vermutlich werden die digitalen Güter, die Werte beinhalten, einen höheren Preis haben, als diejenigen, die Privatheit und Freiheit beispielsweise nicht berücksichtigen, so dass Werte eben nur den Nutzern zugänglich sein werden, die sie sich leisten können. Vielleicht erscheint die eine oder andere Forderung Spiekermanns auch unrealistisch, wenn sie vom „Willen zum Guten spricht“, vom „guten Leben“, von der gelungenen Lebensführung. Und fordert, dass Werte eben nicht durch „finanzielle Anreize“ eingeschränkt werden dürfen. Welche Anbieter werden sich an diese hehren Ziele halten? Welche werden tatsächlich werthaltige digitale Dienste für alle anbieten und ihr Angebot nicht nach Preisen differenzieren? Trotzdem: „Digitale Ethik“ ist ein ungemein anregendes und vielschichtiges – und nebenbei auch noch gut verständlich geschriebenes – Buch darüber, wie das Verhältnis von Mensch und IT in Zukunft sein könnte. Ein Buch, das die losen wissenschaftlichen Fäden vom technischen Fortschritt und von den Werten wieder zusammenbringt.

Sarah Spiekermann (2019): Digitale Ethik. Das Wertesystem für das 21. Jahrhundert, München, Droemer/Knaur

Wer mag, kann sich hier (https://sarahspiekermann.com/) und hier (https://www.wu.ac.at/ec/team/sarah-spiekermann) über die Autorin informieren und sie in Videos auch als Sprecherin bei Konferenzen sehen.

#WomeninSciFi (52) Planet der Frauen – Joanna Russ

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Das ist kein Buch für schwache Gemüter, für das Buch muss man echt ein bisschen arbeiten. Man muss höllisch aufpassen und sehr aufmerksam lesen. Wer hier eine stringente Science Fiction Geschichte erwartet, könnte enttäuscht werden. Es gibt einen Science-Fiction Rahmen, aber die Geschichte an sich ist eher eine Ansammlung ironischer Gedanken von Frauen aus verschiedenen Gesellschaften in unterschiedlichen Welten und zur unterschiedlichen Zeiten.

Daher würde ich das Buch wohl eher als eine teils satirische feministisch-philosophische Sozialstudie bezeichnen. Was es etwas schwierig macht reinzukommen ist, dass alle 4 Protagonistinnen einen Vornamen mit „J“ haben und jede von sich als „Ich“ spricht. Es dauert daher immer ein bisschen, bis man auf dem Schirm hat, wer jetzt gerade aktuell spricht.

Wenn die Protagonistinnen in eine jeweils andere Welt wechseln, verändern ihre jeweiligen Sichten auf die Geschlechterrollen ihre zuvor bestehenden Vorstellungen von der Rolle der Frau. Die Begegnungen beeinflussen sie dahingehend, dass sie ihr eigenes Leben reflektieren und sich Gedanken zu ihrer jeweiligen Rolle als Frau in der Gesellschaft machen.

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Eine der Frauen, Joanna, nennt sich selbst einen weiblichen Mann, weil sie sie glaubt, sie müsse ihre Identität als Frau vergessen, um anerkannt zu werden.

Planet der Frauen besteht aus mehreren unterschiedlichen Welten:

  • Joannas Welt: Joanna lebt in einer Welt, die der unserer Erde um die 1970er Jahre ähnelt.
  • Jeannine’s Welt: sie lebt in einer Welt, in der die amerikanische Weltwirtschaftskrise nie endete. Der 2. Weltkrieg fand nicht statt, da Hitler 1936 ermordet wurde.
  • Janets Welt (Whileaway): Janet lebt in einer Welt, die sich Whileaway nennt, eine utopische Gesellschaft in der fernen Zukunft, in der alle Männer vor 800 Jahren an einer geschlechtsspezifischen Krankheit gestorben sind. Die Frauen leben in lesbischen Beziehungen und begannen, sich durch Parthenogenese fortzupflanzen. Die Gesellschaft ist technologisch weit fortgeschritten, dennoch besteht der größte Teil der Wirtschaft aus Landwirtschaft.
  • Jael’s Welt: ist eine Dystopie, wo Männer und Frauen sich permanent in einem Geschlechterkampf befinden. Obwohl dieser Konflikt schon mehr als 40 Jahre andauert, betreiben beide Gesellschaften Handel miteinander. Frauen tauschen Kinder gegen Ressourcen. Um den Sexualtrieb der Männer befriedigen zu können, werden kleine Junge kosmetischen Operationen unterzogen, so dass sie wie Frauen aussehen.

Joanna Russ schrieb den Roman in den 1970er Jahren und die Protagonisten Joanna lebt in der Welt, die der ihren am ähnlichsten war.

Ich habe mich mit der Struktur des Romans etwas schwer getan und ich habe eine Weile gebraucht, bis ich drin war. Auch wenn der Roman ziemlich wütend wirkt, gibt es doch auch manche witzige Stelle.

Joanna Russ (1937 – 2011) war eine radikale Feministin, Autorin und Wissenschaftlerin. Sie unterrichtete an verschiedenen amerikanischen Universitäten und erhielt Ende der 1970er Jahre einen Lehrstuhl an der Washington University.

Sie veröffentlichte 6 Romane und über 50 Kurzgeschichten. Sie galt neben James Tiptree Jr als eine der einflussreichsten Science Fiction Autorinnen. 2013 wurde sie in die Science Fiction and Fantasy Hall of Fame aufgenommen.

Definitiv ein sehr interessanter Roman, der zu den Klassikern der feministischen Science Fiction Literatur gehört und bei dem es sich lohnt, dran zu bleiben und sich die Zeit zu nehmen, in die Geschichte hineinzufinden.

#WomeninSciFi (51) Die Stadt, nicht lange danach – Pat Murphy

Ich freue mich sehr, über diese Rezension, denn auch wenn die Reihe „offiziell“ zu Ende gegangen ist, werde ich immer mal wieder einen Artikel dazu schalten, denn SciFi Autorinnen können auch weiterhin jeden Scheinwerfer brauchen.

Ganz großes Danke an Eszter vom wunderbaren Blog „Esthers Bücher“  die uns eine sehr spannende Dystopie aus den 1970er Jahren vorstellt. Alle anschnallen, wir reisen in nach San Francisco und da geht es nicht gerade gemütlich zu:

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Eine Seuche hat fast alle Einwohner von San Francisco getötet, nur wenige sind übrig geblieben. Auch sonst scheint das Land wie ausgestorben, wenn hundert Leute irgendwo zusammenkommen, ist das schon eine bedrückende Menge. Die Stadt wird jetzt von Künstlern bewohnt, die überall in den Straßen ihre Werke platzieren. Konflikte gibt es hier allerhöchtens dann, wenn zwei Künstler sich die gleiche Fläche ausgesucht haben, aber auch diese Auseinandersetzungen werden schnell beigelegt. Kunst spielt hier für alle eine große Rolle, die Überlebenden haben nämlich erkannt, dass sie ihnen und der Stadt Gutes tut.

„Wenn man etwas Schönes erschafft, dann verändert das einen. Du gibst etwas von dir her, und lässt es in diesem Werk. Man ist einfach nicht mehr dieselbe Person, wenn man fertig ist.”

Die Seuche ist erst vor sechzehn Jahren ausgebrochen, aber die nächste Generation, die in dieser neuen Welt heranwächst, weiß kaum noch etwas über das Leben vorher. Leere Wohnungen und Häuser dienen als Fundorte kurioser Gegenstände, Totenschädel finden in den Kunstwerken eine neue Bestimmung.

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Es haben alle nicht alle die alte Welt vergessen und sie losgelassen. General Miles, der von den Künstlern nur „Vierstern” genannte Soldat hegt große Pläne. Er möchte den organisierten Staat, sein Amerika wiederherstellen, wenn es sein muss, dann mit Gewalt. Er sammelt seine Truppen in Sacramento und erobert mit ihnen immer mehr Städte. Sein nächstes Ziel ist San Francisco.

Das namenlose Mädchen ist auf einer Farm, weit weg von anderen aufgewachsen. Außer ihrer Mutter kennt sie nicht viele Menschen. Als ihre Mutter stirbt, zieht sie auf ihrem Pferd los in die große Stadt, um die Einwohner vor Vierstern zu warnen. Die Künstler müssen für den Krieg rüsten oder sich dem General und seinem Ordnungswahn unterordnen.

Par Murphy schrieb diesen Roman 1989 – eine Jahreszahl, die das Ende einer Ära einleutete. Der Kalte Krieg hat seine Spuren an diesem Roman eindeutig hinterlassen. Die USA und der Ostblock standen sich zu diesem Zeitpunkt bereits seit Jahrzehnten argwöhnisch gegenüber, immer wieder stand die Menschheit kurz vor dem Ausbruch eines neuen, womöglich alles Leben vernichtenden Krieges. So verwundert es nicht, dass sich die Autorin in ihrem Buch auf die Suche nach einer Lösung, nach einer friedlichen Lösung dieses Konflikts begab.

Und dieser Wunsch nach Frieden erklärt, warum eine postapokalyptische Geschichte wie diese nicht niederdrückend, sondern ausgesprochen positiv wirkt. Die leeren Straßen, die Millionen von Toten, die verlassenen Bürogebäude, die verwaisten Kinder erzählen zwar eine traurige Geschichte, wie die Künstler der Stadt jedoch damit umgehen, bringt den Leser aber immer wieder zum Schmunzeln. In eine Welt, die äußerlich doch so sehr an The Walking Dead erinnert, nehmen Kunst, Farben und ein wenig Magie die Überhand. In unserer heutigen, von Konflikten zerrüttelten Welt sollten mehr Leute dieses Buch lesen.

#WomeninSciFi (50) The Dispossessed – Ursula LeGuin

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Das #WomeninSciFi Jahr neigt sich dem Ende zu und ich möchte es abschließen, wie es begann – mit der wunderbaren Ursula LeGuin. Vielen vielen Dank an die vielen Beteiligten, diese Reihe hätte nicht bestehen können ohne Euch! Dies soll nicht das endgültige Ende der Reihe sein, aber ich werde sie im nächsten Jahr nicht mehr im wöchentlichen Rhythmus weiterführen. Aber auch künftig werde ich die Finger nicht von großartiger, weiblicher SciFi lassen können und werde sicherlich auch bei euch mal wieder anklopfen, sollte ich auf euren Blogs etwas erspähen, was ich gerne in der Reihe hätte.

Ich hoffe sehr, dass es irgendwann genauso selbstverständlich sein wird, Autorinnen in den Science Fiction Abteilungen der Buchhandlungen zu finden.

Doch bevor ich gleich ganz sentimental werde, lasst uns aufbrechen in ferne Galaxien, in denen ein brillanter Physiker versucht, die Mauern des Hasses einzureißen, die seinen Planeten vom Rest des Universums isoliert haben. Von solchen Menschen können wir auch 2019 gar nicht genug haben.

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Science Fiction vor 30 oder 40 Jahren beschäftigte sich fast immer mit dem Szenario, ob die Zukunft auf der Erde kommunistisch, sozialistisch, faschistisch, kapitalistisch oder totalitär strukturiert sein würde. Man ging immer davon aus, dass es die Erde und die Menschheit gibt, die Fragestellung drehte sich zumeist um das vorherrschende politische System.

Heute stellt sich die Systemfrage fast gar nicht mehr. Selbst SciFi Autoren können sich eine Welt ohne Kapitalismus nicht vorstellen, aber durchaus, dass es unsere Erde nicht mehr gibt. Heute haben wir es sehr häufig mit Endzeitszenarien zu tun, in denen der Kapitalismus die Welt ans Messer geliefert hat.

In Ursula LeGuins Roman „The Dispossessed“ präsentiert sie eine durchaus plausible anarchistische Utopie. Utopien haben es immer schwer, die meisten sind sehr kurz gedacht, sind unrealistisch oder auch einfach nur dämlich. Diese Utopie hier ist anders. LeGuin hat sie tief durchdacht und durchaus einkalkuliert, das Menschen häufig einfach selbstsüchtig und dumm agieren. Beim Lesen kann man sich durchaus vorstellen, dass ihre anarchistische Gesellschaft tatsächlich funktionieren könnte. Nicht immer und es gibt auch durchaus Probleme, aber es scheint genügend Flexibilität und Realitätssinn darin zu geben, um sich auf verändernde Bedingungen einzustellen.

In Le Guins Roman wurde der kleine Planet Anarres von einer Gruppe von Dissidenten seines Zwillingsplaneten Urras besiedelt, einem Planeten, der dem unseren sehr gleicht. Urras hat eine reiche und luxuriöse Biosphäre und die urrastische Kultur ist reich, es gibt jede Menge Einkaufsmöglichkeiten, Klassensysteme, große Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft sowie Gewalt und Sexismus.

Anarres ist im Vergleich dazu eine harsche Welt. Seine Biosphäre hat sich nicht weit über das Devon hinaus entwickelt und es braucht unglaubliche Disziplin der Siedler und jede Menge Mut, um diese harsche Umgebung Heimat zu nennen. Die Annaresti sind Anarchisten. Ihre Gesellschaft kennt keinen Besitz, keine Hierarchie, nur wenig Gewalt, komplette Gleichheit und keinerlei Einkaufsmöglichkeiten. LeGuin schafft es glaube ich deshalb so gut, diese Gesellschaft nachvollziehbar zu machen, weil sie eben kein utopisches Paradies ist. Die Psychologie der Annaresti ist durchaus glaubwürdig. Sie zeigen ganz normale Eigenschaften wie Eifersucht, Rivalität, Egoismus  und Ängste. Es gibt durchaus das Bedürfnis nach Besitz, aber dieses Bedürfnis wird nicht weiter gefördert oder kultiviert. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion und die harten Bedingungen auf dem Planeten helfen, die Bedürfnisse nach Gleichheit und Freiheit zu befriedigen.

Le Guin ist eine großartige Erzählerin, die weder überzeichnet, noch ins Predigen verfällt. Ich glaube tatsächlich, das Geheimnis, warum die Annaresti Kultur funktionieren könnte, liegt in der Knappheit, gerade weil sie keine Fülle haben, weil ihre Welt so fordernd ist und es gar nicht so einfach ist, Überschuss zu produzieren. Knappheit kann ein großer Segen sein.

Die Anarchisten in LeGuins Geschichte kommen im Übrigen eher aus der Star Trek Philosophie. Es sind keine reinen „Zurück-zur-Natur-Hippies“, sondern sehr fortschrittliche, realistische und technologieaffine Menschen. Das gefiel mir sehr an der Geschichte, denn ich glaube, die Menschen brauchen Technologie, sie ist es, was uns als Menschen unter Anderem ausmacht.

LeGuin zeigt uns, dass uns nicht das, von dem wir es glauben, uns glücklich macht. Überschuss wird wahrscheinlich immer missbraucht werden. Autonomie, soziale Eingebundenheit und sinnvolle Arbeit sind der Ursprung von Zufriedenheit und Glück und davon haben die Anarresti tatsächlich mal Überfluss. Man kann wohl tatsächlich nicht alles haben. Ein einfaches Leben führt schnell zu Überfluss, der wiederum für die Menschen überaus schwierig zu managen ist.

„The Dispossessed“ ist ein großartiger Roman, der einem noch lange nachgeht, jede Menge Fragen aufwirft und den ich liebend gerne einmal im Bookclub diskutieren würde.

Jetzt müssen wir nur noch einen Weg finden uns künst,lich zu beschränken, ohne dass unser inneres Kleinkind sofort die Krise bekommt und der Raubbau an der Erde könnte vielleicht noch gestoppt werden. Wie wir das allerdings hinbekommen sollen ohne Ursula LeGuin, die Queen of Science Fiction, die dieses Jahr leider verstorben ist, kann ich mir so gar nicht vorstellen.

Auf deutsch erschien der Roman unter dem Titel „Freie Geister“ im Fischer Tor Verlag.

#WomeninSciFi (49) Everything belongs to the future – Laurie Penny

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Vor kurzem entdeckte ich Sabines Blog „Ant1heldin“ – ein großartiger Blog über Frauenfiguren und außergewöhnliche Protagonistinnen in der Literatur und auf der Leinwand. Das liegt ganz auf meiner Wellenlänge und daher war mir schnell klar, hier werde ich sicherlich nicht vergeblich anklopfen, wenn ich frage, ob Sabine Lust hat bei meiner #WomeninSciFi Reihe mitzumachen. Es war in der Tat nicht schwer, sie zu überreden und ich freue mich sehr über den heutigen Beitrag. Bitte hier entlang in eine dystopische Zukunft, die sich um den Traum der immerwährenden Jugend dreht:

Als mich Sabine von Binge Reader fragte, ob ich bei ihrer Blog-Aktion #WomeninSciFi mitmachen wollte, habe ich natürlich zugestimmt. Bei der Aktion stehen weibliche Sci-Fi-Autoren und ihre Werke im Mittelpunkt. Denn ihr Beitrag zu dieser Genreliteratur wird leider oft unterschätzt und zudem unterstellt, Frauen würden, wenn überhaupt, dann nur „soft Sci Fi“ mit dem Fokus auf Liebesplots schreiben. Dass das Unsinn ist, beweist schon die berühmte Margaret Atwood, daher finde ich es sehr wichtig, die Beteiligung von Frauen hier hervorzuheben.

Everything belongs to the future – darum geht‘s

Meine eigene Science-Fiction-Erfahrung beschränkt sich vor allem auf dystopische Romane und Filme, siehe Blade RunnerGattacaHunger Games und The Handmaid’s Tale. Daher hat mich Laurie Pennys Plotidee bei Everything belongs to the future gleich angemacht. Es geht in diesem Kurzroman um eine Gesellschaftsdystopie gegen Ende des 21. Jahrhunderts, in der nur die Reichen Zugang zu einer lebensverlängernden Droge haben. 100 Jahre Jugend sind keine Seltenheit mehr. Dabei zeichnen die verschiedenen Erzählstimmen das typische Bild einer Zwei-Klassen-Gesellschaft. Die Reichen leben in Saus und Braus, während die Armen in den Slums von Oxford, dem Schauplatz des Romans, mehr schlecht als recht überleben. Dystopisch wird’s zusätzlich mit der Erwähnung von Überschwemmungen, die den armen Teil von Oxford regelmäßig unter Wasser setzen. Die Erderwärmung hat in diesem Szenario längst dramatische Folgen nach sich gezogen. Der Plot dreht sich, einfach ausgedrückt, um eine Gruppe punkiger Aktivisten, die gegen das Vorrecht der Reichen auf lebensverlängernde Mittel kämpfen und die kleinen blauen Wunderpillen stehlen, um sie Robin-Hood-mäßig umsonst an die Armen zu verteilen. Die Erfinderin der Droge, Daisy, schlägt sich heimlich auf die Seite der Aktivisten. Gemeinsam planen sie eine Unterwanderung des Establishments.

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Der Reiz an dieser Dystopie – und ihr Versagen

Das Motiv des „Jungbrunnens“ ist in der Sci-Fi natürlich nichts Neues. Einige Kinofilme haben das Thema schon behandelt, z.B. Elysium, wo die reiche Oberschicht auf einer Raumstation lebt und alle Mittel hat, Krankheit und Alterung am menschlichen Körper zu verhindern. Das macht aber nichts, denn der Reiz an Dystopien liegt ja darin, Szenarien zu entwerfen, die gar nicht so unwahrscheinlich und daher umso beunruhigender sind. Von diesen Szenarien gibt es natürlich nicht unendlich viele, wenn man als Autor*in auf aktuelle Diskurse und deren zukünftige Implikationen verweisen möchte. Das wäre bei Everything belongs to the future das Gedankenspiel eines ins Extreme gesteigerten Jugendwahns. Diese spannende Grundprämisse hätte Laurie Penny daher mit ein bisschen mehr Geduld in eine überzeugende Story gießen können. Das hat sie leider versäumt.

Der kurze Text (114 Seiten) ist überfrachtet mit schwergewichtigen Ideen, die dann nicht ausgeführt werden. Wirklich an allen Ecken und Enden fehlt es an Erklärungen. Entwicklungen werden nur angerissen, Figuren bleiben flach, ihre Handlungen wirken unmotiviert. Warum Laurie Penny nicht einfach einen Roman in vollständiger Länge geschrieben hat, ist mir unverständlich. In ihrem Text gibt es so viele spannende Ansätze, die einen langen Text mühelos gefüllt hätten, z.B. die ganze Geschichte rund um die Entwicklung der Droge und ihre Auswirkung auf die dargestellte Gesellschaft. Bei der Kürze des Textes bleibt ein überzeugendes Worldbuilding jedoch auf der Strecke.

Fehlendes Worldbuilding

Wo ist die Science in dieser Fiction?

Das fängt schon mit der Idee an, die dieser Dystopie zu Grunde liegt, der lebensverlängernden Droge („the fix“ genannt): Ihre genaue Wirkung wird zum Beispiel nicht erklärt. Sie verzögert das Altern ab dem Tag der Einnahme extrem. Darüber hinaus: Wenig. Verhindert sie auch alle Krankheiten? Vermutlich, es wird aber nicht erläutert. An einer Stelle erklärt Protagonistin Daisy, die Droge bestehe aus einem Pilz, der irgendwie in den Körper eingreift. Ein bisschen mehr Details und Recherche wären hier angemessen gewesen. Ohne weitere Informationen, die dieses plot device glaubwürdiger machen, wirkt die grundlegende Prämisse der ganzen Erzählung ein bisschen wie ein billiger Jahrmarkttrick. Von den vampirhaften (entschuldigt!) Beschreibungen der „fixer“ ganz zu schweigen: „there was an uncanny smoothness to the skin, a ghastly glisten that made them doll-like.“ (S. 19) Wer wird hier auch an Twilight erinnert? *hust*

Ebenso bleibt es unklar, ob es einen Schwarzmarkt mit der Droge gibt und warum die Aktivistengruppe im Roman die Droge so völlig ungestört kostenlos verteilen kann.

Für die Glaubwürdigkeit dieses Sci-Fi-Romans sprechen einige Details zum technologischen Fortschritt (zum Beispiel Minichips, die Spion Alex unter dem Fingernagel verstecken kann). Erstaunlich altmodisch wird hingegen der Zustand der Gesellschaft dargestellt. Transfeindlichkeit, Sexismus und Rassismus bzw. Islamfeindlichkeit sind immer noch genauso große Themen wie heute in der Realität. Das könnte glaubwürdig sein, wenn man diese fehlende Entwicklung denn erklären würde. Stattdessen sind die 80 Jahre, die zwischen unserer Zeit und dem Handlungszeitpunkt des Romans bestehen, nur eine einzige große Leerstelle.

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Toll angelegte (Frauen-) Figuren, leider ohne Tiefgang

Wirklich schade ist allerdings, dass Everything belongs to the future uns keine Chance lässt, eine Verbindung zu den Figuren aufzubauen. Penny bemüht sich, Figuren sprechen zu lassen, über die sie vermutlich selbst gerne lesen würde: Es sind fast nur Figuren abseits von heteronormativen Geschlechts- und Sexualitätszuschreibungen wie die bisexuelle Daisy oder der trans Mann Fidget. Darüber hinaus gibt es mehrere unabhängige Frauenfiguren, wie eben Daisy oder auch die Aktivistin Nina.

Der gute Wille, interessante Figuren zu schaffen, reicht aber leider nicht aus, wenn es bei oberflächlichen Charakterisierungen bleibt. Alle Beschreibungen vom Innenleben der Figuren wirken gehetzt, wie hastig zusammengeflickt. Daisy, die ewig wütende greise Frau im Körper eines Teenagers, muss noch schnell eine rührselige Liebesgeschichte aus der Vergangenheit verpasst bekommen. Diese Erinnerungssequenz ist aber völlig unmotiviert in den Plot gepresst und verfehlt so ihre Wirkung. Ich hätte stattdessen so gern mehr über Daisys Werdegang erfahren. Oder warum sie sich dazu entschieden hat, die Droge schon im Alter von 14 Jahren einzunehmen, was dazu führt, dass sie für immer im unfertigen Körper einer Pubertierenden feststeckt. Die Erzählstimme erklärt etwas nebulös: „Daisy had not had fun of any kind since she could remember, but particularly not horizontal fun involving other humans. Keeping her appearence static at awkward mid-puberty helped with that.“ (S. 24). Was diese Andeutung genau bedeutet, bleibt unklar (ist Daisy asexuell und legt gar keinen Wert auf körperliche Intimität? Und ist deshalb froh über einen unterentwickelten Körper? Wer weiß.). Das ist nur ein Beispiel für vergeudetes Erzählpotential in Everything belongs to the future.

Wie viel Laurie Penny bekommt man bei Everything belongs to the future?

Laurie Pennys erster Roman ist alles andere als leichte Unterhaltung, wie schon angedeutet. Neben zwei komplexen Erzählsträngen gibt es noch einen theoretischen Überbau in diesem Text. Zwischen den Erzählteilen aus Daisys oder Alex‘ Sicht erscheinen fiktive Briefe, die eine anonyme Schreiberin aus dem Gefängnis an die Protagonistin Daisy richtet. Darin stellt sie philosophische Überlegungen in Bezug auf das Recht der Reichen auf ewige Jugend an. Dabei rutscht sie gerne mal ins Schwadronieren ab: „The truth is that life extension itself is not sinful. The only sin is to treat time as privilege. … We discovered the fountain of youth, and then we put it behind high walls and poisoned its promise.“ (S. 36). Als Leserin fühle ich mich da doch ein bisschen für dumm verkauft. Ach nee, den Reichen noch mehr Macht zu geben hat nicht zum Zusammenhalt in der Gesellschaft beigetragen? Wer hätte das gedacht? Die Regel „show, don’t tell“ gibt’s wahrlich nicht umsonst. Zeig‘ die Auswirkungen der Droge doch in der Erzählung und an den Figuren, liebe Laurie, und nicht in einem erklärenden Text.

Aber, das muss ich anmerken: Die anonymen Briefe im Roman enthalten auch einige sehr gute gendertheoretische Überlegungen, wie man sie aus Laurie Pennys Sachbüchern kennt. Die beste Stelle ist diese: „The aging woman is a special object of horror in this gerontocracy.“ (S. 86). In der Dystopie von Everything belongs to the future ist die Droge im allgemeinen Verständnis für Frauen ein größerer Segen als für Männer. Frauen haben mehr zu verlieren, weil sie, mehr als Männer, auf ihr Aussehen reduziert werden. Daher stellt die anonyme Schreiberin, die es einfach nur „wagt“, zu altern, eine Rebellin dar. Allein ihre „Hässlichkeit“ ist ein Akt des Widerstands. Lasst uns beten, dass das Altern in unserer Gesellschaft niemals zu einem rebellischen Akt wird.

Diese Ausgabe habe ich gelesen: Laurie Penny, Everything belongs to the future, Tor Books: New York 2016.